TE OGH 2021/1/20 3Ob152/20d

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.01.2021
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Präsidentin Hon.-Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende sowie den Hofrat Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F*****, vertreten durch Dr. Sven Rudolf Thorstensen, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei S***** SE, *****, vertreten durch DLA Piper Weiss-Tessbach Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 42.458,55 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 16. Juni 2020, GZ 3 R 34/20z-38, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 29. Jänner 2020, GZ 41 Cg 59/18t-34, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst dahin wird zu Recht erkannt, dass das klageabweisende Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 8.149,58 EUR (hierin enthalten 881,43 EUR USt und 2.861 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]       Die E***** GmbH (im Folgenden: E&S) war eine gewerbliche Vermögensberaterin. Für sie tätige Vermittler vertrieben ua Kommanditbeteiligungen („geschlossene Fonds“ [„S*****“]), „gebrauchte Lebensversicherungen“ (Secondhand-Polizzen [„H*****“]) und Gold- und Silbersparpläne [„E*****“] als Anlageprodukte.

[2]       Der Kläger erwarb im Jahr 2011 über Beratung der für E&S tätigen Vermittlerin R***** A***** eine Beteiligung an einem geschlossenen Immobilienfonds (S***** 1 GmbH & Co KG) in Höhe eines Nominales von 30.000 EUR plus 5 % Agio.

[3]       E&S hat mit der Beklagten am 6. September 2012 eine Versicherungs-Rahmenvereinbarung zur Vermögensschadenhaftpflicht für Wertpapiervermittler und Vermögensberater der Kooperationspartner mit einer Vordeckung für alle Verstöße, die im Zeitraum von drei Jahren vor dem Versicherungsbeginn vom jeweiligen Versicherungsnehmer gesetzt wurden, abgeschlossen. Aufgrund dieser Rahmenvereinbarung ist die Beklagte (ua) Haftpflichtversicherer der vertraglich gebundenen Vermittlerin R***** A*****. In beiden Versicherungsverträgen wurde die Geltung der Allgemeinen Bedingungen für die Berufshaftpflichtversicherungen (ABHV/EBHV) vereinbart. Diese lauten auszugsweise wie folgt:

Artikel 9

Verhalten des Versicherungsnehmers während der Laufzeit des Vertrages

1. Obliegenheiten

Als Obliegenheiten deren Verletzung die Leistungsfreiheit des Versicherungsnehmers gemäß § 6 VersVG bewirkt, werden bestimmt

[…]

1.4. Der Versicherungsnehmer hat den Versicherer umfassend und unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche ab Kenntnis zu informieren, und zwar schriftlich, falls erforderlich auch fernmündlich oder fernschriftlich.

Insbesondere sind anzuzeigen:

1.4.1 der Versicherungsfall

1.4.2 die Geltendmachung einer Schadenersatzforderung

[…]

1.4.4 alle Maßnahmen Dritter zur gerichtlichen Durchsetzung von Schadenersatzforderungen.

1.5. Der Versicherungsnehmer hat den Versicherer bei der Feststellung und Erledigung oder Abwehr des Schadens zu unterstützen.

[…]

1.5.3 Der Versicherungsnehmer ist nicht berechtigt ohne vorherige Zustimmung des Versicherers einen Schadenersatzanspruch ganz oder zum Teil anzuerkennen – es sei denn, der Versicherungsnehmer konnte die Anerkennung nicht ohne offenbare Unbilligkeit verweigern – oder zu vergleichen.

[…]

[4]       Ab Dezember 2014 war die E&S mit etwa 400 nach und nach eingebrachten Klagen von Anlegern wegen behaupteter Fehlberatung bei der Vermittlung von S*****-, E*****- und H*****-Anlageprodukten konfrontiert. Die überwiegende Anzahl dieser Verfahren endete mit einem Zuspruch an den jeweiligen Kläger, teilweise unter Annahme eines Mitverschuldens des Geschädigten, wobei in allen Verfahren die im Einzelfall zu beantwortende Frage des Vorliegens eines Beratungsfehlers geprüft werden musste. Dies wusste auch der Geschäftsführer der E&S. Grund für deren Unterliegen in zahlreichen Prozessen war, dass einige Berater das Totalverlustrisiko, das diesen Produkten innewohnte, verharmlost hatten. Die Beklagte wurde von all diesen Verfahren informiert, teils durch die E&S und teils durch den Versicherungsmakler, der der E&S die Versicherung bei der Beklagten vermittelt hatte.

