TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/16 W272 2239734-1

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Veröffentlicht am 16.06.2021
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Entscheidungsdatum

16.06.2021

Norm

AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55 Abs1
FPG §58 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W272 2239734-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, vertreten durch die gesetzliche Vertreterin XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich vom XXXX , Zahl XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. – III wird als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass er zu lauten hat:

„Gem. § 28 Abs. 2 VwGVG und § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG iVm § 52 FPG ist eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig und dem Beschwerdeführer wird gem. § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG 205 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, wurde am XXXX im österreichischen Bundesgebiet geboren und stellte er am 09.12.2004 durch seine gesetzliche Vertretung, seine Mutter, einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 24.01.2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.) und der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

3. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 06.10.2005 wurde dem Beschwerdeführer gem. § 7 iVm § 10 AsylG Asyl gewährt und gem. § 12 leg.cit. festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Grund hierfür war, dass seiner Mutter, XXXX , geb. XXXX , mit 06.10.2005 der Asylstatus zuerkannt worden war. Der BF hatten keine eigenen Fluchtgründe.

4. Am 17.08.2018 wurde der BF durch die Polizeiinspektion Linz wegen des Verdachts des Diebstahls angezeigt.

5. Am 12.11.2018 wurde der BF wegen des Verdachts des versuchten Raubes erkennungsdienstlich behandelt und in Gegenwart seiner Mutter einvernommen.

6. Am 08.12.2018 wurde der BF durch die Polizeiinspektion Linz wegen des Verdachts der Körperverletzung angezeigt.

7. Am 06.08.2019 wurde der BF durch die Polizeiinspektion Linz wegen des Verdachts des Diebstahls angezeigt.

8. Mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 09.09.2019, Zl. XXXX wurde der BF wegen § 15 §§ 142 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Monaten, bedingt nachgesehen unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Jugendstrafhaft.

9. Mit Aktenvermerk vom 24.09.2019 wurde gegen den BF ein Asylaberkennungsverfahren eingeleitet.

10. Am 18.10.2019 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Dabei wurde der BF im Beisein seiner gesetzlichen Vertreterin, seiner Mutter, niederschriftlich einvernommen im Rahmen derer er zu seinen Lebensumständen, seinen Familienverhältnissen und seiner Integration befragt wurde. Über Vorhalt, dass bei seiner Asylantragsstellung von seinen Eltern für ihn keine eigenen Fluchtgründe angegeben worden seien und dem BF der Asylstatus aufgrund der Familieneigenschaft zu seiner Mutter mit Bescheid des UBAS vom 06.10.2015, GZ: XXXX zuerkannt worden sei, gab er an, dass er auch jetzt keine eigenen Asylgründe vorzubringen habe. Zu seinem strafrechtlichen Verhalten befragt, erklärte er, jung gewesen zu sein und falsche Freunde gehabt zu haben. Über sein Herkunftsland befragt, gab er an, dort nie gewesen zu sein. Er glaube nicht, dass er dortbleiben könnte. Nachgefragt gab er an, dass die Menschen dort oft umgebracht würden und die Politik dort anders sei. Inwiefern er davon konkret betroffen sei, erklärte er, dass er die allgemeine Lage gemeint habe. Er wisse nicht, was ihm passieren würde, er wäre ja noch nie in der Russischen Föderation gewesen. Auf die Möglichkeit zu den Länderinformationsblättern zu Russischen Föderation eine Stellungnahme abzugeben, verzichtete der BF.

11. Mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 10.07.2020, Zl XXXX wurde der BF wegen §§ 241e Abs. 3, 105 Abs. 1 StGB, § 15 StGB § 87 Abs. 1 StGB, § 142 Abs. 1 StGB, § 107 Abs. 1 StGB, § 83 Abs. 1 StGB, § 229 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten, davon Freiheitsstrafe 10 Monate, bedingt, unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Jugendstrafhaft.

12. Mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 11.12.2020, Zl. XXXX wurde der BF wegen § 83 Abs. 1 und 105 Abs. 1 zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Monaten verurteilt. Jugendstrafhaft.

13. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX wurde der mit Bescheid/Erkenntnis vom 06.10.2005, Zahl XXXX , zuerkannte Status des Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 aberkannt. Weiters wurde festgestellt, dass ihm gem. § 7 Abs. 4 AsylG 2005, die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I). Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Ferner wurde dem Beschwerdeführer unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG wurde die Rückkehrentscheidung als vorübergehend unzulässig erklärt (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung stellte die belangte Behörde fest, dass dem BF mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 06.10.2005 (rk 11.10.2005), GZ: XXXX , gem. § 7 iVm § 10 AsylG Asyl gewährt und gem. § 12 leg.cit. festgestellt wurde, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Grund hierfür wäre, dass seiner Mutter, der Asylstatus zuerkannt worden war ohne für den BF eigene Fluchtgründe geltend zu machen. Betreffend die Feststellungen zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten folgerte die Behörde, dass die Asylgewährung auf der Familieneigenschaft zu seiner Mutter beruhe. Aufgrund der nachweislich dauerhaften und grundlegenden Änderung der Lage in seinem Herkunftsstaat und der Asylaberkennung seiner Bezugsperson entfalle die Grundlage für seine Zuerkennung. Der BF sei in seinem Heimatland nie verfolgt worden, es sei daher nicht davon auszugehen, dass er nun Probleme mit den Behörden haben werden. Zu seinen Befürchtungen, dass er dasselbe Schicksal wie sein Vater, XXXX , geb. XXXX , der aufgrund seiner todkranken Mutter nach Tschetschenien zurückgekehrt und dort getötet worden wäre, ereilen könnte, müsse angemerkt werden, dass, abgesehen davon, dass er keine näheren Umstände dazu angeführt habe, dies bereits im Jahr 2006 geschah. Damals wäre noch nicht von einer geänderten Lage auszugehen. Darüber hinaus habe er lediglich angegeben, dass es in Tschetschenien nicht so sicher wäre, wie es in den Zeitungen zu lesen wäre. Er habe jedoch keine Begründung für diese Behauptung oder konkrete Befürchtungen seine Person betreffend vorgebracht. Es sei daher den Länderinformationen entsprechend davon auszugehen, dass in seinem Fall keine Asylgründe mehr vorliegen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er im Falle der Rückkehr einer realen Gefahr bzw. einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt werde. Die Lage in der Teilrepublik Tschetschenien in der Russischen Föderation habe sich im Vergleich zum Zeitpunkt der Asylzuerkennung im Jahr 2005 maßgeblich verbessert. Es könnte unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden, dass er im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe unterworfen zu werden. Rechtlich führte die Behörde aus, dass aufgrund des Umstandes, dass der BF keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht habe, von den Gründen seiner Bezugsperson, welcher schon der Asylstatus rechtskräftig aberkannt wurde, auszugehen sei. Art. 1 Abschnitt C Z F der Genfer Flüchtlingskonvention treffe im Fall des BF zu. Da die umfangreichen Ermittlungen ergeben hätten, dass dem BF in seiner Heimat keine Verfolgung mehr drohe, er keine begründete Furcht vor Verfolgung im Falle der Rückkehr haben könne und ihm im Fall seiner Rückkehr in seine Heimat keine sonstige Gefahr drohe, seien alle Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten gegeben und die Aberkennung daher geboten. Es hätten sich auch keine Umstände ergeben, nachdem ihm eine Rückkehr in seine Heimat nicht mehr zugemutet werden könne. Seit der Asylzuerkennung seien bereits mehr als fünf Jahre vergangen, der BF sei allerdings bereits mehrfach straffällig und schon zweimal rechtskräftig verurteilt worden. Daher könnte ihm trotzdem der Status des Asylberechtigten aberkannt werden. Nach Wegfall der Umstände, auf Grund derer der BF als Flüchtling anerkannt worden sei, könne er es nicht mehr ablehnen, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitze. Im Zuge des Verfahrens sei dem BF zu allen beabsichtigten Maßnahmen der Behörde Parteiengehör eingeräumt und ihm Gelegenheit gegeben worden, zu allen Entscheidungspunkten schriftlich Stellung zu nehmen. Im Zuge dessen wären keine Gründe zutage gekommen, die gegen die Entscheidung des Bundesamtes sprechen. Dem BF wäre daher gem. § 7 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten abzuerkennen. Im gegenständlichen Fall seien zufolge der persönlichen Umstände des BF und der Beweiswürdigung keine Gründe hervorgekommen, die eine Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 erforderlich gemacht hätten. Die Lage in seinem Herkunftsstaat habe sich maßgeblich und dauerhaft verbessert. Es könne nicht festgestellt werden, dass eine Rückkehr in die Russische Föderation für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde oder er der Folter oder Todesstrafe ausgesetzt wäre. Daher wäre dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen.

