TE OGH 2020/9/23 7Ob153/20f

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Veröffentlicht am 23.09.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E***** H*****, vertreten durch Dr. Sven Rudolf Thorstensen, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei S***** SE, *****, vertreten durch DLA Piper Weiss-Tessbach Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 15.546,87 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 3. Juni 2020, GZ 4 R 201/19i-26, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 14. Oktober 2019, GZ 23 Cg 50/18m-19, aufgehoben wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst dahin zu Recht erkannt, dass das klageabweisende Urteil des Erstgerichts einschließlich seiner Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei jeweils binnen 14 Tagen die mit 1.522,32 EUR (darin 253,72 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 2.527,56 EUR (darin 182,76 EUR USt und 1.431 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die E***** & S***** GmbH (folgend nur: E&S) war eine gewerbliche Vermögensberaterin und L***** K***** seit ihrer Gründung ihr Geschäftsführer. Für E&S tätig gewordene Vermittler vertrieben (ua) Kommanditbeteiligungen („geschlossene Fonds“ [„S*****“]), „gebrauchte Lebensversicherungen“ („Secondhand-Polizzen“ [„H*****“]) sowie Gold- und Silbersparpläne [„E*****“] als Anlageprodukte.

E&S hat mit der Beklagten eine Versicherungs-Rahmenvereinbarung zur Vermögensschadenhaftpflicht für Wertpapiervermittler und Vermögensberater der Kooperationspartner abgeschlossen, welche auszugsweise wie folgt lautete:

[…]

1. Versicherungsnehmer

1.1 Versicherungsnehmer sind die einzelnen zu dieser Rahmenvereinbarung angemeldeten Vermittler. …

[…]

2. Inhalt und Umfang

2.1 Der Versicherungsschutz umfasst im Rahmen der behördlichen Genehmigungen alle Tätigkeiten und Eigenschaften des Versicherungsnehmers/Versicherten je nach Anmeldung

a) als Wertpapiervermittler […]

b) als gewerblicher Vermögensberater […]

[…]

3. Vertragsgrundlagen

3.1 Analoge Anwendungen der Allgemeinen Bedingungen für die Berufshaftpflichtversicherung (C_ABHV/C_EBHV neue Fassung Vermögensberater 2012 Beilage), sowie nachstehende besondere Vereinbarungen

[...]

Die in der Versicherungs-Rahmenvereinbarung bezeichneten C_ABHV/EBHV lauten auszugsweise:

„Artikel 1

Versichertes Risiko; […]

1. Inhalt und Umfang

Das versicherte Risiko ergibt sich aus der in der Polizze festgelegten Risikobeschreibung und umfasst alle Eigenschaften, Rechtsverhältnisse und Tätigkeiten, zu denen der Versicherungsnehmer aufgrund der für seinen Beruf oder Betrieb geltenden Rechtsnormen berechtigt ist.

[…]

Artikel 2

Versicherungsfall

1. Definition

Versicherungsfall ist der Verstoß (Handlung oder Unterlassung), welcher aus dem versicherten Risiko entspringt und aus welchem dem Versicherungsnehmer Schadenersatzpflichten (Art. 3. Pkt. 1) erwachsen oder erwachsen könnten.

2. Serienschaden

[…]

2.4 Ferner gelten als ein Versicherungsfall Verstöße, die auf gleichartigen, in zeitlichem Zusammenhang stehenden Ursachen beruhen, wenn zwischen diesen Ursachen ein rechtlicher, wirtschaftlicher oder technischer Zusammenhang besteht.

[…]

Artikel 3

Leistungsversprechen des Versicherers

1. Leistungsversprechen

Im Versicherungsfall übernimmt der Versicherer

1.1 die Erfüllung von Schadenersatzpflichten […]

[…]

Artikel 9

Verhalten des Versicherungsnehmers während der Laufzeit des Vertrages

1. Obliegenheiten

Als Obliegenheiten deren Verletzung die Leistungsfreiheit des Versicherungsnehmers gemäß § 6 VersVG bewirkt, werden bestimmt

[…]

1.4 Der Versicherungsnehmer hat den Versicherer umfassend und unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche ab Kenntnis zu informieren, und zwar schriftlich, falls erforderlich auch fernmündlich oder fernschriftlich.