[5]       In diesem Zusammenhang kam es auch zu Gesprächen zwischen der E&S und der Beklagten bezüglich einer allfälligen Deckung der Ansprüche, wobei die Beklagte dieser ablehnend gegenüberstand.

[6]       Mit Schreiben vom 13. April 2016 teilte die Rechtsvertreterin der Beklagten einer für die E&S einschreitenden Rechtsanwaltskanzlei unter dem Betreff „Ablehnung der Deckung“ (ua) mit, dass nach Ansicht der Beklagten „im gegenständlichen Schadensfall [nämlich dem
– nicht den Kläger betreffenden – H*****-Schadenskomplex] kein Versicherungsschutz besteht“. Die Beklagte berief sich in diesem Zusammenhang darauf, dass die E&S den Vertrieb der hoch umstrittenen H*****-Produkte von 2010 bis Mai 2011 vorsätzlich verschwiegen habe, obwohl es sich um wesentliche gefahrenerhöhende Umstände gehandelt habe, bei deren Offenlegung die Beklagte den Versicherungsvertrag nicht abgeschlossen hätte. Auf der zweiten Seite des Schreibens fasste der Vertreter der Beklagten zusammen: „[…] bestehen keine Deckungsansprüche [der E&S] aus der bei unserer Mandantin unterhaltenen Vermögensschadenhaftpflicht-Polizze. Dies gilt freilich nicht nur für den H*****-Schadenskomplex, sondern auch für die gegen [E&S] erhobenen Schadenersatzansprüche im Zusammenhang mit der Vermittlung von Beteiligungen an S*****-Fonds sowie der Vermittlung der Produkte des E***** […]“.

[7]       Am 11. Mai 2016 teilte die Beklagte der E&S mit, sie könne wegen ihrer generellen Deckungsablehnung keine Weisungen im Hinblick auf die Führung von Haftpflichtprozessen erteilen.

[8]       Da die E&S aufgrund der Deckungsablehnung nicht mehr in der Lage war, die anhängigen Verfahren zu finanzieren, brachte sie im Mai 2016 betreffend alle drei von ihr vermittelten Produktkategorien jeweils eine Deckungsklage gegen die Beklagte ein.

[9]       Mit Beschluss vom 31. August 2016 wurde über das Vermögen der E&S das Insolvenzverfahren eröffnet. Die vom Kläger im Insolvenzverfahren angemeldete Forderung wurde vom Masseverwalter zunächst bestritten und in der Folge im Teilbetrag von 26.468,08 EUR anerkannt. Im Zuge der nachfolgenden Korrespondenz mit der Beklagten hielt der Masseverwalter zu der von ihm vorgenommenen Prüfung der angemeldeten Forderungen in Bezug auf die S*****-Produkte fest, dass das Zurechtbestehen der Forderungen vom subjektiven Kenntnisstand des jeweiligen Anlegers über Risiko und Wesen des Produkts abhängig sei. Die Beklagte erwiderte, dass sie mangels hinreichender Sachverhaltskenntnis die Begründetheit der Schadenersatzansprüche nicht prüfen könne und daher deren Anerkennung nicht zustimme. Auch in der Folge wies sie auf die Notwendigkeit der Einzelfallprüfungen hin. Die bereits anhängigen Verfahren über die Deckungsklagen setzte der Masseverwalter nicht fort.

[10]     Im Mai 2017 wurden die Ansprüche der E&S gegen die Beklagte aufgrund des Haftpflichtversicherungsvertrags gemäß § 119 Abs 5 IO aus dem Insolvenzverfahren ausgeschieden und der Schuldnerin zur freien Verfügung überlassen. Davon hatten sowohl die E&S als auch die Beklagte Kenntnis. Nach Rechtskraft dieses Beschlusses wurden unzählige Klagen von Anlegern gegen die E&S neu eingebracht bzw aufgrund des Insolvenzverfahrens unterbrochene Verfahren fortgesetzt.