14. Gegen diesen Bescheid brachte der Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der Verletzung von Verfahrensvorschriften ein. Dabei wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass es nicht notwendig sei, dass die Behörde die wiederholte Straffälligkeit des BF erwähne, da sich der gegenständliche Bescheid nicht auf § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG stütze. Zudem sei der BF Teil der Familie seines Vaters und befürchte daher auch als Familienmitglied seines Vaters asylrelevante Verfolgung im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation. Dem BF drohe im Fall einer Rückkehr jedenfalls eine Verletzung seiner in Art. 2 und 3 EMRK garantierten Rechte. Er spreche nur umgangssprachlich Tschetschenisch und kein Russisch, er habe nie in der Russischen Föderation gelebt und sein gesamtes Leben in Österreich verbracht. Er verfüge in der Russischen Föderation über keine Mitglieder seiner Kernfamilie und über kein soziales Netzwerk. Der BF sei in Österreich geboren und aufgewachsen und halte sich seit 16 Jahren im österreichischen Bundesgebiet auf. Zudem wurde auf die Integration des BF in Österreich hingewiesen und die mangelnde Bindung zu seinem Herkunftsstaat ins Treffen geführt.

15. Mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 11.05.2021, XXXX wurde der BF wegen des Verbrechens des versuchten schweren Raubes nach §§ 15 Abs. 1, 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB, des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt. Die bedingte Strafnachsicht zu XXXX des Landesgerichts Wien (7 Monate) wurde widerrufen. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu XXXX des Landesgerichtes Linz wurde abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.

16 Am 02.06.20121 fand eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG statt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest, er führt die im Spruch ersichtlichen Personalien. Der Beschwerdeführer ist ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, der im österreichischen Bundesgebiet geboren ist.

Der Beschwerdeführer stellte am 09.12.2004 einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 24.01.2005 – unter gleichzeitiger Erlassung einer Ausweisung –abgewiesen wurde. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 06.10.2005 stattgegeben und wurde dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Seither ist der Beschwerdeführer in Österreich aufhältig.

Der BF leitete den Status des Asylberechtigten von seiner Mutter ab. Für den BF wurden zu keinem Zeitpunkt eigene Fluchtgründe vorgebracht.

Aufgrund der Straffälligkeit des Beschwerdeführers wurde gegen ihn ein Aberkennungsverfahren eingeleitet.

Der BF wurde im Bundesgebiet seit 2019 insgesamt viermal rechtskräftig verurteilt:

Mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 09.09.2019, Zl. XXXX wurde der BF wegen § 15 §§ 142 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Monaten, bedingt nachgesehen unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Der BF hat mit einer anderen Person, einem Dritten Bargeld in unbekannter Höhe abzunötigen versucht, indem der Mittäter die dritte Person zu sich winkte, nach dessen Weigerung mit dem Zeigefinger über seine Kehle fuhr und ihm zweimal die Faust zeigte und mit dem BF sich zu dieser Person begab und der BF diesen fragte, ob er Geld hätte und als dieser antwortete, er habe keines, erbost erwiderte: „Lüg nicht, ich schlag dich gleich“ sowie ihm den Weg versperrte und als dieser den Bus verlassen konnte, der Mittäter, ihm nochmals das Halsabschneidezeichen zeigte, wobei es mangels Raubbeute beim Versuch blieb und die Tat ohne Anwendung erheblicher Gewalt und mit dem Vorsatz auf Erlangung einer Sache geringen Wertes begangen wurde. Bei der Strafbemessung wurden für den BF die Unbescholtenheit und der Versuch als mildernd gewertet. Erschwerend gab es keine Strafbemessungsgründe.

Mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 10.07.2020, Zl. XXXX wurde der BF wegen §§ 241 Abs. 3, 105 Abs. 1 StGB, § 15 StGB § 87 Abs. 1 StGB, § 142 Abs. 1 StGB, § 107 Abs. 1 StGB, § 83 Abs. 1 StGB, § 229 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten, davon Freiheitsstrafe 10 Monate, bedingt, unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde:

Der BF hat am 16. Jänner 2020 mit einer anderen Person als Beteiligter und einer weiteren, teils unmündigen und teils bislang unbekannten Person, einem Dritten die Geldbörse samt Bargeld in der Höhe von € 8,-- sowie sein Mobiltelefon unter Anwendung von Köperkraft aus der Hand gerissen um sich unrechtmäßig zu bereichern. Als die dritte Person die Geldbörse zurückforderte, haben der BF und der Beteiligte dem Dritten Faustschläge gegen seinen Bauch, Oberkörper und Kopf sowie Fußtritte versetzt, selbst als er bereits auf dem Boden lag und sodann auch sein Mobiltelefon an sich genommen, wodurch der Dritte eine Gehirnerschütterung, Prellungen am Kopf, im Bereich des Bauches und des linken Oberschenkels und eine Schürwunde am Knie erlitt. Weiters haben sie auch die Urkunden und zwar das OÖVV Jugendticket, die E-Card und den Schülerausweis, sowie ein unbares Zahlungsmittel nämlich die Bankomatkarte des Dritten unterdrückt.

Der BF hat weiters am 03. Dezember 2019 in Linz eine dritte Person durch mehrere Faustschläge gegen den Kopf und Oberkörper sowie Fußtritte gegen die Beine und den Unterkörper am Körper in Form von Prellungen und Rötungen im Bereich des Gesichtes, des Oberkörpers und der Armee verletzt. Sowie eine Frau durch Schläge gegen beide Schultern in Form von Prellungen im Bereich der Schulter am Körper verletzt. Weiters hat der BF der dritten (männlichen) Person mit Gewalt und durch gefährliche Drohung zumindest mit der Zufügung weitere Körperverletzungen zu einer Unterlassung, nämlich der Abstandnahme weitere Kontaktaufnahmen mit der Schwester des BF, genötigt, indem er diese Person wie geschildert schlug, anschließend ihm gegenüber äußerste „Wenn du noch einmal meiner Schwester schreibst, fick ich deine Mutter“ und gegenüber dem beim Vorfall anwesenden Schulwart in Richtung des Dritten gerichtet sich äußerste „Wenn er meine Schwester noch einmal anspricht, bring ich ihn um.

Der BF hat weiters am 05.02.2020 mit zwei anderen Personen in verabredeter Verbindung in Linz versucht, einer dritten Person eine schwere Körperverletzung absichtlich zuzufügen, indem er ihm gemeinsam mit seinen Mittätern Faustschläge und Fußtritte unter anderem gegen den Kopf versetzte, selbst als er bereits auf dem Boden lag, wodurch dieser in Form eines Hämatoms an der Stirn, einer Kopfprellung und blutenden Wunden im Gesicht am Körper verletzt wurde.

Sowie am 13.02.2020 in Linz eine dritte Person gefährlich mit der Zufügung zumindest einer Verletzung am Körper bedrohte, um ihn in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er äußerte: „Ich werde dich schlagen, weil du die Polizei informiert hast.“

Mildernde Strafbemessungsgründe waren das Geständnis und der teilweise Versuch der Taten. Erschwerend wurden die einschlägige Vorstrafe, das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen und der rasche Rückfall gewertet.

Mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 11.12.2020, Zl. XXXX wurde der BF wegen § 83 Abs. 1 und 105 Abs. 1 zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Monaten verurteilt. Jugendstrafhaft. Der BF hat einen anderen am Körper verletzt, indem er ihm am Genick packte, ihm eine Ohrfeige, einen Tritt gegen den linken Oberarm und schließlich einen Faustschlag ins Gesicht versetzte. Und diese Person bedrohte indem er ihm nachrief: „Wenn ich dich noch einmal am Hauptbahnhof sehe, gebe ich dir einen Messerstich“. Das Gericht wertete bei der Strafbemessung mildernd, das Alter unter 21 Jahren und das teilweise Geständnis, erschwerend die zwei einschlägigen Vorstrafen und das Zusammentreffen von Vergehen sowie den raschen Rückfall.