Insbesondere sind anzuzeigen:

1.4.1 der Versicherungsfall

1.4.2 die Geltendmachung einer Schadenersatzforderung

[…]

1.4.4 alle Maßnahmen Dritter zur gerichtlichen Durchsetzung von Schadenersatzforderungen

[…]

1.5.3 Der Versicherungsnehmer ist nicht berechtigt ohne vorherige Zustimmung des Versicherers einen Schadenersatzanspruch ganz oder zum Teil anzuerkennen – es sei denn, der Versicherungsnehmer konnte die Anerkennung nicht ohne offenbare Unbilligkeit verweigern – oder zu vergleichen.

[…]“

Der Kläger erwarb im Jahre 2010 über Beratung einer damals für E&S tätigen Vermittlerin eine Beteiligung an der S***** GmbH & Co KG in Höhe eines Nominales von 10.000 EUR plus 5 % Agio.

Von Ende 2014 bis zur Eröffnung des Konkurses über das Vermögen der E&S am 31. 8. 2016 kam es zu mehreren hundert Gerichtsverfahren, in denen Anleger im Zusammenhang mit den vermittelten Produkten „S*****“, „H*****“ und „E*****“ Schadenersatzansprüche gegen E&S wegen Fehlberatungen geltend machten. E&S verkündete jeweils den konkreten Vermittlern den Streit und berichtete der Beklagten über die Klagen und teilweise – jedenfalls soweit bedingte Vergleiche geschlossen wurden – über die Verfahrensausgänge. Zum Teil meldeten auch die Berater der Beklagten nach der Streitverkündung den konkreten Schadensfall. Im Kontakt zu Beratern ersuchte die Beklagte um vollständige Information und erklärte, keine Notwendigkeit für einen Streitbeitritt zu sehen.

         Die Beklagtenvertreter teilten Rechtsvertretern der E&S mit Schreiben vom 13. 4. 2016 unter dem Betreff „Ablehnung der Deckung“ (ua) mit, dass:

„[…] im gegenständlichen Schadensfall (gemeint: [den nicht den Kläger betreffenden] H*****-Schadenskomplex [und mit die direkten Vereinbarungen mit der E&S betreffenden Argumenten]) kein Versicherungsschutz besteht. […]“

Auf der zweiten Seite des Schreibens fasst der Vertreter der Beklagten zusammen:

„[…] bestehen keine Deckungsansprüche Ihrer Mandantin (gemeint: E&S) aus der bei unserer Mandantin unterhaltenen Vermögensschadenhaftpflicht-Polizze. Dies gilt freilich nicht nur für den H*****-Schadenskomplex, sondern auch für die gegen Ihre Mandantin erhobenen Schadenersatzansprüche im Zusammenhang mit der Vermittlung von Beteiligungen an S*****-Fonds sowie der Vermittlung der Produkte des E***** […]“

Zu Verhandlungsberichten konkreter Fälle gab die Beklagte gegenüber E&S keine inhaltliche Stellungnahme ab und erklärte dabei unter anderem für Verfahren betreffend S*****-Produkte keine Weisungen zu erteilen, so etwa mit E-Mail vom 11. 5. 2016 in einer Nachricht an den Rechtsanwalt von E&S.

E&S brachte im Mai 2016 drei Deckungsklagen gegen die Beklagte – ua hinsichtlich der S*****-Produkte – ein, in denen die Beklagte den mit E&S abgeschlossenen Versicherungsvertrag wegen Arglist anfocht. Diese Verfahren wurden infolge Konkurseröffnung unterbrochen und vom Insolvenzverwalter nicht fortgeführt.

Der Kläger meldete seine mit 11.990,85 EUR bezifferte Forderung aus dem Beteiligungserwerb als Insolvenzforderung an.

Der Insolvenzverwalter übermittelte das Anmeldungsverzeichnis – einschließlich der zuvor noch nicht klageweise geltend gemachten Forderung des Klägers – an die Beklagte. In einem Begleitschreiben führte der Insolvenzverwalter aus, dass die Feststellung der Berechtigung der Ansprüche in einer Einzelfallprüfung erfolgen müsse.

Die Beklagte entgegnete, dass ihr keine ausreichenden Informationen zu den Schadensfällen vorlägen und erklärte, keine Zustimmung zu einer Anerkennung von Ansprüchen zu erteilen. Im Zuge weiterer Korrespondenz mit dem Insolvenzverwalter nahm die Beklagte auf die Notwendigkeit von Einzelfallprüfungen weiter Bezug. Die vom Kläger angemeldete Forderung hat der Insolvenzverwalter letztlich anerkannt.

