TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/8 I416 2238278-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.01.2021
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Entscheidungsdatum

08.01.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57 Abs1 Z2
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs3a
AsylG 2005 §9 Abs2 Z2
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §46a Abs1 Z2
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs4
StGB §75
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I416 2238278-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Alexander BERTIGNOL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. ALGERIEN, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH –BBU (vormals Verein Menschenrechte Österreich), gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 27.11.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I., III., IV., VI. und VII. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Spruchpunkt zu lauten hat: „Ihr Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Algerien gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Absatz 2 Z 2 AsylG 2005 abgewiesen.“

III. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt V. wird stattgegeben und gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 festgestellt, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung von Ayoub REDJEM nach Algerien unzulässig ist.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Algerien, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen ins Bundesgebiet ein und stellte am 23.05.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab er zu seiner Fluchtroute an, dass er im Dezember 2019 legal mit seinem Reisepass über Tunesien ausgereist sei. Von Tunesien aus sei er mit einem Visum in die Türkei geflogen und von dort über Griechenland, Albanien, Montenegro, Bosnien, Kroatien und Slowenien in Österreich eingereist. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab er an, dass es für ihn in Algerien keine Zukunft, keine Arbeit, kein Geld und nicht einmal eine Schlafmöglichkeit geben würde. Bedroht sei er von seinen Onkeln worden, mit denen er zusammengelebt habe, einer seiner Onkel habe ihm gesagt, dass er ihn umbringen oder in das Gefängnis bringen werde. In seiner Heimat werde er weder von der Polizei noch der Justiz gesucht. Im Falle seiner Rückkehr habe er Angst vor seinen Onkeln, diese würden ihm nach dem Leben trachten.

2.       Im Schengener Informationssystem (EKIS/SIS/IP24-7) scheint hinsichtlich des Beschwerdeführers ein Interpol-Treffer (Interpol Red Notice) betreffend einem internationalen Haftbefehl wegen eines Tötungsdeliktes und ein SIS-Treffer bezüglich einem schengenweiten Aufenthaltsverbot auf.

3.       Am 03.06.2020 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich einvernommen. Zu seinen persönlichen Lebensumständen führte er aus, dass er XXXX heiße, am XXXX in XXXX in Algerien geboren und Staatsangehöriger von Algerien sei. Er sei gesund, sei nicht verheiratet und habe keine Kinder. Er gab weiters an, dass in Algerien seine Eltern, seine fünf Schwestern und ein Bruder leben würde, die Familie würde in einer Einzimmerwohnung leben. Er führte weiters aus, dass er früher im Haus der Familie beim Großvater gelebt habe, seit 2 bis 3 Jahren wohne seine Familie nicht mehr beim Großvater, es habe damals ein großes Problem gegeben, weshalb sie ausgezogen seien, es sei um das Erbe gegangen. Die Onkel hätten ihn verletzt, er habe diese auch mehrfach bei der Polizei angezeigt, da diese aber reich sein und Geld hätten, könne man ihnen nichts antun. Sein Vater sei Taxilenker, seine Mutter und seine Geschwister würden nicht arbeiten, er selbst habe eine Ausbildung als Friseur und eine als Heizungsinstallateur gemacht, er habe eine Lehrabschluss in beiden Berufen. Er gab weiters an, dass er seit zwei Monaten keinen Kontakt mehr zu seiner Familie habe, zuletzt habe er mit seiner Schwester gesprochen. Seine Schwester hätte ihm gesagt, dass es ihnen gut gehen würde, sie aber Angst vor seinen Onkeln haben würde, da diese mit dem Umbringen gedroht hätten. Er habe zudem Tanten mütterlicherseits in Frankreich und in Italien sowie zwei Onkel mütterlicherseits, die auch in Frankreich leben würden. Kontakt habe er zu diesen Personen keinen bzw. nur wenig. Er führte weiters aus, dass er in seiner Heimat weder von der Polizei, der Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde gesucht werde, weil er legal mit dem Reisepass ausgereist sei, wenn es Probleme gegeben hätte, dann wäre er am Flughafen bei der Ausreise angehalten worden. Auf Vorhalt, wie er sich erklären würde, dass er von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben worden sei, führte er wörtlich an: „Als sich ausreiste aus Algerien gab es keine Probleme, ich habe mich dann in Griechenland mit einem Bekannten getroffen, er hat Fotos von uns auf Facebook gepostet. Mein Onkel hat die Fotos gesehen und gewusst, dass sich in Griechenland bin. Der Sohn meines Onkels ist wegen des Mordvorwurfs im Gefängnis, mein Onkel hat dann Kontakt mit seinem Sohn aufgenommen. Der Sohn sollte mich der Tat beschuldigen und angeben, dass ich mitbeteiligt war, damit es für meinen Cousin einfacher wird, deshalb hat er mich auch der Mittäterschaft beschuldigt. Das hat der Cousin gemacht, um eine Strafmilderung zu erreichen.“ Gefragt, ob er in seiner Heimat Probleme mit den Behörden gehabt habe, gab er wörtlich zu Protokoll: „Mir wird in Algerien vorgeworfen, dass ich den Mord begangen habe, aber das stimmt nicht, deshalb will und kann ich nicht zurück. Jeder der Geld hat, kann sich dort alles kaufen, auch die Freiheit. Seit 20.01.2020 wurde ich von Interpol gesucht, der Mordvorfall ist am 16.12.2019 passiert. Wieso hat die Polizei damals nicht schon nach mir gesucht?“

Gefragt, welche Tat ihm konkret vorgeworfen werde, gab er an, dass er, sein Cousin und seine Freunde jemanden getötet haben, er kenne diese Person jedoch nicht. Gefragt, wie sich die Tat ereignet habe, gab er wörtlich an: „Als ich mich für meine Reise vorbereitete, habe ich von dem Vorfall gehört. Es waren mehrere Beteiligte. Mein Cousin und seine Gruppe gegen eine andere Gruppe. Ich bin da vorbeigegangen und habe einen Streit beobachtet, da war aber noch niemand tot oder verletzt. Ich ging nach Hause und habe mich später mit einigen Freunden getroffen, ich bin danach nach Tunesien ausgereist.“ Ausgereist sei er am gleichen Tag, er habe auch schon das türkische Visum gehabt, gekauft habe er das Ticket nach Tunesien bereits im August, sein Freund habe das Ticket von Tunis in die Türkei gekauft er selbst sei mit dem Auto von Algerien nach Tunesien gefahren. Zum Konflikt mit seinen Onkeln, führte er aus, dass die Brüder seines Vaters seine Mutter und sie nicht mögen würden, diese seien gegen die Ehe seiner Eltern gewesen und würden auch denken, dass ihnen kein Erbanspruch zustehen würde. Gehandelt habe es sich bei dem Erbe, um ein Mehrfamilienhaus, acht kleine Wohnungen und ein Grundstück, dieses Erbe sollte auf alle aufgeteilt werden, die Onkel hätten jedoch gewollt, dass sie nichts bekommen würden, weshalb sie sie gezwungen hätten auszuziehen. Auf Vorhalt, dass sie ja nun nicht mehr dort seien und was ihre Onkel denn noch von Ihnen wollen würden, gab er wörtlich an: „Sie hassen meine Mutter und uns, sie wollen nicht, dass wir unsere Rechte erhalten. Sie möchten, dass wir schweigen und nichts von ihnen verlangen. Deshalb schicken die immer wieder Leute, die uns verletzen und mit dem Tod drohen.“ Er selbst habe Narben und sei auch im Krankenhaus gewesen und sei zweimal am Arm und Bein operiert worden, er sei auch bei der Polizei gewesen und habe das mehrfach angezeigt, es habe jedoch nichts gebracht, die Täter seien nicht festgenommen worden. Seine Schwester sei mit einem Messer gestochen worden und sitze seitdem im Rollstuhl, seiner Mutter seien die Zähne ausgeschlagen worden, sie habe eine Stichverletzung in der Nähe des Herzens, diese sei deswegen im Krankenhaus gewesen und sei ihr Zustand lebensgefährlich gewesen. Es gebe auch ärztliche Befunde vom Krankenhaus, er würde seinen Eltern sagen, dass sie ihm diese schicken sollen. Hinsichtlich der Mordanschuldigungen gab er auf Vorhalt, dass er sich seiner Verantwortung stellen nach Algerien zurückkehren könne um dort seine Unschuld zu beweisen an, dass es kein Gesetz und keine Gerechtigkeit gebe, es würden unschuldige Leute festgenommen. Wenn jemand Geld habe, wie seine Onkel, dann können diese die Polizei bestechen, er könne lebenslang bekommen, auch wenn er unschuldig sei und seine Onkel könnten ihn im Gefängnis genauso wie außerhalb umbringen. Gefragt, warum sein Cousin dann in Haft sei, wenn die Onkel so mächtig seien, führte er aus, dass es Zeugen gebe die ihn belasten würden, weshalb man ihn nicht so leicht rausbekommen würde. Gefragt, warum er in den Ländern, durch die er gereist sei, nie erzählt habe, dass er zu Hause ein Problem habe, gab er wörtlich an: „Ich wusste nicht, dass ich gesucht werde, das erfuhr ich erst in Österreich.“ Auf Vorhalt, dass er auch das Problem mit den Onkeln und die Vorfälle diesbezüglich hätte schildern können, führte der Beschwerdeführer wörtlich aus: „Mein Reiseziel war aber Österreich. Ich kam hierher damit ich Sicherheit und ein neues Leben habe. Ich möchte die Sprache lernen und arbeiten. In Algerien gibt es keine Zukunft und ich habe ständig Angst um mein Leben, auch meine Familie, die werden uns nie in Ruhe lassen.“ Gefragt, warum er und nicht die Familie geflohen sei, gab er wörtlich an: „Wir konnten uns das nicht leisten, es wurde daher entschieden das zunächst ich flüchte um meine Familie dann auch wegkommen.“