Mit Urteil des Landesgerichtes Linz vom 11.05.2021, Zl. XXXX wurde der BF wegen des Verbrechens des versuchten schweren Raubes nach §§ 15 Abs. 1, 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB, des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt. Die bedingte Strafnachsicht zu XXXX des Landesgerichts Wien (7 Monate) wurde widerrufen. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht zu XXXX des Landesgerichtes Linz wurde abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert. Der BF hat mit einer anderen Person am 19.03.2021 im bewussten und gewollten Zusammenwirken jeweils mit Gewalt gegen eine Person sowie durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (§ 89 StGB) einer dritten Person, die Geldbörse samt Bargeld in der Höhe von ca. € 200,00, mit dem Vorsatz wegzunehmen bzw. abzunötigen versucht, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wobei sie den Raub unter Verwendung einer Waffe verübten, indem sie den Dritten unter Vorwand eines Suchtgiftgeschäfts in eine Tiefgarage lockten und der Mittäter ein beigefarbenes Karambit-Messer zog, damit vor dem Gesicht des Dritten herumfuchtelte und Bargeld forderten. Der BF danach das Messer selbst in die Hand nahm und es dem Dritten an der Kehle ansetzte, wobei der BF und sein Mittäter lautstark weiter Geld forderten. Der BF und seine Mittäter danach dem Dritten mit Faustschlägen an der Flucht zu verhindern versuchten, wobei einer von ihnen den Dritten an der Jacke zurückhielt und zu Boden riss, und beide auf ihn einschlugen und eintraten, wobei es insofern beim Versuch blieb, da der Dritte letztlich (mit dem Bargeld in der Unterhose versteckt) flüchten konnte, sodass lediglich seine Geldbörse mit dessen E-Card erbeutet wurde. Durch diese Tat hat der BF mit seinem Mittäter, eine Urkunde, nämlich die E-Card des Dritten unterdrückt.

Weiters hat der BF am 31.08.2020 in bewussten und gewollten Zusammenwirken mit dem gesondert verfolgten Mittäter sowie einem weiteren unbekannten Täter eine dritte Person durch das Versetzen von Faustschlägen und Fußtritten vorsätzlich in Form von Prellungen und Hämatomen oberhalb beider Augenhöhlen sowie einer Verstauchung der Halswirbelsäule am Körper verletzt. Die mildernden Strafbemessungsgründe waren das teilweise Geständnis (im Vorverfahren zum Raub, in der Hauptverhandlung zur Körperverletzung), teilweise Versuch (Raub), erschwerend die drei einschlägigen Vorstrafen, äußerst rascher Rückfall (bei der Körperverletzung und beim Raub), Tätermehrheit, Drohung und Gewalt sowie das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen.

Vom BF geht eine Gemeingefahr aus.

Der BF befindet sich derzeit in Haft, ist reuig und wird nunmehr psychologisch betreut.

Die Muttersprache des BF ist Tschetschenisch, er beherrscht auch die Grundkenntnisse der russischen Sprache und verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er besuchte in Österreich den Kindergarten, vier Jahre die Volksschule und drei Jahre die neue Mittelschule, die vierte Klasse Mittelschule hat der BF nicht abgeschlossen. Die 7. Schulstufe hat der BF in allen Fächern positiv abgeschlossen. Der BF verfügt über einen Freundeskreis in Österreich. In Österreich leben die Mutter, seine Geschwister, seine Großmutter sowie weitere Angehörige. Der BF lebte zuletzt bei seiner Mutter und Geschwister, kennt die tschetschenische Kultur und ist finanziell von seiner Familie abhängig.

Die Umstände, auf Grund derer die Mutter des BF als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Übergriffe ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass er konkret Gefahr liefe, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Es ist dem BF möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien und des Föderationskreises Nordkaukasus niederzulassen und sich dort anzumelden. Die wirtschaftlich stärkeren Metropolen und Regionen in Russland bieten trotz der derzeitigen Wirtschaftskrise bei vorhandener Arbeitswilligkeit entsprechende Chancen auch für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. In der Russischen Föderation wurden mit Stand 09.06.2021 insgesamt 5,1 Mio Erkrankungen und 122 000 Todesfälle registriert. Die tägliche Infektionsrate liegt bei ca. 9.000 Neuinfizierte und 350 Todesfälle pro Tag. Gerechnet auf die Einwohnerzahl ist die Inzidenz leicht höher als in Österreich auch die Todeszahlen sind nicht viel höher als im sonstigen Europa. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Russische Föderation eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Der BF hat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und kostenloser medizinischer Versorgung. Der BF erhält als unbegleiteter Minderjähriger Zugang zu den Kinderheimen. Es bestehen keine kinderspezifischen Gefahren für den BF. Die Rückkehr erfolgt über den Luftweg sicher in die Russische Föderation. Der BF kann sich in Moskau sicher niederlassen.