Das Insolvenzgericht schied die der E&S aus den Versicherungsverträgen mit der Beklagten zukommenden Ansprüche gemäß § 119 Abs 5 IO aus dem Insolvenzverfahren aus und überließ sie E&S zur freien Verfügung. Davon verständigte der Insolvenzverwalter die Beklagte.

Der Geschäftsführer von E&S informierte die Beklagte mit E-Mail vom 13. 11. 2017 (ua) wie folgt:

„[...]

Zahlreiche Kunden versuchen nun ihre Ansprüche klagsweise gegen den Masseverwalter bzw die Haftpflichtversicherung durchzusetzen. […] Aus diesem Grund werden zahlreiche der Ihnen bereits gemeldeten und bekannten Verfahren gegen (E&S) fortgeführt. Darüber hinaus wird eine große Zahl an neuen Klagen gegen (E&S) eingebracht. Ziel der Rechtsvertreter der Kunden [...] ist es, ein Versäumungsurteil gegen (E&S) zu erwirken um gegen die Haftpflichtversicherung vorgehen zu können. Aufgrund der fehlenden finanziellen und personellen Mittel ist (E&S) nicht in der Lage, sich anwaltlich vertreten zu lassen, die Klagen zu beantworten oder an den Gerichtsverhandlungen teilzunehmen.

Wir ersuchen Sie, uns mitzuteilen, ob eine Meldung der Verfahren an die (Beklagte) notwendig ist und wie diese zu erfolgen hat. Wir möchten darauf hinweisen, dass eine Übermittlung sämtlicher Gerichtsdokumente sowie eine Prüfung der Höhe der Forderungen durch (E&S) aufgrund der fehlenden finanziellen, technischen und personellen Mittel nicht möglich ist.

Vielen Dank für Ihre Rückmeldung im Voraus.“

Der Vertreter der Beklagten antwortete dem Geschäftsführer der E&S mit E-Mail vom 24. 11. 2017 (ua) wie folgt:

„[…] Uns ist allerdings nicht klar, weshalb in diesen Verfahren eine externe anwaltliche Vertretung erforderlich sein sollte. Soweit infolge der Bestreitung von behaupteten Schadensersatzansprüchen ehemaliger Kunden durch den Insolvenzverwalter der E&S [...] Klagen anhängig gemacht bzw. fortgeführt wurden, hat [der Insolvenzverwalter] bislang jeweils […] Klageabweisung beantragt. Es kann also nach unserer Kenntnis keine Rede davon sein, dass es der E&S nicht möglich wäre, sich gegen die Klagen zu verteidigen. Für uns ist nicht ersichtlich, inwiefern und aus welchem Grund sich hieran zukünftig etwas ändern sollte.

Im Übrigen sehen wir nicht, dass etwaige (Versäumnis-)Urteile zugunsten ehemaliger E&S-Kunden diesen einen Zugriff auf die von E&S behaupteten Deckungsansprüche gegen unsere Mandantin ermöglichen würden. Zwar trifft es zu, dass der Insolvenzverwalter sowohl die (angeblichen) Deckungsansprüche der E&S unter der ehemals bei unserer Mandantin unterhaltenen Vermögensschadenhaftpflichtpolice als auch die behaupteten Ansprüche als weitere Versicherungsnehmerin unter den Policen der ehemaligen E&S-Vermittler gemäß § 119 Abs 5 IO ausgeschieden hat.

Wie Ihnen bekannt sein dürfte, hat unsere Mandantin indes gegen die behaupteten Deckungsansprüche aus der E&S-Police die Einrede der Anfechtbarkeit wegen arglistiger Täuschung erhoben. Diese Einrede würde unsere Mandantin auch gegenüber etwaigen Inanspruchnahmen durch ehemalige E&S-Kunden erheben. Entsprechendes gilt für die behaupteten Ansprüche als weitere Versicherungsnehmerin unter den Vermittlerpolizzen, da die Rahmenvereinbarung zur E&S-Police, aus der sich die Stellung der E&S als weitere Versicherungsnehmerin unter den Vermittlerpolizzen ergibt, aus denselben Gründen anfechtbar ist wie die E&S-Police. Im Übrigen sei angemerkt, dass uns bisher keine Inanspruchnahmen unserer Mandantin durch ehemalige E&S-Kunden bekannt sind.