4.       Am 26.08.2020 wurde der Beschwerdeführer im Beisein einer Rechtsberaterin ein weiteres Mal im Wege einer Video-Konferenz einvernommen. Im Rahmen dieser Einvernahme gab er an, dass er betreffend die Niederschrift vom 30.06.2020 nichts verändern oder hinzufügen möchte, es habe sich auch an seinem Gesundheitszustand nichts geändert. Er gab weiters an, dass er vorgestern mit seiner Familie telefoniert habe, es würde diesen gut gehen, sie hätten seinetwegen etwas Ärger bekommen und hätten ihm gesagt, dass die Lage in Algerien nicht gut sei und er im Falle seiner Rückkehr getötet werde. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme wurden die seitens des Beschwerdeführers übermittelten medizinischen Unterlagen erörtert. Auf Vorhalt, dass es beabsichtigt sei seinen Asylantrag abzuweisen, führte er aus, dass Algerien kein sicheres Land sei, sein Leben sei in Gefahr, sie könnten sich über das Internet informieren, da nicht alles wahr sei, wenn er zurück nach Algerien müsste, würde er umgebracht werden. Gefragt, ob er Probleme mit der Polizei oder anderen Behörden im Fall seiner Rückkehr habe, gab er wörtlich zu Protokoll. „Nein.“

5.       Mit Beschluss des Landesgerichtes XXXX vom 08.09.2020, Zl. XXXX wurde die Auslieferung gegen den Beschwerdeführer unter Zugrundelegung des algerischen Auslieferungsersuchens zur Strafverfolgung vom 28.5.2020 zu Nr.20 BO, als nicht zulässig erklärt. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die algerischen Behörden ein Auslieferungsersuchen samt Auslieferungsunterlagen fristgerecht übermittelt hätten, wonach im Wesentlichen zusammengefasst es am 16.12.2019 in XXXX zu einem Angriff gegen das Opfer XXXX mit einer Waffe mit Klinge im Zuge einer Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe von Personen, darunter der Betroffene, gekommen sei, wobei das Opfer an seinen zugefügten Verletzungen verstorben sei. Damit würde der gegen den Betroffenen gerichteten Verdacht des Verbrechens des Mordes nach Art. 261 algerischen Strafgesetzbuch bestehen. Die über Antrag der Staatsanwaltschaft XXXX vom 10.06.2020 gemäß § 35 Abs. 2 ARHG angeforderte konkrete, unwiderrufliche, verbindliche und verlässliche Zusicherung der algerischen Behörden, aus welcher sich ausreichend und zweifelsfrei ergeben würde, dass die für die gegenständliche Straftat - laut den übermittelten Auslieferungsunterlagen - drohende Todesstrafe (Art. 261 Abs. 1 alg. StGB) weder verhängt noch vollstreckt werden wird, sowie die geforderte Klarstellung, warum in der Interpolfahndung als mögliche Höchststrafe lebenslange Haft angeführt sei und in den Auslieferungsunterlagen die Todesstrafe für einen Mord angedroht sei, sowie die Ergänzung des Sachverhalts dahingehend welche konkrete Person zugestochen haben soll und welche verdachtsbegründeten Ermittlungsergebnisse zwischenzeitig gegen den Beschwerdeführer erhoben wurden, langte bis zum Zeitpunkt der Entscheidung am 08.09.2020 nicht ein. Da eine Auslieferung im Hinblick auf § 35 Abs. 2 ARHG dann nicht zulässig ist, wenn diese zur Verfolgung wegen einer nach dem Recht des ersuchenden Staates mit Todesstrafe bedrohten strafbaren Handlung erfolgen soll und dabei nicht gewährleistet ist, dass die Todesstrafe nicht ausgesprochen wird und mangels Zusicherung der algerischen Behörden, dass die für die gegenständliche Straftat drohende Todesstrafe weder verhängt noch vollstreckt werden wird, und demnach real zu befürchten steht, der Betroffene könnte im Fall seiner Auslieferung der Todesstrafe unterworfen werden, war die Auslieferung als Konsequenz der Unzulässigerklärung der Auslieferung aufzuheben und der Betroffene zu enthaften.

Mit Beschluss des Landesgerichtes XXXX vom 09.09.2020, Zl. XXXX , wurde über den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB die Untersuchungshaft verhängt. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer aufgrund des Inhalts einer „Red Notice“-Mitteilung von Interpol und der von den algerischen Strafverfolgungsbehörden im Auslieferungsverfahren übermittelten Auslieferungsunterlagen, gemäß § 173 Abs. 1 StPO dringend verdächtig ist, am 16.12.2019 in XXXX /Algerien im Zusammenwirken mit weiteren Mittätern den XXXX unter Verwendung einer Waffe mit Klinge vorsätzlich getötet zu haben und stehe dieser demnach im dringenden Verdacht das Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB begangen zu haben. Da die Straftat des Mordes nach dem algerischen Strafgesetzbuch mit der Todesstrafe bedroht ist und die Auslieferung, infolge des Nichteinlangens der oben angeführten angeforderten Zusicherung, für unzulässig erklärt wurde, unterliegt die gegenständliche Tat gemäß § 65 Abs. 1 Z. 2 StGB der österreichischen Gerichtsbarkeit.