[11]     Der Geschäftsführer der E&S informierte die Beklagte daraufhin mit E-Mail vom 13. November 2017 (ua) wie folgt: „[…] Zahlreiche Kunden versuchen nun ihre Ansprüche klagsweise gegen den Masseverwalter bzw die Haftpflichtversicherung durchzusetzen. […] Aus diesem Grund werden zahlreiche der Ihnen bereits gemeldeten und bekannten Verfahren gegen [E&S] fortgeführt. Darüber hinaus wird eine große Zahl an neuen Klagen gegen [E&S] eingebracht. Ziel der Rechtsvertreter der Kunden [...] ist es, ein Versäumungsurteil gegen [E&S] zu erwirken, um gegen die Haftpflichtversicherung vorgehen zu können. Aufgrund der fehlenden finanziellen und personellen Mittel ist [E&S] nicht in der Lage, sich anwaltlich vertreten zu lassen, die Klagen zu beantworten oder an den Gerichtsverhandlungen teilzunehmen.

Wir ersuchen Sie, uns mitzuteilen, ob eine Meldung der Verfahren an die [Beklagte] notwendig ist und wie diese zu erfolgen hat. Wir möchten darauf hinweisen, dass eine Übermittlung sämtlicher Gerichtsdokumente sowie eine Prüfung der Höhe der Forderungen durch [E&S] aufgrund der fehlenden finanziellen, technischen und personellen Mittel nicht möglich ist.

Vielen Dank für Ihre Rückmeldung im Voraus.“

[12]     Der Vertreter der Beklagten antwortete dem Geschäftsführer der E&S mit E-Mail vom 24. November 2017 (ua) wie folgt:

„[…] Uns ist allerdings nicht klar, weshalb in diesen Verfahren eine externe anwaltliche Vertretung erforderlich sein sollte. Soweit infolge der Bestreitung von behaupteten Schadensersatzansprüchen ehemaliger Kunden durch den Insolvenzverwalter der E&S [...] Klagen anhängig gemacht bzw. fortgeführt wurden, hat [der Insolvenzverwalter] bislang jeweils […] Klageabweisung beantragt. Es kann also nach unserer Kenntnis keine Rede davon sein, dass es der E&S nicht möglich wäre, sich gegen die Klagen zu verteidigen. Für uns ist nicht ersichtlich, inwiefern und aus welchem Grund sich hieran zukünftig etwas ändern sollte.

Im Übrigen sehen wir nicht, dass etwaige (Versäumnis-)Urteile zugunsten ehemaliger E&S-Kunden diesen einen Zugriff auf die von E&S behaupteten Deckungsansprüche gegen unsere Mandantin ermöglichen würden. Zwar trifft es zu, dass der Insolvenzverwalter sowohl die (angeblichen) Deckungsansprüche der E&S unter der ehemals bei unserer Mandantin unterhaltenen Vermögensschadenhaftpflichtpolice als auch die behaupteten Ansprüche als weitere Versicherungsnehmerin unter den Policen der ehemaligen E&S-Vermittler gemäß § 119 Abs 5 IO ausgeschieden hat.

Wie Ihnen bekannt sein dürfte, hat unsere Mandantin indes gegen die behaupteten Deckungsansprüche aus der E&S-Police die Einrede der Anfechtbarkeit wegen arglistiger Täuschung erhoben. Diese Einrede würde unsere Mandantin auch gegenüber etwaigen Inanspruchnahmen durch ehemalige E&S-Kunden erheben. Entsprechendes gilt für die behaupteten Ansprüche als weitere Versicherungsnehmerin unter den Vermittlerpolizzen, da die Rahmenvereinbarung zur E&S-Police, aus der sich die Stellung der E&S als weitere Versicherungsnehmerin unter den Vermittlerpolizzen ergibt, aus denselben Gründen anfechtbar ist wie die E&S-Police. Im Übrigen sei angemerkt, dass uns bisher keine Inanspruchnahmen unserer Mandantin durch ehemalige E&S-Kunden bekannt sind.