Abschließend bitten wir darum, uns über die anhängigen Verfahren gegen E&S in geeigneter Form unterrichtet zu halten. [...]“

Darauf reagierte der Geschäftsführer von E&S nicht. Diesem wurden nach Ausscheidung der Ansprüche aus dem Insolvenzverfahren von Anlegern gegen E&S neu eingebrachte Klagen zugestellt. Der Geschäftsführer informierte die Beklagte über diese Klagen nicht, auch nicht über jene des Klägers. Er nahm diese ohne Prüfung der Berechtigung im Einzelfall zur Kenntnis und fasste für alle Klagen den generellen Entschluss, die vorbereitenden Tagsatzungen unbesucht und gegen E&S – wie auch im Haftpflichtprozess des Klägers – Versäumungsurteile ergehen zu lassen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung, ein Versäumungsurteil gegen E&S ergehen zu lassen, wusste er daher nicht, ob der Anspruch des Klägers berechtigt war oder nicht. Die Beklagte erlangte von dem vom Kläger geführten Haftpflichtprozess erst durch die Forderungsexekution Kenntnis, mit der der Kläger aufgrund des von ihm gegen E&S erlangten Versäumungsurteils deren Ansprüche gegen die Beklagte aus der Haftpflichtversicherung gepfändet hatte und sich hatte überweisen lassen.

Der Geschäftsführer von E&S war sich der Verpflichtung aus dem Versicherungsvertrag zur Information der Beklagten bewusst. Dennoch unterließ er jegliche weitere Information über die Verfahren gegenüber der Beklagten, selbst eine schlichte Information durch Versand von E-Mail-Nachrichten. Dabei wusste er, dass es zu Versäumungsurteilen kommen werde, und er ging auch von einer Bindung der Beklagten an diese Entscheidungen aus. Er nahm keinen Abgleich zwischen den Klagen und den Erklärungen des Insolvenzverwalters oder eine Plausibilitätsprüfung aufgrund der Ergebnisse aus anderen Gerichtsverfahren zur betroffenen Beraterin vor. Dabei wusste er, dass aufgrund einer unterbliebenen Einzelfallprüfung der klageweise geltend gemachten Ansprüche die Haftung möglicherweise unberechtigt festgestellt werden würde und sich daraus ein Schaden für die Beklagte ergeben könne.

Nachdem die Beklagte aufgrund von Exekutionsverfahren von den vorangegangenen Klagen vermeintlich geschädigter Anleger (ua jener des Klägers) Kenntnis erlangt hatte, forderte sie E&S auf, Informationen und Unterlagen zu den Schadensfällen zu erteilen. Eine solche Informationserteilung machte E&S von der Leistung von Kostenersatz abhängig und übermittelte in der Folge keine Informationen „zu den konkreten Anspruch“ (gemeint wohl: „Ansprüchen“).

Der Kläger begehrte im Drittschuldnerprozess von der Beklagten die Zahlung von 15.546,87 EUR sA Zug um Zug gegen Übertragung seiner Treugeberstellung sowie seiner Rechte und Pflichten aus der Kommanditbeteiligung an der S***** GmbH & Co KG infolge Aufklärungspflichtverletzungen der für E&S tätig gewesenen Beraterin. Er brachte – soweit für das Rekursverfahren relevant – vor, dass die Beklagte über alle bis zur Insolvenzeröffnung gegen E&S anhängig gewordenen Verfahren informiert worden sei, aber immer Deckung abgelehnt und nie Bereitschaft gezeigt habe, sich an den gegen E&S geführten Verfahren zu beteiligen. E&S sei deshalb auch berechtigt gewesen, (ua) im Haftpflichtprozess des Klägers ein Versäumungsurteil ergehen zu lassen. Dieses Verhalten sei auch nicht grob fahrlässig gewesen, habe doch der Insolvenzverwalter nach Prüfung den Anspruch des Klägers anerkannt.

