TE Vwgh Erkenntnis 2021/7/30 Ra 2021/18/0065

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Veröffentlicht am 30.07.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §9 Abs2 Z2
BFA-VG 2014 §21 Abs7
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A R, vertreten durch Dr. Alexander Scala, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Hauptplatz 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Jänner 2021, I416 2238278-1/5E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Algeriens, stellte am 23. Mai 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG2005), den er im Wesentlichen mit Erbschaftsstreitigkeiten mit seinem Onkel begründete.

2        Mit Auslieferungsersuchen vom 28. Mai 2020 begehrten die algerischen Strafbehörden die Auslieferung des Revisionswerbers und führten zusammengefasst aus, der Revisionswerber stehe im Verdacht des Verbrechens des Mordes, den er am 16. Dezember 2019 in Constantine/Algerien begangen haben soll.

3        Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 8. September 2020 zu 20 HR 136/20m wurde die Auslieferung des Revisionswerbers nach Algerien für unzulässig erklärt, weil von Seiten Algeriens nicht gemäß § 20 Abs. 1 Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz (ARHG) gewährleistet wurde, dass die Todesstrafe in Algerien nicht ausgesprochen werden würde.

4        Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 9. September 2020 zu 4 HR 124/20d wurde über den Revisionswerber die Untersuchungshaft wegen Verdachts nach § 75 StGB verhängt.

5        Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 27. November 2020 wurde der Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gegen den Revisionswerber erlassen (Spruchpunkt IV.), die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Algerien festgestellt (Spruchpunkt V.), keine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.) und einer Beschwerde gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.).

6        In seiner Begründung zu Spruchpunkt II. hielt das BFA fest, dass bei einer Rückkehr nach Algerien keine reale Gefahr einer Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK gewährleisteten Rechte bestehe. Auch wenn die Strafdrohung für Mord in Algerien die Todesstrafe umfasse, bestehe seit 1993 diesbezüglich ein Moratorium, das noch nie durchbrochen worden sei.

7        In weiterer Folge erhob der Revisionswerber eine Beschwerde gegen den Bescheid vom 27. November 2020 an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der er unter anderem ausführte, dem Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz im Auslieferungsverfahren sei zu entnehmen, dass es keine konkrete unwiderrufliche, verbindliche und verlässliche Zusicherung gäbe, dass in seinem Fall die Todesstrafe weder verhängt noch vollstreckt werden würde. Es gebe in Algerien kein faires Verfahren. Die belangte Behörde gehe in ihrer Begründung der Abweisung des Antrags hinsichtlich der Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten von Vermutungen aus, ohne sich damit auseinanderzusetzen, dass die Todesstrafe in Algerien noch im Gesetz verankert sei.

8        Diese Beschwerde wies das BVwG - ohne Durchführung einer Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis, soweit sie sich gegen die Spruchpunkte I. bis IV., VI. und VII. wendete, als unbegründet ab, wobei die Abweisung zu Spruchpunkt II. mit der Maßgabe erfolgte, dass dieser zu lauten habe: „Ihr Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Algerien gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Absatz 2 Z 2 AsylG 2005 abgewiesen.“ Soweit sich die Beschwerde gegen Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides richtete, gab das BVwG dieser statt und stellte fest, dass „gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005“ eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Revisionswerbers nach Algerien unzulässig sei. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG für nicht zulässig.

9        In seiner Begründung führte das BVwG - entgegen der Begründung des BFA, das keine reale Gefahr einer Verletzung der durch Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte annahm - aus, dass dem Revisionswerber im Falle seiner Rückkehr aufgrund der Möglichkeit der Todesstrafe eine Verletzung nach Art. 2 EMRK drohe, jedoch ein Ausschlussgrund gemäß § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 vorliege. Über den Revisionswerber sei mit dem näher genannten Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz die Untersuchungshaft wegen des Verdachts nach § 75 StGB verhängt worden, weshalb er eine Gefahr für die Allgemeinheit und die Sicherheit darstelle. Zudem mangle es dem Vorbringen des Revisionswerbers aufgrund seiner leugnenden Verantwortung zur vorgeworfenen Straftat auch an Glaubwürdigkeit. Die Abweisung des Antrags hinsichtlich subsidiären Schutzes sei mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden, diese sei aufgrund des Überwiegens der öffentlichen Interessen zu erlassen, jedoch sei eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Revisionswerbers nach Algerien unzulässig. Das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung stützte das BVwG auf § 21 Abs. 7 BFA-VG.