Abschließend bitten wir darum, uns über die anhängigen Verfahren gegen E&S in geeigneter Form unterrichtet zu halten. [...]“

[13]     Darauf reagierte der Geschäftsführer von E&S nicht mehr. Er leitete ab diesem Zeitpunkt keine Klagen und sonstigen Schriftstücke mehr an die Beklagte weiter, obwohl er über einen Computer und auch eine E-Mail-Adresse verfügte. Es wäre ihm möglich gewesen, mit geringem Aufwand die Beklagte auch weiterhin über die anhängigen Verfahren samt Bekanntgabe des Gerichts und der Aktenzahl zu informieren. Er prüfte die Klagen nicht, sondern nahm sie bloß zur Kenntnis und traf für sämtliche Verfahren die Entscheidung, Versäumungsurteile gegen die E&S ergehen zu lassen. Er wusste damals, dass das Ergebnis insbesondere jener Verfahren, die die S*****-Produkte betrafen, vom konkreten Beratungsgespräch abhängig war. Es war ihm auch bewusst und er nahm in Kauf, dass der Beklagten aufgrund der Nichtinformation die Möglichkeit genommen werde, die Ansprüche abzuwehren, und dass ihr dadurch ein Schaden entstehen könne.

[14]     Mit seiner am 20. März 2018 beim Erstgericht eingebrachten Klage begehrte der Kläger von der E&S den Betrag von 36.397,60 EUR sA Zug um Zug gegen Übertragung seiner Treugeberstellung bezüglich der von ihm erworbenen Kommanditbeteiligung bei sonstiger Exekution in den Deckungsanspruch gegen die Beklagte. Eine Streitverkündung erfolgte in diesem Verfahren nicht; der Geschäftsführer der E&S leitete auch diese Klage nicht an die Beklagte weiter, sondern ließ ein Versäumungsurteil ergehen. Der Geschäftsführer der E&S wusste nicht, ob der Anspruch des Klägers tatsächlich berechtigt war oder nicht. Er nahm in Kauf, dass ein Versäumungsurteil ergeht, obwohl die Prüfung des Anspruchs, bei der es auf den tatsächlichen Kenntnisstand des Klägers (und damit auf das Vorliegen eines Beratungsfehlers) angekommen wäre, ergeben hätte können, dass die eingeklagte Forderung ganz oder teilweise unberechtigt sei. Dem Geschäftsführer der E&S war bewusst und er fand sich damit ab, dass dadurch das Interesse der Beklagten, den Klageanspruch abzuwehren, nicht gewahrt werden würde und ihr ein Schaden entstehen könnte.

[15]     Nachdem die Beklagte aufgrund von Exekutionsverfahren von den vorangegangenen Klagen vermeintlich geschädigter Anleger (ua jener des Klägers) Kenntnis erlangt hatte, forderte sie die E&S mit Schreiben vom 9. Juli 2018 auf, Informationen und Unterlagen zu den Schadensfällen zu erteilen, um im Fall einer Versicherungsdeckung, die allerdings bestritten werde, einen Verteilungsplan nach § 156 Abs 3 VersVG erstellen zu können. Die E&S kam dieser Aufforderung nicht nach. Ein weiteres gleichlautendes Schreiben vom 3. Oktober 2018 beantwortete ein von der E&S beauftragter Rechtsanwalt dahin, dass die Beklagte ohnehin über die vermeintlichen Kundenansprüche laufend informiert worden sei; er verwies hinsichtlich der angeforderten Unterlagen an den Masseverwalter und machte die weitere Informationserteilung durch die E&S von der Leistung eines Kostenersatzes abhängig.