6.       Am 17.9.2020 wurde das Asylverfahren gemäß § 13 Abs. 2 Z. 3 AsylG ohne Aufenthaltsrecht zugelassen.

7.       Am 16.10.2020 wurde der Beschwerdeführer betreffend seines Antrages auf internationalen Schutz von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Dabei führte er aus, dass seine Angaben aus seinen vorherigen Einvernahmen stimmen würden, er aber noch sagen möchte, dass er in Algerien geschlagen worden sei und er aus Angst geflüchtet sei. Er gab weiters an, dass er in XXXX zusammen mit seiner Familie in einer Wohnung gelebt habe, die er vom algerischen Staat bekommen habe, er stehe auch derzeit in Kontakt mit seiner Familie, gefragt, warum er ausgerechnet nach Österreich gereist sei, gab er wörtlich zu Protokoll: „Ich habe gehört, dass Österreich einen guten Ruf hat was Menschrechte angeht. Hier habe ich Sicherheit gefunden, ich möchte hier ein normales Leben ohne Angst leben, ich bitte den österreichischen Staat mir Schutz zu gewähren.“ Zu seinen persönlichen Lebensumständen führte er aus, dass er der Volksgruppe der Araber angehöre und sunnitischer Moslem sei, seine Muttersprache sei arabisch, er spräche aber auch Französisch und ein bisschen Englisch und habe in der Haft auch etwas Deutsch gelernt. In Österreich habe er keine Familienangehörigen, sei arbeitsfähig und gesund. Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab er wörtlich an: „Der Hauptgrund meiner Flucht waren familiäre, ethnische und Erbschaftsprobleme. Es gibt in Algerien keine Menschrechte. Ich wäre fast getötet worden, ich habe Anzeige erstattet, aber die Polizei hat meine Anzeige nicht ernst genommen. Die Polizei ist gegenüber den Terroristen machtlos. In Algerien herrscht Korruption und egal was du machst, du musst immer Schmiergeld bezahlen, du kannst ohne Geld in Algerien nichts machen. Mein Leben in Algerien war sehr in Gefahr, wäre ich dortgeblieben, wäre ich getötet worden. Ich wurde immer wieder angegriffen, mit Messern und anderen Waffen, ich glaube es fast selbst nicht, dass ich überlebt habe.“ Gefragt, wann er zuletzt von wem und aus welchen Grund angegriffen wurde, suchte der Beschwerdeführer ein Datum auf einem Befund und gab in Folge an, dass dies am 20.01.2019 von einer ihm unbekannten Person gewesen sei, diese hätte ihm den Kopf abschneiden wollen, habe es letztendlich jedoch nicht geschafft und ihm eine tiefe Wunde am Gesäß zugefügt. Zum fluchtauslösenden Ereignis, welches ihn im Dezember 2019 schlussendlich veranlasst hätte, die Heimat zu verlassen, gab der Beschwerdeführer wörtlich an: „Ich wollte nicht noch einmal verletzt werden und ich wollte unbedingt nach Österreich um hier Asyl anzusuchen. Ich bin geflüchtet, weil es in Algerien keine Gerechtigkeit gibt.“ Gefragt, ob dies seine sämtlichen Fluchtgründe in Bezug auf Algerien seien, gab er wörtlich an: „Ja.“ Gefragt, was er konkret befürchte, wenn er in seine Heimat zurückkehren müsste, gab der Beschwerdeführer wörtlich zu Protokoll: „Ich habe Angst getötet zu werden. Mein Cousin väterlicherseits hat jemanden getötet und als ich Algerien verlassen habe, wurde ich beschuldigt, dass ich diese Person getötet hätte und wenn ich nach Algerien zurückkehren würde, würde ich an der Stelle meines Cousins als Racheakt getötet werden. Ich werde in Algerien als Mörder beschuldigt und gesucht. Mein Cousin väterlicherseits hat ausgesagt, dass ich diese Person getötet hätte, um seinen eigenen Arsch zu retten.“ Er führte weiters aus, dass die Angehörigen dieses getöteten Menschen und auch der algerische Staat ihn mit der Todesstrafe bestrafen würden, weil er als Mörder beschuldigt werde, er habe diese Tat aber nicht begangen. Auf Vorhalt, dass er doch die Möglichkeit hätte vor einem algerischen Gericht seine Unschuld zu beweisen, gab der Beschwerdeführer wörtlich zu Protokoll: „Ich war damals schon nicht mehr in Algerien als mein Cousin diese Person getötet hat.“ Auf Vorhalt, dass er dann doch beweisen könnte, dass er zum Tatzeitpunkt nicht mehr in Algerien gewesen sei, gab er wörtlich zu Protokoll: „Ich war noch nicht im Ausland, aber der algerische Staat geht davon aus, dass ich wegen des Mordes den Staat verlassen hätte.“ Gefragt, ob es demnach ein reiner Zufall gewesen sei, dass er ausgerechnet als dieser Mord begangen wurde, auch seine Heimat verlassen habe, gab er wörtlich zu Protokoll: „Ja das war so, ich bin am selben Tag geflogen, als die Tat begangen wurde. Als ich in Griechenland war, brachte ich in Erfahrung, dass mein Cousin mir diesen Mord in die Schuhe geschoben hat.“ Er gab weiters an, dass der Cousin noch inhaftiert sei, dessen Freunde seien jedoch schon wieder draußen, sein Name sei erst auf die Liste der an dem Mord Beteiligten aufgenommen worden, als er das Land verlassen habe. Er gab weiters zu Protokoll, dass er zum Zeitpunkt des Verlassens seiner Heimat von diesem Mord noch nichts gewusst habe, er habe lediglich gewusst, dass sein Cousin jemanden verletzt habe, er habe dies erst in Griechenland in Erfahrung gebracht. Gefragt, wie man ihn mit dem Getöteten in Verbindung bringen könne, gab er an, dass er diesen nicht kenne und nicht wisse wer dies sei, auf Vorhalt, wie dann sein Cousin dem algerischen Staat glaubhaft vorbringen hätte können, dass er eine ihm unbekannte Person getötet haben solle, gab er an, dass es Feindschaft zwischen ihm und seinem Cousin gebe. Befragt, um welche Erbschaftsstreitigkeiten es gegangen sei und ob er etwas unternommen habe, um auf seinen Erbteil einen Anspruch zu erheben, gab der Beschwerdeführer an, dass es sich um eine Erbschaft des Großvaters väterlicherseits gehandelt habe und die Onkel sie nicht daran beteiligen haben wollen, unternommen habe er nichts, sein Vater habe die Erbschaft gefordert, er sei nur Opfer gewesen, er sei auch nicht wegen der Erbschaft geflüchtet, sondern weil er gewusst habe, dass er getötet werde, wenn er bleiben würde.

8.       Mit Bescheid vom 27.11.2020, Zl. XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten „gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF“ (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Algerien „gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG“ (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen „gemäß § 57 AsylG“ nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und wurde „gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF“ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung „gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF“ erlassen (Spruchpunkt IV.), sowie „gemäß § 52 Absatz 9 FPG“ festgestellt, dass seine Abschiebung „gemäß § 46 FPG“ nach Algerien zulässig ist (Spruchpunkt V.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht gewährt (Spruchpunkt VI.) und erkannte die belangte Behörde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt VII.).