Der BF hat Verwandte in der Russischen Föderation, zu denen er jedoch keine Verbindung hat.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

Das BVwG trifft folgende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat unter Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, zuletzt aktualisiert am 04.09.2020 (Schreibfehler teilweise korrigiert):

1.2.1. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation vom 04.09.2020 mit einzelnen Änderungen vom 28.05.2021:

Politische Lage

Letzte Änderung: 04.09.2020

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Dagestan

Letzte Änderung: 09.04.2020

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 13.1.2020). Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien (SWP 4.2015) und wird nicht ganz so ausgeprägt kontrolliert wie in Tschetschenien (AA 13.2.2019). Ebenso existiert – anders als in der Nachbarrepublik – zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen (SWP 4.2015). Die Bewohner Dagestans sind hinsichtlich persönlicher Freiheit besser gestellt, und auch die Menschenrechtslage ist grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien (AA 13.2.2019), obwohl auch in Dagestan mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einhergehen (AA 13.2.2019, vgl. SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew wurde das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien ausgehebelt. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden; im Nordkaukasus hatte er davon jedoch Abstand genommen. Wassiljew ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan – und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht – Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef Abdussamad Gamidow, zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet, um die wirtschaftlich abgeschlagene und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängende Nordkaukasus-Republik auszubeuten. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018, vgl. Standard.at 5.2.2018).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 09.04.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Dagestan

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Sicherheitslage in Dagestan ist zwar angespannt, hat sich in jüngerer Zeit aber verbessert (AA 13.2.2019). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete nach Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2019).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. So werden von den Sicherheitskräften mitunter auch Imame verhaftet, die dem Salafismus anhängen sollen. Aus der Perspektive der Sicherheitsdienste sollen ihre Moscheen als Rekrutierungsstätten für IS-Anhänger dienen, für einen Teil der muslimischen Bevölkerung stellen diese Maßnahmen jedoch ungebührliche Schikanen dar. Es kommt nach wie vor zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten. Die Extremisten gehörten zunächst zum 2007 gegründeten sogenannten Kaukasus-Emirat, bekundeten jedoch vermehrt ihre Loyalität gegenüber dem sog. IS. Auch operativ ist der sog. IS im Nordkaukasus in Erscheinung getreten. Einige Angriffe auf Polizisten bzw. Polizeieinrichtungen wurden unter dem Deckmantel des sog. IS ausgeführt; im Dezember 2015 bekannte sich der sog. IS zu einem Anschlag auf eine historische Festung in Derbent. Inwieweit der sog. IS nach der territorialen Niederlage im Nahen Osten entsprechende Ressourcen verschieben wird, um im Nordkaukasus weitere terroristische Umtriebe zu entfalten oder die regionale Zweigstelle weiterhin zu Propagandazwecken nutzen wird, um seinen globalen Einfluss zu unterstreichen, wird von den russischen Sicherheitskräften genau verfolgt (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 gab es mindestens 49 Opfer des bewaffneten Konflikts in Dagestan, davon wurden 36 Personen getötet und 13 verletzt. Die meisten getöteten Personen sind, wie 2017, unter den Aufständischen zu finden, nämlich 27. Von den Exekutivkräften wurden drei getötet und elf verletzt. Sechs Zivilisten wurden getötet und zwei verletzt. Im Vergleich zu 2017, als es 55 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl um 10,9% (Caucasian Knot 30.8.2019).

2019 wurden in Dagestan neun Personen getötet [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020). Diese neun Personen wurden alle im ersten Halbjahr 2019 getötet (Caucasian Knot 30.8.2019).

Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 19.6.2019).

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 04.09.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 09.04.2020

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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