[16]     Der Kläger begehrt im Drittschuldnerprozess
– nach Forderungspfändung und Überweisung – von der Beklagten die Zahlung von 42.458,55 EUR sA Zug um Zug gegen Übertragung seiner Treugeberstellung sowie seiner Rechte und Pflichten aus der Kommanditbeteiligung infolge fehlerhafter Beratung durch die für die E&S tätig gewesene Vermittlerin. Die Beklagte sei über alle bis zur Insolvenzeröffnung gegen E&S anhängig gewordenen Verfahren informiert worden, habe aber immer Deckung abgelehnt und nie Bereitschaft gezeigt, sich an den gegen E&S geführten Verfahren zu beteiligen. E&S sei deshalb auch berechtigt gewesen, (ua) im Haftpflichtprozess des Klägers ein Versäumungsurteil ergehen zu lassen. Dieses Verhalten sei auch nicht grob fahrlässig gewesen, habe doch der Insolvenzverwalter nach Prüfung den Anspruch des Klägers anerkannt.

[17]     Die Beklagte wendete insbesondere ein, dass sie mangels Streitverkündung an das Ergebnis des Haftpflichtprozesses nicht gebunden und außerdem leistungsfrei sei, weil ihre Versicherungsnehmerin E&S mehrere Obliegenheitsverletzungen zu vertreten habe. Insbesondere habe E&S die Beklagte nicht über den Versicherungsfall und die Geltendmachung der Schadenersatzforderung (ua) durch den Kläger informiert, und dazu auch keinerlei Informationen oder Unterlagen zur Verfügung gestellt. E&S habe auch gegen das Regulierungsverbot verstoßen, indem sie ein Versäumungsurteil habe ergehen lassen.

[18]     Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus noch die Negativfeststellung, wonach nicht feststellbar sei, ob die Beklagte bei einer Verständigung über das vom Kläger eingeleitete Verfahren diesem auf Seiten der E&S als Nebenintervenientin beigetreten wäre und das Ergehen eines Versäumungsurteils verhindert hätte. Mangels (Gelegenheit zur) Beteiligung der Beklagten am Haftpflichtprozess gegen die E&S komme die vom Kläger angenommene Bindungswirkung des Versäumungsurteils nicht in Betracht. Die E&S habe eine Obliegenheitsverletzung begangen, indem sie die Beklagte nicht von der Prozessführung des Klägers informiert und ein Versäumungsurteil gegen sich ergehen habe lassen. Die Beklagte habe keine auf die Ansprüche des Klägers bezogene Deckungsablehnung erklärt; vielmehr habe sie (auch) nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ihr Interesse an der weiteren Verständigung über anhängige Verfahren bekundet. Sie habe auch eine vollständige Information benötigt, um über den Schadensfall disponieren zu können. Hätte sie diese erhalten, hätte sie geeignete Maßnahmen zur Schadensabwehr treffen können. Abgesehen davon, dass die E&S der Beklagten durch die Nichtverständigung die Möglichkeit genommen habe, eine Säumnisentscheidung zu verhindern und den Anspruch inhaltlich prüfen zu lassen, habe der Kläger auch nicht beweisen können, dass die Obliegenheitsverletzung vom Versicherungsnehmer weder vorsätzlich noch grob fahrlässig begangen worden sei; vielmehr sei nach den Feststellungen von einem bedingten Schädigungsvorsatz des Geschäftsführers der E&S auszugehen, sodass dem Kläger der Kausalitätsgegenbeweis gar nicht offen stehe. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn die Ansprüche des Klägers gegen die E&S berechtigt gewesen seien. Entscheidend für die Frage des Vorsatzes sei nämlich der Kenntnisstand der Versicherungsnehmerin bei der Entscheidung, ein Versäumungsurteil ergehen zu lassen. Die E&S habe außerdem gegen Art 9 Punkt 1.5 der ABHV/EBHV verstoßen, indem sie der Beklagten der von dieser für die Erstellung eines Verteilungsplans nach § 156 Abs 3 VersVG benötigten Informationen nicht erteilt habe.