9.       Mit Verfahrensanordnungen gemäß § 63 Abs. 2 AVG vom 27.11.2020 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich, als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

10.      Gegen den Bescheid der belangten Behörde erhob der Beschwerdeführer durch seine gewillkürte Rechtsvertretung mit Schriftsatz vom 23.12.2020 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und monierte Rechtswidrigkeit des Inhaltes, sowie Rechtswidrigkeit infolge von Verletzten von Verfahrensvorschriften, insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es die belangte Behörde unterlassen habe, auf das individuelle Vorbringen einzugehen und habe der Beschwerdeführer Hinweise zur Begründung seines Antrages gegeben, welche die Behörde nicht näher hinterfragt habe und damit ihrer Pflicht gemäß § 18 Abs. 1 AsylG nicht ausreichend nachgekommen sei. Die belangte Behörde habe zudem den Angaben des Beschlusses des Landesgerichtes XXXX vom 08.09.2020 überhaupt keine Beachtung beigemessen, die zitierten Quellen und Recherchetätigkeiten im Bescheid verdeutlichen nicht, dass es keine Garantie gebe, dass der Beschwerdeführer in Algerien ein faires Verfahren bekomme und der Todesstrafe entkommen könne. Es sei in Algerien noch kein Gesetz vorhanden, dass die Todesstrafe bereits abgeschafft worden sei und stütze die belangte Behörde ihre Beweiswürdigung auf reine Vermutungen. Dem Beschwerdeführer drohe in Algerien die Todesstrafe, falls er seine Unschuld nicht beweisen könne. Insgesamt habe sich das Bundesamt somit unzureichend mit den Angaben des Beschwerdeführers und dem Beschluss des Landesgerichtes XXXX auseinandergesetzt und somit eine nicht nachvollziehbare Beweiswürdigung vorgenommen. Die Asylrelevanz des Vorbringens ergebe sich dadurch, dass der Beschwerdeführer erwiesenermaßen von privater Seite verfolgt werde und der algerische Staat allerdings keineswegs imstande scheine, seiner Schutzpflicht nachzukommen. Letztlich wurde ausgeführt, dass aus dem Beschluss des LG XXXX resultiere, dass die Auslieferung nicht zulässig sei, wobei dies für den Beschwerdeführer bedeute, dass im Fall einer Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein „real risk“ einer gegen den Art. 2 und 3 EMRK verstoßenden Behandlung drohe und hätte sich die belangte Behörde dem Beschluss des Landesgerichtes vom 08.09.2020 anschließen müssen. Im gegenständlichen Fall könne sohin unter Berücksichtigung der den Beschwerdeführer betreffenden individuellen Umstände nicht mit erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er im Fall der Rückkehr nach Algerien einer realen Gefahr im Sinne des Art. 2 und Art 3 sowie des Zusatzprotokolls Nr. 6 ausgesetzt wäre, welche unter Berücksichtigung der oben dargelegten persönlichen Verhältnisse und der derzeit in Algerien vorherrschenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde. Der Beschwerdeführer habe sein Fluchtvorbringen detailreich und schlüssig geschildert, sodass sein Antrag als ausreichend substantiiert angesehen werden könne, es werde daher beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass dem Antrag auf internationalen Schutz Folge gegeben und dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt werde, in eventu den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Algerien zuerkannt werde, in eventu einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigenden Gründen gemäß §§ 57, 55 AsylG erteilen, in eventu den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass der Bescheid im Spruchpunkt IV. betreffend die gegen den Beschwerdeführer getroffene Rückkehrentscheidung aufgehoben wird, in eventu den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass der Bescheid im Spruchpunkt IV. (gemeint wohl Spruchpunkt V.) betreffend der gegen den Beschwerdeführer festgestellten Abschiebung aufgehoben werde, in eventu den angefochtenen Bescheid zur Gänze beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Bundesamt zurückzuverweisen und eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht durchführen.

11.      Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 04.01.2021 vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person und zum Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Algerien und damit Drittstaatsangehöriger im Sinne des § 2 Abs 1 Z 20b AsylG.

Seine Identität steht fest.

Der Beschwerdeführer ist volljährig, gehört laut eigenen Angaben der Volksgruppe der Araber an und ist moslemischen Glaubens/Sunnit.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer hat einen Lehrabschluss als Friseur und Heizungsinstallateur und hat in Algerien Gelegenheitsjobs gemacht. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist arabisch, zudem spricht der Beschwerdeführer Französisch und etwas Englisch.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer gehört keiner Risikogruppe im Sinne der COVID 19 Pandemie an.

Der Beschwerdeführer verfügt in Algerien über familiäre Anknüpfungspunkte, es leben noch seine Eltern und seine Geschwister in Algerien.

Es leben keine Familienangehörigen oder Verwandten des Fremden in Österreich. Unter Zugrundelegung der Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet verfügt der Fremde über keine familiären Anknüpfungspunkte oder maßgebliche private Beziehungen und besteht kein schützenswertes Privat- und/oder Familienleben im Bundesgebiet. Zudem weist er auch keine relevante Integration in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht im Bundesgebiet auf.

Gegen den Beschwerdeführer wurde am 19.12.2019 durch die algerischen Strafverfolgungsbehörden ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes und krimineller Vereinigung zum Mord gemäß Art. 254, 255, 256, und 261 Abs. 1 StGB eingeleitet. Für die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Straftat droht ihm in Algerien die Todesstrafe.

Gegen den Beschwerdeführer besteht ein internationaler Haftbefehl.

Dem Auslieferungsersuchen der algerischen Strafverfolgungsbehörden wurde mit Beschluss des Landesgerichtes XXXX vom 08.09.2020, XXXX , nicht Folge gegeben und die Auslieferung im Hinblick auf § 20 ARHG - infolge Nichteinlangens der Zusicherung, dass die Todesstrafe nicht ausgesprochen wird - für unzulässig erklärt und festgestellt, dass die gegenständliche Tat gemäß § 65 Abs. 1 Z. 2 StGB der österreichischen Gerichtsbarkeit unterliegt.

Mit Beschluss des Landesgerichtes XXXX vom 08.09.2020, XXXX wurde über den Beschwerdeführer die Untersuchungshaft wegen § 75 StGB verhängt.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit 23.05.2020 durchgehend in Haft.

Der Beschwerdeführer stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit und Sicherheit dar.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Algerien aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt werden würde.

Der Beschwerdeführer konnte nicht glaubhaft machen, dass ihm in Algerien Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht. Die vom Beschwerdeführer behauptete Bedrohung/Verfolgung durch seine Onkel wegen Erbschaftsangelegenheiten, kann mangels Glaubhaftmachung nicht festgestellt werden.

1.2. Zu den Feststellungen zur Lage in Algerien:

Hinsichtlich der aktuellen Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers sind gegenüber den im angefochtenen Bescheid vom 27.11.2020 getroffenen Feststellungen keine entscheidungsmaßgeblichen Änderungen eingetreten. Im angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Algerien zitiert. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ist auch keine Änderung bekannt geworden, sodass das Bundesverwaltungsgericht sich diesen Ausführungen vollinhaltlich anschließt und auch zu den seinen erhebt und wird dazu ausgeführt: Die wesentlichen Feststellungen lauten:

Politische Lage

Algerien ist ein sicherer Herkunftsstaat. Nach der Verfassung von 1996 ist Algerien eine demokratische Volksrepublik (AA 20.6.2019). Algerien, das größte Land Afrikas, gilt als wichtiger Stabilitätsanker in der Region (KAS 27.2.2019). Der Präsident wird für fünf Jahre direkt gewählt, seine Amtszeit ist seit der letzten Verfassungsreform im Jahr 2016 auf zwei Mandate begrenzt. Neben der nach Verhältniswahlrecht (mit Fünfprozent-Klausel) gewählten Nationalen Volksversammlung (Assemblée Populaire Nationale) besteht eine zweite Kammer (Conseil de la Nation oder Sénat), deren Mitglieder zu einem Drittel vom Präsidenten bestimmt und zu zwei Dritteln von den Gemeindevertretern gewählt werden (AA 20.6.2019). Die Gewaltenteilung ist durch die algerische Verfassung von 1996 gewährleistet, jedoch initiiert oder hinterfragt das Parlament seither selten Gesetzesvorschläge der Regierung und die Macht hat sich innerhalb der Exekutive zunehmend gefestigt. Präsident Bouteflika regierte weitgehend durch Präsidialdekret (BS 29.4.2020). Der Senatspräsident vertritt den Staatspräsidenten (AA 20.6.2019).