10       Dagegen richtet sich die vorliegende Revision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst vorbringt, das BVwG sei von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 abgegangen und habe die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Unrecht unterlassen.

11       Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12       Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

13       Zu I.:

14       Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

15       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

16       Die vorliegende Revision wendet sich formal zwar gegen die angefochtene Entscheidung im vollen Umfang, vermag aber hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten mit ihrem bloß pauschal gehaltenen Vorbringen keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen.

17       Die Revision war daher in diesem Umfang gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

18       Zu II.:

19       Als zulässig und begründet erweist sich die Revision jedoch insoweit, als sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte richtet.

20       Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ folgende Kriterien beachtlich sind: Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2015, Ra 2014/20/0017, 0018).

21       Diese Voraussetzungen lagen im gegenständlichen Fall nicht vor:

22       Das BVwG gründete die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Gegensatz zum BFA erstmals auf § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005.

23       Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, dass nach § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 der Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf das Begehren auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen ist, wenn der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt.

24       Ob der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt, erfordert eine Gefährdungsprognose, wie sie in ähnlicher Weise auch in anderen asyl- und fremdenrechtlichen Vorschriften zugrunde gelegt ist (vgl. etwa § 6 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005; § 57 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005; § 53 Abs. 2 und Abs. 3 FPG; § 66 Abs. 1 FPG; § 67 Abs. 1 FPG). Dabei ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die Annahme gerechtfertigt ist, der Fremde stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich dar. Strafgerichtliche Verurteilungen des Fremden sind daraufhin zu überprüfen, inwieweit sich daraus nach der Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und der Tatumstände der Schluss auf die Gefährlichkeit des Fremden für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Republik Österreich ziehen lässt (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 22.10.2020, Ro 2020/20/0001, mwN).

25       Die Revision rügt in diesem Zusammenhang zu Recht, dass derartige Feststellungen fehlen und dass sich das BVwG nach der oben angeführten Rechtsprechung im vorliegenden Fall bei Erstellung der für eine Beurteilung nach § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 erforderlichen Gefährdungsprognose einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen, danach Feststellungen zu seiner Gefährlichkeit hätte treffen und sich damit auseinandersetzen müssen, dass - nach den unbestrittenen Feststellungen im Erkenntnis - eine relevante strafrechtliche Verurteilung weder in Österreich noch im Herkunftsstaat vorliegt. Vor dem Hintergrund, dass diese Ermittlungen erstmals vom BVwG zu tätigen gewesen wären, kann weiters - entgegen der Ansicht des BVwG in seiner Begründung - auch nicht davon ausgegangen werden, der entscheidungsmaßgebliche Sachverhalt sei vom BFA vollständig ermittelt worden und die Entscheidungsgrundlagen hätten im Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG die nach dem Gesetz notwendige Aktualität aufgewiesen. Infolgedessen hätte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG in Bezug auf die Heranziehung des Ausschlussgrundes des § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 die Durchführung einer Verhandlung nicht unterbleiben dürfen (vgl. dazu auch VwGH 22.10.2020, Ra 2020/20/0274).

26       Da es das BVwG somit entgegen den Bestimmungen des § 21 Abs. 7 BFA-VG unterließ, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, belastete es das angefochtene Erkenntnis, soweit damit über die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte abgesprochen wurde, mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Dieses war daher in diesem Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

27       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 30. Juli 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180065.L01

Im RIS seit

23.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

03.09.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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