[19]     Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge, hob das Urteil des Erstgerichts auf und trug diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Die vom Erstgericht georteten Obliegenheitsverletzungen der E&S könnten die Klageabweisung nicht tragen, sodass auch die – bekämpfte – Negativfeststellung über einen allfälligen Streitbeitritt der Beklagten nicht entscheidungswesentlich sei. Die Beklagte habe die Deckung allfälliger Schadenersatzansprüche von Kunden aller drei von der E&S vertriebenen Anlageprodukte generell und nachhaltig abgelehnt, und zwar sowohl vor der Insolvenzeröffnung gegenüber der E&S als auch in der Folge gegenüber dem Masseverwalter und nach Ausscheiden der Ansprüche aus dem Massevermögen neuerlich gegenüber der E&S, zuletzt, indem sie in einem Antwort-E-Mail vom 24. November 2017 in Aussicht gestellt habe, bei einer Inanspruchnahme durch Kunden der E&S im Wege der Drittschuldnerklage auch diesen die Einrede der Anfechtbarkeit des Versicherungsvertrags wegen arglistiger Täuschung entgegenzuhalten. Diese Haltung habe die Beklagte nie geändert, weshalb keine Obliegenheit der E&S mehr bestanden habe, sie von der Einbringung einzelner Schadenersatzklagen, so auch von jener des Klägers, zu verständigen. Der E&S, auf die damit die alleinige Prozessführungsbefugnis übergegangen sei, sei es auch zugestanden, ein Versäumungsurteil gegen sich ergehen zu lassen. Diese Form der Schadensregulierung durch die E&S sei nicht grob fahrlässig gewesen, weil die Beklagte trotz Verständigung von der Situation des Geschäftsführers der E&S mit E-Mail vom 13. November 2017 in ihrer Antwort vom 24. November 2017 in keiner Weise zu erkennen gegeben habe, an einer Abwehr von Ansprüchen gegen die E&S mitwirken zu wollen. Auch die vom Erstgericht bejahte weitere Obliegenheitsverletzung liege nicht vor. Das Erstgericht werde daher im fortgesetzten Verfahren die weiteren Einwände der beklagten Drittschuldnerin, insbesondere den zentralen Einwand des arglistigen Verschweigens gefahrenerhöhender Umstände durch E&S als Versicherungsnehmerin bei Vertragsabschluss, zu prüfen und neuerlich zu entscheiden haben.

[20]     Das Berufungsgericht ließ den Rekurs zu, weil die in Frage stehenden Obliegenheiten einer vermögenslosen Schuldnerin nach Ausscheiden ihrer Ansprüche aus der Konkursmasse gegenüber ihrer Vermögensschadenhaftpflicht-versicherung nach deren pauschaler Deckungsablehnung Gegenstand zahlreicher gleichgelagerter Verfahren gegen die Beklagte seien.

[21]     Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der Beklagten wegen unrichtiger rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das erstinstanzliche Urteil vollinhaltlich zu bestätigen.

[22]     In seiner Rekursbeantwortung beantragt der Kläger, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[23]     Der Rekurs ist zulässig und berechtigt.

[24]     1. Außerhalb von – hier nicht in Betracht kommenden – gesetzlichen Sonderregelungen bestehen zwischen dem geschädigten Dritten (hier: Kläger) und dem Versicherer keine Rechtsbeziehungen, weshalb der Dritte keinen unmittelbaren gesetzlichen Anspruch und kein Klagerecht gegen den Versicherer hat. Der Geschädigte muss deshalb zur Durchsetzung des Deckungsanspruchs des Versicherungsnehmers diesen Anspruch pfänden und sich überweisen lassen, um gegen den Versicherer vorgehen zu können. Dies ist hier geschehen. Im Rechtsstreit des Geschädigten gegen den Versicherer stehen diesem dann alle Einwendungen wie gegen den Versicherungsnehmer offen, vor allem der Einwand der Leistungsfreiheit. Das vom Kläger gegen die Versicherungsnehmerin E&S erwirkte Versäumungsurteil hat mangels Aufforderung zum Streitbeitritt keine Bindungswirkung zum Nachteil der Beklagten und führte nicht zu einem Verlust von Einwendungen, die der Beklagten gegen ihren Versicherungsnehmer zustehen (7 Ob 204/19d mwN).

[25]     2.1. Die Versicherungsnehmerin E&S war nach dem Eintritt des Versicherungsfalls zufolge Art 9 Punkt 1.4.1, 1.4.2 und 1.4.4 ABHV/EBHV – bei sonstiger Leistungsfreiheit des Versicherers gemäß § 6 VersVG – zur Anzeige und Schadensmeldung an die Beklagte verpflichtet.