Im Februar 2019 entstand in Algerien eine Massenbewegung, welche sich mit dem arabischen Wort für Bewegung „Hirak“ beschreibt. Die algerischen Proteste begannen, nachdem der damals amtierende Präsident Abdelaziz Bouteflika seine fünfte Kandidatur für die Präsidentschaftswahl ankündigte. Zunächst forderten die Demonstrierenden den Rücktritt des Präsidenten, welcher dieser Forderung schließlich nachkam. Die Proteste endeten jedoch nicht mit dem Rücktritt Bouteflikas, bis Ende März 2020 wurde jeden Freitag auf den Straßen in der Hauptstadt Algier und anderswo demonstriert und die Veränderung des gesamten politischen Systems gefordert (IPB 12.6.2020; vgl. RLS 7.4.2020, HRW 14.1.2020, AA 17.4.2019, BAMF 18.2.2019). Die Proteste ungemindert weiter (RLS 7.4.2020 vgl. Standard 18.2.2020, Standard 12.12.2019, Guardian 13.12.2019) und verliefen meist friedlich (IPB 12.6.2020; vgl. BAMF 25.2.2019 Standard 13.12.2019, DF 9.12.2019), dennoch setzte die Polizei Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke ein, um die Menge zu zerstreuen (BAMF 25.2.2019; vgl. TB 22.2.2019, AI 18.2.2020). Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden die Hirak-Märsche ab Ende März 2020 ausgesetzt, der Aktivismus wurde ins Internet verlagert (IPB 12.6.2020; vgl. ARI 7.4.2020, RLS 7.4.2020).

Während die Staatsführung mit behutsamen Konzessionen und vom Hirak misstrauisch beäugten Reformversprechen versuchte, die Bewegung auszubremsen, geht der Sicherheitsapparat weiter mit Repressalien gegen Demonstranten und Oppositionelle vor (Standard 18.2.2020; vgl. AI 18.2.2020, IPB 12.6.2020). Fast 1.400 Hirak-Aktivisten müssen sich mittlerweile vor Gericht verantworten, mehrere hundert sitzen schon hinter Gittern (Standard 18.2.2020; vgl. AI 18.2.2020). Der konsequent friedlich agierende Hirak war führungslos und nur partiell strukturiert. Das Regime verfolgte die Strategie des Aussitzens (Standard 18.2.2020). Versuche der Regierung, Teile der Bewegung zu kooptieren oder untereinander aufzuspalten (IPB 12.6.2020), oder die friedlichen Proteste in offene Gewalt umschlagen zu lassen, waren nicht erfolgreich (Standard 13.12.2019).

Eine neue Präsidentschaftswahl wurde für den 4.7.2019 angesetzt und wegen der Proteste verschoben (HRW 14.1.2020; vgl. FAZ 12.12.2019). Schließlich wurde am 12.12.2019 Abdelmadjid Tebboune mit 58,15% der Stimmen zum neuen Präsidenten der Republik gewählt (TSA 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019, Spiegel 13.12.2019, BBC 13.12.2019). Von den fünf zugelassenen Kandidaten waren drei in früheren Regierungen unter dem ehemaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika vertreten (Spiegel 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019, ARTE 14.12.2019). Auch der Wahlsieger Tebboune war unter Bouteflika mehrfach Minister und im Jahr 2017 drei Monate lang Ministerpräsident (DF 14.12.2019; vgl. ARTE 14.12.2019).

Etwa 24 Millionen Menschen waren wahlberechtigt (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019). Viele Menschen boykottierten den Urnengang, weil die zugelassenen Kandidaten in ihren Augen Marionetten des alten Bouteflika-Regimes waren (ARTE 14.12.2019; vgl. Guardian 13.12.2019). Mehrere Oppositionsparteien wollten einen gemeinsamen Gegenkandidaten aufstellen - konnten sich allerdings nicht einigen (TB 22.2.2019; vgl. TS 26.3.2019). Die Wahlbeteiligung lag bei ca. 40 Prozent (TSA 13.12.2019; vgl. BBC 13.12.2019, ARTE 14.12.2019, Guardian 13.12.2019). Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung, die je bei einer Präsidentschaftswahl in Algerien verzeichnet wurde (Guardian 13.12.2019). Die Wahlbehörde zeigte sich mit dem Verlauf des Wahltages zunächst zufrieden; in 95 Prozent der Wahllokale sei der Betrieb reibungslos angelaufen (FAZ 12.12.2019). Es waren keine ausländischen Wahlbeobachtermissionen zugelassen (Reuters 12.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019).

Der Wahltag selbst wurde durch Proteste und Aufrufe zum Boykott der Wahlen beeinträchtigt (BBC 13.12.2019; vgl. ARTE 14.12.2019, Guardian 13.12.2019). Lokale Medien berichteten von zahlreichen Zwischenfällen. In der Hauptstadt Algier waren Tausende Menschen auf den Straßen, um gegen die Wahl zu protestieren (FAZ 12.12.2019; vgl. Spiegel 13.12.2019). Zentrum des Widerstandes gegen die Abstimmung war die Berberregion Kabylei im Osten des Landes (Standard 13.12.2019), wo es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Wahllokale wurden mit Backsteinen und Zement verschlossen, Wahlunterlagen in Brand gesetzt. Laut Medienberichten griffen die Sicherheitskräfte hart durch. Die Polizei setzte Tränengas ein. Vertreter der sogenannten Hirak-Protestbewegung beklagten Hunderte verhaftete und verletzte Menschen (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019; BBC 13.12.2019).

In Tizi Ouzou und Bejaia sind die Wahlbüros aus Sicherheitsgründen geschlossen worden (FAZ 12.12.2019; vgl. Spiegel 13.12.2019, TSA 13.12.2019). Der Wahlvorgang wurde auch in Boumerdès, Bouira, Bordj Bou Arreridj, Sétif und Jijel unterbrochen (TSA 13.12.2019). In Bouira hatten Demonstranten das Büro der Wahlkommission in Brand gesetzt (Spiegel 13.12.2019). In Béjaïa wurde ein Wahllokal überfallen und die Urnen zerstört (Reuters 12.12.2019; vgl. Standard 13.12.2019). Die Staatsführung um Armeechef Gaïd Salah sah die Wahlen als Mittel, die politische Krise zu beenden und die Legitimität der politischen Führung zu erneuern (Standard 12.12.2019; vgl. Reuters 12.12.2019, Guardian 13.12.2019).

Viele Demonstranten kündigten an, die offiziellen Ergebnisse nicht anzuerkennen (Reuters 12.12.2019). Der Wahlsieg von Tebboune löste erneut Massenproteste aus (ARTE 14.12.2019; vgl. BBC 13.12.2019). Der neue Präsident ist bei den vielen Demonstranten genauso verhasst wie seine vier Kontrahenten bei der Präsidentschaftswahl. Die Protestbewegung will weitermachen, bis das Regime aus Vertrauten des ehemaligen Machthabers Bouteflika tatsächlich fällt (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (20.6.2019): Algerien - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/algerien-node/-/222160, Zugriff 17.6.2020

- AI - Amnesty International (18.2.2020): Algeria 2019, https://www.amnesty.org/en/countries/middle-east-and-north-africa/algeria/report-algeria/, Zugriff 26.2.2020

- ARI - Arab Reform Initiative (7.4.2020): The Future of the Algerian Hirak Following the COVID-19 Pandemic, https://www.arab-reform.net/publication/the-future-of-the-algerian-hirak-following-the-covid-19-pandemic/, Zugriff 27.4.2020

- ARTE - Association Relative à la Télévision Européenne (14.12.2019): Algerien: Massenproteste gegen neuen Präsidenten, https://www.arte.tv/de/videos/094394-000-A/algerien-massenproteste-gegen-neuen-praesidenten/, Zugriff 16.12.2019

- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (18.2.2019): Briefing Notes 18 Februar 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003659/Deutschland___Bundesamt_f%C3%BCr_Migration_und_Fl%C3%BCchtlinge%2C_Briefing_Notes%2C_18.02.2019_%28deutsch%29.pdf, Zugriff 4.6.2019

- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (25.2.2019): Briefing Notes 25 Februar 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003661/Deutschland___Bundesamt_f%C3%BCr_Migration_und_Fl%C3%BCchtlinge%2C_Briefing_Notes%2C_25.02.2019_%28deutsch%29.pdf, Zugriff 4.6.2019

- BBC - British Broadcasting Corporation (13.12.2019): Algeria election: Fresh protests as Tebboune replaces Bouteflika, https://www.bbc.com/news/world-africa-50782676, Zugriff 16.12.2019

- BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report - Algeria, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_DZA.pdf, Zugriff 23.6.2020

- DF - Deutschlandfunk (14.12.2019): Demonstranten halten die Wahlen für manipuliert, https://www.deutschlandfunk.de/protestfreitag-in-algerien-demonstranten-halten-die-wahlen.799.de.html?dram:article_id=465858, Zugriff 16.12.2019

- DF -Deutschlandfunk Kultur (9.12.2019): Das algerische Volk verdient den Friedensnobelpreis, https://www.deutschlandfunkkultur.de/gewaltfreie-massenproteste-das-algerische-volk-verdient-den.1005.de.html?dram:article_id=465199, Zugriff 16.12.2019

- FAZ - Frankfurter Allgemeine (12.12.2019): Massenproteste und Sturm auf Wahlbüros, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wahl-in-algerien-massenproteste-und-sturm-auf-wahlbueros-16532460.html, Zugriff 16.12.2019

- Guardian, the (13.12.2019): Thousands march in Algeria after controversial election result, https://www.theguardian.com/world/2019/dec/13/algeria-braced-for-protests-as-former-pm-wins-presidential-election, Zugriff 16.12.2019

- HP - le HuffPost (13.12.2019): Tebboune élu en Algérie, une marée humaine dans les rues d'Alger, https://www.huffingtonpost.fr/entry/alger-une-maree-humaine-contre-le-resultat-de-la-presidentielle_fr_5df39943e4b04bcba183cf12, Zugriff 16.12.2019

- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Algeria, https://www.hrw.org/world-report/2020/country-chapters/algeria, Zugriff 15.1.2020

- IPB - Institut für Protest- und Bewegungsforschung (12.6.2020): Hirak – Bewegung in Algerien, https://protestinstitut.eu/hirak-bewegung-in-algerien/, Zugriff 17.6.2020

- KAS - Konrad-Adenauer-Stiftung (27.2.2019): Algerien vor der Präsidentschaftswahl, https://www.kas.de/laenderberichte/detail/-/content/algerien-vor-der-praesidentschaftswahl, Zugriff 28.5.2019

- Reuters (12.12.2019): Election présidentielle sur fond de boycott en Algérie, https://fr.reuters.com/article/topNews/idFRKBN1YG0J0, Zugriff 16.12.2019

- RLS - Rosa-Luxemburg-Stiftung (7.4.2020): Zwischen Pandemie-Bekämpfung und politischer Repression, https://www.rosalux.de/news/id/41937/zwischen-pandemie-bekaempfung-und-politischer-repression?cHash=d0f52147ae9940a356cf04f0af11b4a9, Zugriff 17.6.2020

- Spiegel Online, der (13.12.2019): Algerien wählt früheren Regierungschef Tebboune zum Präsidenten, https://www.spiegel.de/politik/ausland/algerien-waehlt-frueheren-regierungschef-zum-praesidenten-abdelmadjid-tebboune-a-1301180.html, Zugriff 16.12.2019

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- Standard, der (13.12.2019): Algerische Proteste gegen eine Wahl als Farce, https://www.derstandard.at/story/2000112265488/algerische-proteste-gegen-eine-wahl-als-farce, Zugriff 16.12.2019

- Standard, der (18.2.2020): Zuckerbrot und Peitsche für Algeriens Protestbewegung, https://www.derstandard.at/story/2000114681764/zuckerbrot-und-peitsche-fuer-algeriens-protestbewegung, Zugriff 26.2.2020

- TB - Tagesblatt (22.2.2019): Tausende protestieren in Algerien: Polizei löst Demonstration auf, https://www.tagblatt.ch/newsticker/international/tausende-protestieren-in-algerien-polizei-lost-demonstration-auf-ld.1096496, Zugriff 28.2.2019

- TS - Tagesschau.de (26.3.2019): Protest gegen Bouteflikas fünfte Kandidatur, https://www.tagesschau.de/ausland/algerien-proteste-101.html, Zugriff 28.5.2019

- TSA - Tout sur l’Algérie (13.12.2019): Abdelmadjid Tebboune élu président de la République, https://www.tsa-algerie.com/abdelmadjid-tebboune-elu-president-de-la-republique/, Zugriff 16.12.2019,

- ZO - Zeit Online (11.4.2019): Algerien: Präsidentschaftswahl soll im Juli stattfinden, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-04/algerien-wahl-praesident-abdelaziz-bouteflika-proteste, Zugriff 28.5.2019

Sicherheitslage

Demonstrationen fanden von Mitte Februar 2019 bis Ende März 2020 fast täglich in allen größeren Städten statt. Auch wenn diese weitgehend friedlich verliefen, konnten vereinzelte gewaltsame Auseinandersetzungen nicht ausgeschlossen werden (AA 5.5.2020; vgl. Standard 12.12.2019, Guardian 13.12.2019, IPB 12.6.2020). Die Sicherheitslage in gewissen Teilen Algeriens ist weiterhin gespannt. Es gibt immer noch terroristische Strukturen, wenn auch reduziert (ÖB 11.2019; vgl. BS 29.4.2020). Es gibt nach wie vor bewaffnete Splittergruppen, und es herrscht nach wie vor eine Sicherheitswarnung, insbesondere für die Süd- und Ostgrenze, für den Süden und die Berberregionen des Landes. Seit 2014 hat es keine Entführungen mehr gegeben (BS 29.4.2020; vgl. BMEIA 8.5.2020, AA 5.5.2020), In den vergangenen zwei Jahren gab es keine größeren terroristischen Vorfälle (BS 29.4.2020).

Der djihadistische Terrorismus in Algerien ist stark zurückgedrängt worden; Terroristen wurden Großteils entweder ausgeschaltet, festgenommen oder haben oft das Land verlassen, was zur Verlagerung von Problemen in die Nachbarstaaten, z.B. Mali, führte. Gewisse Restbestände oder Rückzugsgebiete sind jedoch v.a. in der südlichen Sahara (so z.B. angeblich Iyad ag Ghali) vorhanden. Gruppen, wie die groupe salafiste pour la prédication et le combat (GSPC), die den 1997 geschlossenen Waffenstillstand zwischen dem algerischen Militär und der AIS nicht anerkannte, sich in die Saharagebiete zurückzog und 2005 mit Al Qaida zur AQIM verband, sind auf kleine Reste reduziert und in Algerien praktisch handlungsunfähig. Inzwischen hat sich diese Gruppe wieder mehrmals geteilt, 2013 u.a. in die Mouvement d’unité pour je jihad en Afrique occidentale (MUJAO). Ableger dieser Gruppen haben den Terroranschlag in Amenas/Tigentourine im Jänner 2013 zu verantworten. 2014 haben sich mit dem Aufkommen des „Islamischen Staates“ (IS) Veränderungen in der algerischen Terrorismusszene ergeben. AQIM hat sich aufgespalten und mindestens eine Teilgruppe, Jund al-Khilafa, hat sich zum IS bekannt. Diese Gruppe hat die Verantwortung für die Entführung und Enthauptung des französischen Bergführers Hervé Gourdel am 24.9.2014 übernommen. Dies war 2014 der einzige Anschlag, der auf einen Nicht-Algerier zielte. Ansonsten richteten sich die terroristischen Aktivitäten ausschließlich auf militärische Ziele (ÖB 11.2019).