Die Beklagte beantragte Abweisung des Klagebegehrens und wandte – soweit für das Rekursverfahren relevant – ein, dass sie mangels Streitverkündung an das Ergebnis des Haftpflichtprozesses nicht gebunden und leistungsfrei sei, weil ihre Versicherungsnehmerin E&S mehrere Obliegenheitsverletzungen zu vertreten haben. E&S habe ihre Aufklärungsobliegenheiten mehrfach verletzt, insbesondere die Beklagte nicht über den Versicherungsfall und die Geltendmachung der Schadenersatzforderung (ua) durch den Kläger informiert, und dazu auch keinerlei Informationen oder Unterlagen zur Verfügung gestellt. E&S habe gegen das Regulierungsverbot verstoßen, indem die Versicherungsnehmerin ein Versäumungsurteil habe ergehen lassen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es ging vom eingangs wiedergegebenen Sachverhalt aus und traf noch die Negativfeststellung, wonach es nicht feststehe, ob die Beklagte, im Fall der rechtzeitigen Verständigung von den gegen E&S erhobenen Klagen eine Rechtsanwaltskanzlei mit der Vertretung in diesen Verfahren beauftragt, den Auftrag erteilt hätte, den Verfahren beizutreten und verhindert hätte, dass Versäumungsurteile ergehen. Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, dass die Beklagte jedenfalls für den den Kläger betreffenden Schadensfall keine Deckungsablehnung erklärt und überdies bekundet habe, an künftigen Verständigungen interessiert zu sein. E&S habe daher die Obliegenheit zur Aufklärung über den vom Kläger eingeleiteten Haftpflichtprozess verletzt. Da der Geschäftsführer von E&S die Haftpflichtklagen generell und ohne Anspruchsprüfung im Einzelfall ignoriert habe, sei von bedingtem Schädigungsvorsatz der Versicherungsnehmerin auszugehen, welcher den Kausalitätsgegenbeweis ausschließe. Die Verletzung der Obliegenheit zur Verständigung vom Haftpflichtprozess habe die Leistungsfreiheit der Beklagten zur Folge. Die Klage sei daher abzuweisen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers dahin Folge, dass es das Urteil des Erstgerichts aufhob und diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auftrug. Es vertrat die Rechtsansicht, dass das Erstgericht angesichts der pauschalen und nachdrücklichen Deckungsablehnung der Beklagten auch für die S*****-Produkte zu Unrecht eine Obliegenheitsverletzung durch E&S bejaht habe. Der vom Erstgericht angenommene Abweisungsgrund trage somit nicht und es sei daher auch die – bekämpfte – Negativfeststellung über einen allfälligen Streitbeitritt der Beklagten nicht entscheidungswesentlich. Die Schadensregulierung durch E&S in Form von Versäumungsurteilen sei nicht als (grob) fahrlässig zu beurteilen, weil die Beklagte nicht einmal vor Konkurseröffnung rechtskräftig gewordene klagestattgebende Urteile von Anlegern gegen die E&S reguliert habe. Insbesondere aus dem Informationsschreiben des Geschäftsführers der E&S vom 13. 11. 2017 folge, dass dieser die Beklagte über die maßgeblichen Umstände informiert und – entgegen der Ansicht des Erstgerichts – eine Schädigung der Beklagten gerade nicht in Kauf genommen habe. Das Erstgericht werde daher im fortgesetzten Verfahren die weiteren Einwände der beklagten Drittschuldnerin, insbesondere den zentralen Einwand des arglistigen Verschweigens gefahrenerhöhender Umstände durch E&S als Versicherungsnehmerin bei Vertragsabschluss, zu prüfen und neuerlich zu entscheiden haben.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs zulässig sei. Die in Frage stehenden Obliegenheiten einer vermögenslosen Schuldnerin nach Ausscheiden ihrer Ansprüche aus der Konkursmasse gegenüber ihrer Vermögensschadenhaftpflichtversicherung nach deren pauschaler Deckungsablehnung rechtfertigten angesichts zahlreicher gleichgelagerter Verfahren gegen die Beklagte die Zulassung des Rekurses.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der Beklagten wegen unrichtiger rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das erstinstanzliche Urteil vollinhaltlich zu bestätigen.

Der Kläger erstattete eine Rekursbeantwortung mit dem Antrag, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; er ist auch berechtigt.

1. Vorauszuschicken ist, dass sich der Senat bereits in 7 Ob 204/19d mit einer Rechtssache befasst hat, die einen in weiten Bereichen identen Sachverhalt betroffen hat und der ebenfalls vom hier einschreitenden Klagevertreter gegen die durch die nunmehrigen Rechtsbeistände vertretene Beklagte geführt wurde. Auf die dort ergangene, den genannten und auch dort eingeschrittenen Beteiligten bekannte Entscheidung wird verwiesen. Die vom Senat dort aufgezeigte Rechtsansicht gilt – mutatis mutandis – auch für den hier zu beurteilenden Fall.

2. Der Kläger als Geschädigter hat gegen die Versicherungsnehmerin (E&S) durch deren Untätigkeit ein Versäumungsurteil gegen diese erwirkt und sich aufgrund dessen den Deckungsanspruch pfänden und sich überweisen lassen, um gegen die Beklagte (Versicherer) vorgehen zu können. Im Rechtsstreit des Geschädigten gegen den Versicherer stehen diesem dann alle Einwendungen wie gegen den Versicherungsnehmer offen, vor allem jene der Leistungsfreiheit. Das vom Kläger gegen die Versicherungsnehmerin E&S erwirkte Versäumungsurteil hat mangels Aufforderung zum Streitbeitritt keine Bindungswirkung zum Nachteil der Beklagten und führte nicht zu einem Verlust von Einwendungen, die der Beklagten gegen ihren Versicherungsnehmer zustehen (zu all dem bereits 7 Ob 204/19d mwN).

3. Die Versicherungsnehmerin E&S trafen Obliegenheiten nach § 6 Abs 3 VersVG. Sie war nach dem Eintritt des Versicherungsfalls zufolge Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV/EBHV zur Anzeige und Schadensmeldung verpflichtet.

4.1. Der Versicherer braucht nur den objektiven Tatbestand einer Obliegenheitsverletzung nachzuweisen, während es Sache des Versicherungsnehmers ist, zu behaupten und zu beweisen, dass er die ihm angelastete Obliegenheitsverletzung weder vorsätzlich noch grob fahrlässig begangen habe (RS0081313).

4.2. Dass – bei grob fahrlässiger Begehung einer Obliegenheitsverletzung – die Verletzung weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung und den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung einen Einfluss gehabt hat (Kausalitätsgegenbeweis; RS0116979), ist ebenfalls vom Versicherungsnehmer im Verfahren erster Instanz zu behaupten und zu beweisen (RS0081313). Der Kausalitätsgegenbeweis ist strikt zu führen; es ist nicht etwa nur die Unwahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs darzutun (RS0079993).

4.3. Wenn der Versicherungsnehmer eine Obliegenheit mit dem Vorsatz verletzt, die Beweislage nach dem Versicherungsfall zu Lasten des Versicherers zu manipulieren (sogenannter „dolus coloratus“), ist der Kausalitätsgegenbeweis ausgeschlossen und der Anspruch verwirkt (RS0081253 [T10]; RS0109766 [T2]).

5.1. Obliegenheiten nach dem Versicherungsfall dienen dem Zweck, den Versicherer vor vermeidbaren Belastungen sowie ungerechtfertigten Ansprüchen (RS0116978) und vor betrügerischen Machenschaften zu schützen (RS0080833). Durch die Aufklärung soll der Versicherer in die Lage versetzt werden, sachgemäße Entscheidungen über die Behandlung des Versicherungsfalls zu treffen (vgl RS0080203). Es genügt, dass die begehrte Information abstrakt zur Aufklärung des Schadenereignisses geeignet ist (vgl RS0080783; RS0080833, RS0080205 [T1, T2]).

5.2. Zur Obliegenheit der Verständigung des Versicherers von der gerichtlichen Geltendmachung des Schadenersatzanspruchs hat der Fachsenat allerdings judiziert, dass diese mit der Ablehnung des Entschädigungsanspruchs durch den Versicherer ende, weil sich das der Vereinbarung zugrundeliegende Ziel, die Leistung des Versicherers zu ermöglichen oder zu erleichtern, danach nicht mehr erreichen lasse (RS0080446). Anders sei dies jedoch dann, wenn der Versicherer zu erkennen gebe, er lege trotz der Ablehnung noch Wert auf Erfüllung der Obliegenheiten, und dies zumutbar erscheine (7 Ob 319/01i). Daraus folgt für den vorliegenden Fall:

5.3. Das Schreiben der Beklagtenvertreter vom 13. 4. 2016 an die Rechtsvertreter der E&S befasste sich hauptsächlich mit dem H*****-Schadenskomplex, vermittelte ausschließlich den Rechtsstandpunkt der Beklagte zu den unmittelbar mit E&S getroffenen vertraglichen Regelungen und hatte Argumente zum Gegenstand, die das (vorvertragliche) Verhalten von E&S im Zusammenhang mit der Rahmenvereinbarung betrafen. Das Schreiben bezog sich dagegen mit keinem Wort auf Ansprüche einzelner, vermeintlich geschädigter Kunden von E&S bzw den ihr zuzurechnenden Beratern. Dieses Schreiben kann daher auch keinen Anhaltspunkt dafür liefern, dass die Beklagte auf Informationen über die Verfolgung von Schadenersatzansprüchen durch einzelne Geschädigte verzichten und damit die Möglichkeit deren Abwehr aus Gründen aufgeben wolle, die sich aus der Rechtsbeziehung zwischen diesen und E&S bzw deren Berater ergeben könnten. Überdies waren diese Informationen nicht zuletzt im Lichte der vereinbarten Serienschadenklausel für die verlässliche Beurteilung des Deckungsumfangs relevant.

5.4. Auf das Begleitschreiben des Insolvenzverwalters zum übermittelten Anmeldungsverzeichnis wies die Beklagte darauf hin, dass sie mangels Sachverhaltskenntnis nicht in der Lage sei, die Ausführungen des Insolvenzverwalters zur Begründetheit der Schadenersatzansprüche zu überprüfen und sie deren Anerkennung nicht zustimme. Dass die Beklagte an Informationen kein Interesse (mehr) habe, kommt damit nicht zum Ausdruck.

5.5. Im Zusammenhang zeigt sich also, dass der von der Beklagten im Schreiben vom 13. 4. 2016 (untechnisch) im Betreff als „Deckungsablehnung“ bezeichnete Rechtsstandpunkt eine Antwort war auf die Gesamtbeschreibung mehrerer Schadenskomplexe und ausschließlich Argumente betraf, die sich auf das Verhalten von E&S im Vorfeld des Abschlusses der Versicherungs-Rahmenvereinbarung bezogen. Im Schreiben erfolgte keine Deckungsablehnung hinsichlich eines einzelnen Schadenfalls und es liegt – nicht zuletzt aufgrund der Serienschadenklausel – auf der Hand, dass laufende Informationen über alle andrängenden Geschädigten für eine sachgemäße Entscheidung der Beklagten über die Behandlung dieser Versicherungsfälle von maßgeblicher Bedeutung war. Bei dieser Sachlage lässt sich aus besagtem Schreiben kein (auch nur schlüssiger) Verzicht der Beklagten auf weitere Informationen über einzelne Schadenfälle ableiten.

5.6. Der Geschäftsführer der E&S hat dann mit E-Mail vom 13. 11. 2017 – zusammengefasst – zahlreich andrängende (vermeintlich) Geschädigte angekündigt, um Bekanntgabe ersucht, ob und wie eine Mitteilung der Verfahren an die Beklagte erfolgen solle, und er hat darauf hingewiesen, „dass eine Übermittlung sämtlicher Gerichtsdokumente sowie eine Prüfung der Höhe der Forderungen durch die (E&S) aufgrund der fehlenden finanziellen, technischen und personellen Mittel nicht möglich“ sei. Darauf hat die Beklagte mit Schreiben vom 24. 11. 2017 abschließend darum gebeten, „uns über die anhängigen Verfahren gegen E&S in geeigneter Form unterrichtet zu halten“.

5.7. Aus dem beschriebenen Korrespondenzverlauf folgt als Zwischenergebnis, dass die Beklagte nie auf (weitere) Informationen über einzelne Schadenfälle verzichtet hat. Dagegen hat der Geschäftsführer der E&S nach dem Schreiben der Beklagten vom 24. 11. 2017 nicht nur keine „Übermittlung sämtlicher Gerichtsdokumente“ und keine „Prüfung der Höhe der Forderungen“ vorgenommen, sondern die Beklagte schlichtweg überhaupt nicht mehr informiert. An einer von E&S zu vertretenden Verletzung ihrer Anzeigeobliegenheiten nach Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV/EBHV kann daher kein Zweifel bestehen.

6.1. Zu den Anzeigeobliegenheiten nach Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV/EBHV zog das Erstgericht aufgrund näher beschriebener Verhaltensweisen des Geschäftsführers der E&S den Schluss, dieser habe eine Schädigung der Beklagten billigend in Kauf genommen und daher dolus coloratus zu vertreten, weshalb der Kausalitätsgegenbeweis ausgeschlossen sei.

6.2. Der Kläger hat in seiner Berufung jene Feststellungen, die nach Ansicht des Erstgerichts den Schluss auf vorliegenden dolus coloratus tragen, nicht wirksam bekämpft, sondern insoweit nur auf Mitteilungen des Geschäftsführers der E&S an die Beklagte verwiesen, wonach diese über keine finanziellen Mittel verfüge, die Klagen zu beantworten sowie die Höhe der Ansprüche kontrollieren zu können, weshalb er Versäumungsurteile ergehen lassen werde. Daraus leiteten der Kläger und diesem folgend das Berufungsgericht ab, E&S habe die Beklagte durch ihr Verhalten nicht schädigen wollen. Diese rechtliche Schlussfolgerung vermag der erkennende Senat im Ergebnis nicht zu teilen:

6.3.1. Der Geschäftsführer der E&S erhielt die nach Ausscheidung der Ansprüche aus dem Insolvenzverfahren neu eingebrachten Klagen von Anlegern gegen E&S zugestellt. Die Beklagte informierte er nicht über diese Klagen, auch nicht über jene des Klägers. Er nahm diese ohne Prüfung der Berechtigung im Einzelfall zur Kenntnis und fasste für alle Klagen den generellen Entschluss, die vorbereitenden Tagsatzungen unbesucht und gegen E&S – so auch im Haftpflichtprozess des Klägers – Versäumungsurteile ergehen zu lassen. Da der Geschäftsführer keinen Abgleich zwischen den Klagen und den Erklärungen des Insolvenzverwalters und auch keine Plausibilitätsprüfung aufgrund der Ergebnisse aus anderen Gerichtsverfahren zur betroffenen Beraterin vornahm, wusste er, dass aufgrund einer unterbliebenen Einzelfallprüfung der klageweise geltend gemachten Ansprüche die Haftung möglicherweise unberechtigt festgestellt werden würde und sich daraus ein Schaden für die Beklagte ergeben könne.

6.3.2. Ob dieses Verhalten des Geschäftsführers der E&S schon Schädigungsabsicht darstellte, was der Kläger und das Berufungsgericht nicht erschließen wollten, ist nicht entscheidend. Ein bedingter Schädigungsvorsatz im Sinn des dolus coloratus stellt dieses Verhalten des Geschäftsführers der E&S aber jedenfalls dar, ist doch bei bewusster und genereller Ablehnung auch einfachster Möglichkeiten einer Einzelfallprüfung und zugleich unterlassener Information der Beklagten über anhängig gemachte Klagen deren mögliche Schädigung durch unberechtigte Klagen und Versäumungsurteile geradezu unabwendbar. Die Ansicht des Erstgerichts, dass deshalb der Kausalitätsgegenbeweis ausgeschlossen ist, erweist sich damit als zutreffend, was zur Leistungsfreiheit der Beklagten führt.

7. Der Vollständigkeit halber kann noch ergänzend darauf hingewiesen werden, dass mit der vom Kläger angestrebten Feststellung, die Beklagte wäre selbst im Fall ihrer Verständigung über seine Klage dem Haftpflichtverfahren nicht beigetreten und hätte dort ein Versäumungsurteil nicht verhindert, auch der Kausalitätsgegenbeweis nicht zu erbringen gewesen wäre. Die Verständigung des Versicherers von dem vom Kläger eingeleiteten Verfahren ermöglicht dem Versicherer zwar den Streitbeitritt, doch dieser ist nur eine Reaktionsmöglichkeit auf den vom Geschädigten behaupteten Versicherungsfall. Die Obliegenheiten nach Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV/EBHV sollen den Versicherer insgesamt in die Lage versetzen, sachgemäße Entscheidungen über die Behandlung des Versicherungsfalls zu treffen, also alle sinnvollen, auch außergerichtlichen Maßnahmen, insbesondere der Informations- und Beweismittelbeschaffung, wahrnehmen zu können. Die vom Kläger angestrebte Feststellung allein wäre daher für die Erbringung des Kausalitätsgegenbeweises nicht ausreichend (dazu schon 7 Ob 204/19d).

8. Im Ergebnis folgt:

8.1. Die Versicherungsnehmerin E&S hat ihre Obliegenheiten nach Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV/EBHV verletzt. E&S hat insoweit dolus coloratus zu vertreten und selbst der Kausalitätsgegenbeweis ließe sich mit der vom Kläger dazu angestrebten Feststellung nicht erbringen. Dies führt zur Leistungsfreiheit der Beklagten und zur Wiederherstellung des klageabweisenden Urteils des Erstgerichts.

9. Die Kostenentscheidung gründet auf § 41 Abs 1 ZPO (iVm § 50 ZPO).

Textnummer

E129677

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00153.20F.0923.000

Im RIS seit

17.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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