[26]     2.2. Gemäß § 6 Abs 3 VersVG tritt im Fall der Verletzung dieser Obliegenheit die vereinbarte Rechtsfolge der Leistungsfreiheit nur dann nicht ein, wenn die Verletzung weder auf Vorsatz noch auf grober Fahrlässigkeit beruht. Wird die Obliegenheit nicht mit dem Vorsatz verletzt, die Leistungspflicht des Versicherers zu beeinflussen oder die Feststellung solcher Umstände zu beeinträchtigen, die erkennbar für die Leistungspflicht des Versicherers bedeutsam sind, so bleibt der Versicherer zur Leistung verpflichtet, soweit die Verletzung weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung oder den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung Einfluss hatte.

[27]     2.3. Der Versicherer braucht nur den objektiven Tatbestand einer Obliegenheitsverletzung nachzuweisen, während es Sache des Versicherungsnehmers ist, zu behaupten und zu beweisen, dass er die ihm angelastete Obliegenheitsverletzung weder vorsätzlich noch grob fahrlässig begangen habe (RS0081313 [T1, T32]).

[28]     2.4. Im Fall einer grob fahrlässig begangenen Obliegenheitsverletzung steht dem Versicherungsnehmer grundsätzlich der Kausalitätsgegenbeweis offen, nämlich dass die Verletzung weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung und den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung einen Einfluss hatte (RS0116979; RS0081313 [T21]). Hat der Versicherungsnehmer allerdings seine Obliegenheit mit dem Vorsatz verletzt, die Beweislage nach dem Versicherungsfall zu Lasten des Versicherers zu manipulieren (sogenannter „dolus coloratus“), ist der Kausalitätsgegenbeweis jedenfalls ausgeschlossen und der Anspruch verwirkt (RS0081253 [T10]; RS0109766 [T2]).

[29]     3.1. Obliegenheiten des Versicherungsnehmers nach Eintritt des Versicherungsfalls dienen dem Zweck, den Versicherer vor vermeidbaren Belastungen sowie ungerechtfertigten Ansprüchen (RS0116978) und vor betrügerischen Machenschaften zu schützen (RS0080833). Durch die Aufklärung soll der Versicherer in die Lage versetzt werden, sachgemäße Entscheidungen über die Behandlung des Versicherungsfalls zu treffen (vgl RS0080203). Es genügt, dass die begehrte Information abstrakt zur Aufklärung des Schadenereignisses geeignet ist (vgl RS0080783 ua).

[30]     3.2. Die Obliegenheit der Verständigung des Versicherers von der gerichtlichen Geltendmachung des Schadenersatzanspruchs endet nach der Rechtsprechung allerdings mit der Ablehnung des Entschädigungsanspruchs durch den Versicherer, weil sich das der Vereinbarung zugrundeliegende Ziel, die Leistung des Versicherers zu ermöglichen oder zu erleichtern, danach nicht mehr erreichen lässt (RS0080446). Anderes gilt freilich dann, wenn der Versicherer zu erkennen gibt, er lege trotz der Ablehnung noch Wert auf Erfüllung der Obliegenheiten, und dies zumutbar erscheint (7 Ob 319/01i = RS0080446 [T2]).

[31]     4. Der Oberste Gerichtshof hatte sich bereits mehrfach mit gleichgelagerten Fällen von Drittschuldnerklagen geschädigter Kunden der E&S gegen die auch hier Beklagte zu befassen (7 Ob 204/19d, 7 Ob 149/20t, 7 Ob 152/20h, 7 Ob 153/20f, 7 Ob 181/20y).