Der interkommunale Konflikt in der Region Ghardaia mit gewalttätigen Zusammenstößen zwischen 2013 und 2015 wurde durch eine starke Militärpräsenz unter Kontrolle gebracht. Islamistische Extremisten, die eine echte Bedrohung für die staatliche Identität darstellen, sind nach wie vor eine sehr kleine Minderheit. Sie werden von der Bevölkerung kaum oder gar nicht unterstützt (BS 29.4.2020).

Die Sicherheitssituation betreffend terroristische Vorfälle hat sich inzwischen weiter verbessert, die Sicherheitskräfte haben auch bislang unsichere Regionen wie die Kabylei oder den Süden besser unter Kontrolle, am relativ exponiertesten ist in dieser Hinsicht noch das unmittelbare Grenzgebiet zu Tunesien, Libyen und zu Mali. Es kommt mehrmals wöchentlich zu Razzien und Aktionen gegen Terroristen oder deren Unterstützer (ÖB 11.2019).

Nach Angaben der offiziellen Armeepublikation „El Djeich“ (andere Quellen sind nicht öffentlich zugänglich) wurden 2018 32 Terroristen getötet, 25 festgenommen, 132 ergaben sich, weiters wurden 170 „Terrorismusunterstützer“ festgenommen (MDN 1.2019; vgl. ÖB 12.2019). Dieselbe Quelle gibt für das Jahr 2019 an, dass 15 Terroristen getötet und 25 festgenommen wurden, 44 ergaben sich; weiters wurden 245 „Terrorismusunterstützer“ festgenommen (MDN 1.2020). Wie in den Vorjahren kam es auch 2019 zu bewaffneten Vorfällen zwischen Sicherheitskräften und Terroristen, bei denen inoffiziellen Angaben zufolge auch aufseiten der Armee Tote verzeichnet wurden, was jedoch nicht öffentlich gemacht wird (ÖB 11.2019).

Spezifische regionale Risiken

Von Terroranschlägen und Entführungen besonders betroffen ist die algerische Sahararegion, aber auch der Norden und Nordosten des Landes (v.a. Kabylei). Die Gefahr durch den Terrorismus, der sich in erster Linie gegen die staatlichen Sicherheitskräfte richtet, besteht fort (AA 5.5.2020). 2017 gab es (mindestens) vier Anschläge mit eindeutig islamistischem Hintergrund, und zwar in Blida, Constantine, Oued Djemaa (Wilaya Blida), Ferkane (Wilaya Tebessa) und Tiaret (ÖB 11.2019).

Vor Reisen in die Grenzgebiete zu Libyen, Niger, Mali, Mauretanien, Tunesien und Marokko sowie in die sonstigen Saharagebiete, in ländliche Gebiete, Bergregionen (insbesondere Kabylei) und Gebirgsausläufer (Nord-Westen von Algier und Wilaya de Batna) wird gewarnt (BMEIA 8.5.2020; vgl. AA 5.5.2020, FD 20.5.2020). Ausgenommen davon sind nur die Städte Algier, Annaba, Constantine, Tlemcen und Oran (BMEIA 8.5.2020). Im Rest des Landes besteht weiterhin hohes Sicherheitsrisiko (BMEIA 8.5.2020). Praktisch nicht mehr existent sind die früher häufigen Entführungen, besonders in der Region Kabylei von wohlhabenden Einheimischen mit kriminellem Hintergrund (Lösegeldforderung). In den südlichen Grenzregionen zu Niger und Mali und jenseits der Grenzen gehen terroristische Aktivitäten, Schmuggel und Drogenhandel ineinander über. Es wird angenommen, dass AQIM in Nordmali, aber auch andernorts vereinzelt mit der lokalen Bevölkerung für Schmuggel aller Art zusammenarbeitet (ÖB 11.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (5.5.2020): Algerien: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/algeriensicherheit/219044, Zugriff 17.6.2020

- BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (8.5.2020): Reiseinformationen Algerien, Sicherheit & Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/algerien/, Zugriff 17.6.2020

- BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report - Algeria, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_DZA.pdf, Zugriff 23.6.2020

- FD - France Diplomatie (20.5.2020): Conseils aux Voyageurs - Algérie - Sécurité, http://www.diplomatie.gouv.fr/fr/conseils-aux-voyageurs/conseils-par-pays/algerie/, Zugriff 17.6.2020

- Guardian, the (13.12.2019): Thousands march in Algeria after controversial election result, https://www.theguardian.com/world/2019/dec/13/algeria-braced-for-protests-as-former-pm-wins-presidential-election, Zugriff 16.12.2019

- IPB - Institut für Protest- und Bewegungsforschung (12.6.2020): Hirak – Bewegung in Algerien, https://protestinstitut.eu/hirak-bewegung-in-algerien/, Zugriff 17.6.2020

- MDN - Ministère de la Défense Nationale – Algérie (1.2019): Bilan opérationnel 2018 - Résultats probants dans la lutte antiterroriste, in: El Djeich N°666 (Janvier 2019) S 19-20, https://www.mdn.dz/site_principal/sommaire/revue/images/EldjeichJan2019Fr.pdf, Zugriff 16.1.2020

- MDN - Ministère de la Défense Nationale – Algérie (1.2020): Lutte contre le terrorisme et le crime organisé - Bilan opérationnel 2019, in: El Djeich N°678 (Janvier 2020) S 75, https://www.mdn.dz/site_principal/sommaire/revue/images/EldjeichJan2020Fr.pdf, Zugriff 16.1.2020

- ÖB - Österreichische Botschaft Algier (11.2019): Asylländerbericht Algerien

- Standard, der (12.12.2019): Umstrittene Präsidentenwahl in Algerien, https://www.derstandard.at/story/2000112165637/umstrittener-urnengang-in-algerien?ref=article, Zugriff 16.12.2019

Rechtsschutz / Justizwesen

Obwohl die Verfassung eine unabhängige Justiz vorsieht, beschränkt die Exekutive die Unabhängigkeit der Justiz (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Der Präsident hat den Vorsitz im Obersten Justizrat, der für die Ernennung aller Richter sowie Staatsanwälte zuständig ist (USDOS 11.3.2020). Der Oberste Justizrat ist für die richterliche Disziplin und die Ernennung und Entlassung aller Richter zuständig (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Die in der Verfassung garantierte Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern wird in der Praxis nicht gänzlich gewährleistet (BS 29.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020), sie ist häufig äußerer Einflussnahme und Korruption ausgesetzt (USDOS 11.3.2020). Die Justizreform wird zudem nur äußerst schleppend umgesetzt. Algerische Richter sehen sich häufig einer außerordentlich hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt, was insbesondere in Revisions- und Berufungsphasen zu überlangen Verfahren führt (AA 25.6.2019). Praktische Entscheidungen über richterliche Kompetenzen werden vom Obersten Justizrat getroffen (BS 29.4.2020). Die Richter werden für eine Dauer von zehn Jahren ernannt und können u.a. im Fall von Rechtsbeugung abgelöst werden (AA 25.6.2019). Im Straf- und Zivilrecht entscheiden Justizministerium und der Präsident der Republik mittels weisungsabhängiger Beratungsgremien über das Fortkommen von Richtern und Staatsanwälten. Das Rechtswesen kann so unter Druck gesetzt werden, besonders in Fällen, in denen politische Entscheidungsträger betroffen sind. Es ist der Exekutive de facto nachgeordnet. Im Handelsrecht führt die Abhängigkeit von der Politik zur inkohärenten Anwendung der Anti-Korruptionsgesetzgebung, da auch hier die Justiz unter Druck gesetzt werden kann (GIZ 12.2016a).

Das algerische Strafrecht sieht explizit keine Strafverfolgung aus politischen Gründen vor. Es existiert allerdings eine Reihe von Strafvorschriften, die aufgrund ihrer weiten Fassung eine politisch motivierte Strafverfolgung ermöglichen. Dies betrifft bisher insbesondere die Meinungs- und Pressefreiheit, die durch Straftatbestände wie Verunglimpfung von Staatsorganen oder Aufruf zum Terrorismus eingeschränkt werden. Rechtsquellen sind dabei sowohl das algerische Strafgesetzbuch als auch eine spezielle Anti-Terrorverordnung aus dem Jahre 1992. Für die Diffamierung staatlicher Organe und Institutionen durch Presseorgane bzw. Journalisten werden in der Regel Geldstrafen verhängt (AA 25.6.2019; vgl. GIZ 12.2016a).

Die Verfassung gewährleistet das Recht auf einen fairen Prozess (USDOS 11.3.2020), aber in der Praxis respektieren die Behörden nicht immer die rechtlichen Bestimmungen, welche die Rechte des Angeklagten wahren sollen (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 4.4.2018). Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung und sie haben das Recht auf einen Verteidiger, dieser wird, falls nötig, auf Staatskosten zur Verfügung gestellt. Die meisten Verhandlungen sind öffentlich. Angeklagte haben das Recht auf Berufung. Die Aussage von Frauen und Männern wiegt vor dem Gesetz gleich (USDOS 11.3.2020). Den Bürgerinnen und Bürgern fehlt nach wie vor das Vertrauen in die Justiz (AA 25.6.2019).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (25.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014264/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Demokratischen_Volksrepublik_Algerien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_25.06.2019.pdf, Zugriff 27.11.2019

- BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report - Algeria, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_DZA.pdf, Zugriff 23.6.2020

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2016a): Algerien - Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/algerien/geschichte-staat/, Zugriff 29.5.2019

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Algeria, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ALGERIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 17.3.2020

Sicherheitsbehörden

Die staatlichen Sicherheitskräfte lassen sich unterteilen in nationale Polizei, Gendarmerie, Armee und Zoll (GIZ 12.2016a). Die dem Innenministerium unterstehende nationale Polizei DGSN wurde in den 90er Jahren von ihrem damaligen Präsidenten, Ali Tounsi, stark ausgebaut und personell erweitert, und zwar von 100.000 auf 200.000 Personen, darunter zahlreiche Frauen (GIZ 12.2016a). Ihre Aufgaben liegen in der Gewährleistung der örtlichen Sicherheit (GIZ 12.2016a; vgl. USDOS 11.3.2020). Der Gendarmerie Nationale gehören ca. 130.000 Personen an, die die Sicherheit auf überregionaler (außerstädtischer) Ebene gewährleisten sollen (USDOS 11.3.2020). Sie untersteht dem Verteidigungsministerium (GIZ 12.2016a).

Die Gendarmerie Locale wurde in den 90er Jahre als eine Art Bürgerwehr eingerichtet, um den Kampf gegen den Terrorismus in den ländlichen Gebieten lokal zielgerichteter führen zu können. Sie umfasst etwa 60.000 Personen. Die Armee ANP (Armée Nationale Populaire) hat seit der Unabhängigkeit eine dominante Stellung inne und besetzt in Staat und Gesellschaft Schlüsselpositionen. Sie zählt allein an Bodentruppen ca. 120.000 Personen und wurde und wird im Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt. Die Armee verfügt über besondere Ressourcen, wie hochqualifizierte Militärkrankenhäuser und soziale Einrichtungen. Die Zollbehörden nehmen in einem außenhandelsorientierten Land wie Algerien eine wichtige Funktion wahr. Da in Algerien gewaltige Import- und Exportvolumina umgesetzt werden, ist die Anfälligkeit für Korruption hoch (GIZ 12.2016a).

Straffreiheit bleibt ein Problem (USDOS 11.3.2020). Übergriffe und Rechtsverletzungen der Sicherheitsbehörden werden entweder nicht verfolgt oder werden nicht Gegenstand öffentlich gemachter Verfahren (ÖB 11.2019). Das Strafgesetz enthält Bestimmungen zur Untersuchung von Missbrauch und Korruption und die Regierung veröffentlicht Informationen bzgl. disziplinärer oder rechtlicher Maßnahmen gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2016a): Algerien - Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/algerien/geschichte-staat/, Zugriff 29.5.2019

- ÖB - Österreichische Botschaft Algier (11.2019): Asylländerbericht Algerien

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Algeria, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ALGERIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 17.3.2020

Folter und unmenschliche Behandlung

Die Verfassung verbietet Folter und unmenschliche Behandlung (AA 25.6.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, ÖB 11.2019). Unmenschliche oder erniedrigende Strafen werden gesetzlich nicht angedroht. Das traditionelle islamische Strafrecht (Scharia) wird in Algerien nicht angewendet (AA 25.6.2019). Menschenrechtsorganisationen haben seit 2015 nicht mehr über Fälle berichtet, in denen Übergriffe gegen Personen in Gewahrsam bis hin zu Folter durch die Sicherheitsdienste beklagt werden (AA 25.6.2019). Menschenrechtsaktivisten berichten, dass die Polizei gelegentlich exzessive Gewalt gegen Verdächtige, einschließlich Protestierende, anwendet (USDOS 11.3.2020).

Das Strafmaß für Folter liegt zwischen 10 und 20 Jahren. Im Jahr 2019 hat das Justizministerium keine Zahlen zur Strafverfolgung gegen Beamte veröffentlicht. Menschenrechtsaktivisten gaben an, dass die Polizei manchmal übermäßige Gewalt gegen Verdächtige einschließlich Demonstranten anwendet (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (25.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014264/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Demokratischen_Volksrepublik_Algerien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_25.06.2019.pdf, Zugriff 27.11.2019

- ÖB - Österreichische Botschaft Algier (11.2019): Asylländerbericht Algerien.

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Algeria, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ALGERIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 17.3.2020

Korruption

Gesetzlich sind zwar bis zu zehn Jahre Haft für behördliche Korruption vorgesehen, jedoch wird das Gesetz von der Regierung nicht effektiv durchgesetzt. Korruption bleibt ein Problem. Manchmal üben Beamte straflos korrupte Praktiken aus (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Das dem Justizministerium unterstellte Zentralbüro zur Bekämpfung der Korruption ist das hauptverantwortliche Regierungsorgan (GIZ 12.2016a). Korruption in der Regierung beruht hauptsächlich auf mangelnden transparenten Strukturen (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 29.4.2020). Auf dem Corruption Perceptions Index für 2019 liegt Algerien auf Platz 106 von 180 untersuchten Staaten (TI 23.1.2020).

Im Laufe des Jahres 2019 wurden Geschäftsleute und Spitzenpolitiker mit Verbindungen zum Bouteflika-Clan angeklagt (DF 14.12.2019). Algerische Gerichte verhängten in der Woche der Präsidentschaftswahl am 12.12.2019 schwere Gefängnisstrafen in hochkarätigen Korruptionsprozessen gegen 14 ehemalige hohe Beamte (Guardian 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019, Standard 12.12.2019). Diese Urteile werden von den Demonstranten als eine hochrangige Säuberung in einem Kampf zwischen immer noch mächtigen Regimeinsidern gesehen (Guardian 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019), währen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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