[32]     4.1. In den vier zuletzt genannten Entscheidungen wurde jeweils auf Basis des auch hier festgestellten Sachverhalts zum Schreiben der Beklagtenvertreter vom 13. April 2016 an die Rechtsvertreter der E&S ausgeführt, dass sich dieses hauptsächlich mit dem H*****-Schadenskomplex befasste, ausschließlich den Rechtsstandpunkt der Beklagten zu den unmittelbar mit E&S getroffenen vertraglichen Regelungen beinhaltete und Argumente zum Gegenstand hatte, die das (vorvertragliche) Verhalten von E&S im Zusammenhang mit der Rahmenvereinbarung betrafen, während es sich mit keinem Wort auf Ansprüche einzelner, vermeintlich geschädigter Kunden von E&S bzw den ihr zuzurechnenden Beratern bezog, weshalb aus ihm nicht ableitbar ist, dass die Beklagte auf Informationen über die Verfolgung von Schadenersatzansprüchen durch einzelne Geschädigte verzichten und damit die Möglichkeit deren Abwehr aus Gründen aufgeben wollte, die sich aus der Rechtsbeziehung zwischen diesen und E&S bzw deren Berater ergeben könnten.

[33]     4.2. In diesen Entscheidungen wurde weiters ausgesprochen, dass in der Antwort der Beklagten auf das Begleitschreiben des Insolvenzverwalters zum übermittelten Anmeldungsverzeichnis, wonach sie mangels Sachverhaltskenntnis nicht in der Lage sei, seine Ausführungen zur Begründetheit der Schadenersatzansprüche zu überprüfen und sie deren Anerkennung nicht zustimme, nicht zum Ausdruck kommt, dass die Beklagte kein Interesse mehr an Informationen hätte. Zusammenfassend wurde festgehalten, dass der von der Beklagten im Schreiben vom 13. April 2016 (untechnisch) im Betreff als „Deckungsablehnung“ bezeichnete Rechtsstandpunkt eine Antwort auf die Gesamtbeschreibung mehrerer Schadenskomplexe war und ausschließlich Argumente betraf, die sich auf das Verhalten von E&S im Vorfeld des Abschlusses der Versicherungs-Rahmenvereinbarung bezogen; hingegen erfolgte keine Deckungsablehnung hinsichlich eines einzelnen Schadenfalls und es lag auch auf der Hand, dass laufende Informationen über alle andrängenden Geschädigten für eine sachgemäße Entscheidung der Beklagten über die Behandlung dieser Versicherungsfälle von maßgeblicher Bedeutung gewesen wären. Damit lässt sich aber aus diesem Schreiben kein (auch nur schlüssiger) Verzicht der Beklagten auf weitere Informationen über einzelne Schadensfälle ableiten.

[34]     4.3. Aus diesem Sachverhalt und dem weiteren Umstand, dass die Beklagte auch im Gefolge des E-Mails des Geschäftsführers der E&S vom 13. November 2017 nie auf weitere Informationen über weitere Schadensfälle verzichtete, der Geschäftsführer der E&S aber nach dem Schreiben der Beklagten vom 24. November 2017 nicht nur keine „Übermittlung sämtlicher Gerichtsdokumente“ und keine „Prüfung der Höhe der Forderungen“ vornahm, sondern die Beklagte schlichtweg überhaupt nicht mehr informierte, wurde in den genannten Entscheidungen der rechtliche Schluss gezogen, dass an einer Obliegenheitsverletzung durch die Versicherungsnehmerin iSd Art 9 Punkt 1.4.1, 1.4.2 und 1.4.4 ABHV/EBHV kein Zweifel bestehen kann und das Verhalten des Geschäftsführers der E&S im Gefolge des Schreibens der Beklagten vom 24. November 2017 darüber hinaus jedenfalls einen bedingten Schädigungsvorsatz im Sinn des dolus coloratus erkennen lässt, weil bei bewusster und genereller Ablehnung auch einfachster Möglichkeiten einer Einzelfallprüfung und zugleich unterlassener Information der Beklagten über anhängig gemachte Klagen deren mögliche Schädigung durch unberechtigte Klagen und Versäumungsurteile geradezu unabwendbar machte, weshalb der Kausalitätsgegenbeweis ausgeschlossen und die Beklagte leistungsfrei ist.

[35]     5. Der Senat schließt sich dieser Beurteilung an. Damit ist aber auch im vorliegenden Fall in Stattgebung des Rekurses das erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen.

[36]     6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.

Textnummer

E130683

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0030OB00152.20D.0120.000

Im RIS seit

18.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

18.02.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten