TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/25 W189 1267950-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.11.2020
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Entscheidungsdatum

25.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §8 Abs3a
AsylG 2005 §9 Abs2 Z3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z5
FPG §55

Spruch


W189 1267950-2/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.06.2020, Zl. 751221901-180150546, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Aberkennung des Status der Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z 1 und Z 2 AsylG 2005 erfolgt und das Einreiseverbot gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG 2005 erlassen wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Vater der damals minderjährigen Beschwerdeführerin (in der Folge: BF) stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 25.09.2004 einen Asylantrag.

2. Die damals minderjährige Beschwerdeführerin (in der Folge: BF) stellte nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester am 10.08.2005 durch ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin einen Asylantrag.

3. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs (in der Folge: AsylGH) vom 20.03.2009, Zl. D9 260867-0/2008/14E, wurde dem Vater der BF gem. § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt und gem. § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme, da ihm in seinem Herkunftsstaat als Familienangehöriger eines tschetschenischen Separatisten eine staatsfeindliche Gesinnung unterstellt werde, weshalb er verfolgt werde.

4. Mit Erkenntnis des AsylGH vom selben Tag, Zl. D9 267950-0/2008/10E, wurde der BF abgeleitet von ihrem Vater gem. § 7 AsylG 1997 sowie § 10 AsylG 1997 Asyl gewährt und gem. § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihr damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

5. Am 21.11.2017 wurde die BF vom LG für Strafsachen Wien zur Zl. 611 Hv 4/17y wegen des Verbrechens des (versuchten) Mordes nach §§ 15, 75 StGB unter Bedachtnahme auf § 5 Z 2 lit. a JGG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.

6. Mit Urteil des OLG Wien vom 09.02.2018 zur 21 Bs 2/18z wurde die Freiheitsstrafe auf fünf Jahre erhöht.

7. Am 23.05.2018 wurde die BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) in Anwesenheit ihrer Mutter als gesetzliche Vertreterin niederschriftlich einvernommen.

Die BF erklärte, dass sie die Einvernahme auf Deutsch führen wolle. Sie sei gesund, stehe aber in psychologischer Behandlung und nehme Medikamente. Sie sei ledig. Sie habe in Österreich die Volksschule und die Hauptschule besucht. Ein Jahr habe sie eine Schule für Kinderpädagogik und zuletzt eine islamische Fachschule für Sozialberufe besucht. Sie sei eine relativ gute Schülerin gewesen. Sie sei nicht Mitglied in einem Verein. Sie habe vor ihrer Inhaftierung österreichische und tschetschenische Freunde gehabt, mit denen sie ihre Freizeit gestaltet habe. Sie sei früher religiös gewesen und habe perfekt sein wollen, jedoch habe ihr dies nichts gebracht. Gott habe sie nicht von ihrer schlimmen Tat abhalten können. Sie sei nun „religiös ziemlich locker“, trage kein Kopftuch und bete nicht mehr.

Befragt sei die BF in Haft, weil sie ein Mädchen mit einem Messer verletzt habe. Befragt, weil die BF von zu Hause „weg“ habe wollen. Nach Haftentlassung wolle die BF eine Ausbildung machen und bei ihrer Mutter wohnen. Das Verhältnis zu ihr sei nun „sehr gut“. Die Familie besuche die BF in Haft und sie habe zu allen guten Kontakt.

Nach ihrer Heimat befragt, könne sie sich erinnern, dass sie „geschaukelt“ habe. Sie habe mit ihrer Mutter und ihrer großen Schwester zusammengelebt. Es sei recht schön gewesen. Das Verhältnis zu den Nachbarn sei in Ordnung gewesen. Sie wisse nicht viel über Russland. Es gebe Verwandte väterlicherseits in Russland, die sie aber nicht kenne und zu denen „wir“ keinen Kontakt hätten. Die Familie habe keine Besitztümer in Russland.

8. Mit Verfahrensanordnung vom 19.07.2018 wurden der BF die Länderfeststellungen der Staatendokumentation zur Russischen Föderation übermittelt sowie Fragen zu ihrem Familien- und Privatleben gestellt und eine Frist von einem Monat zur Stellungnahme bzw. Beantwortung gewährt, wovon nicht Gebrauch gemacht wurde.

9. Am 05.12.2019 wurde die BF aufgrund eines Beschlusses des OLG Wien vom 18.10.2019, Zl. 21 Bs 337/19s, bedingt aus der Haft entlassen.

10. Am 12.12.2019 wurde die BF neuerlich durch das BFA in Anwesenheit einer Vertrauensperson und ihres rechtlichen Vertreters niederschriftlich einvernommen.

Die BF habe in Tschetschenien keine Schule besucht. Ihre Muttersprache sei Tschetschenisch, sie spreche aber auch sehr gut Russisch, Deutsch und Englisch. Sie wohne nun nach Haftentlassung in einer betreuten Unterkunft des Verein XXXX . Ihre Mutter arbeite als Putzfrau, ihr Vater als Sicherheitsmann. Ihr Vater lebe bei einer anderen Frau. Die BF lebe von ihrer Rücklage aus der Haft und habe einen Antrag auf Unterstützung beim AMS gestellt. Sie sei nie erwerbstätig gewesen. Sie wolle nun eine Lehre machen. Sie sei in Haft von Sozialbetreuern, Pädagogen und dem psychologischen Dienst betreut worden. Es bestehe weiterhin soziale und psychologische Betreuung. Die BF nehme keine Medikamente. Sie fühle sich nun „gestärkter“ und selbstbewusster.

Die BF wisse nicht, ob ihr Vater Kontakt zu seiner Verwandtschaft in Russland habe. Die BF kenne diese nicht. Sie sei nie von Angehörigen in Russland besucht worden bzw. habe diese nie besucht. Sie sei seit ihrer Flucht nicht mehr in Russland gewesen. Ihre Eltern hätten aber in der russischen Botschaft in Wien einen Reisepass für sie beantragt, als sie 12 Jahre alt gewesen sei.

Auf Vorhalt einer nachhaltigen Verbesserung der Lage in Tschetschenien erklärte die BF, dass weiterhin Leute in Tschetschenien verschleppt werden würden. Die BF sei als straffällige Frau und Familienmitglied eines tschetschenischen Separatisten gefährdet. Sie habe in Russland niemanden.

Auf Vorhalt ihrer Straffälligkeit gab die BF zu Protokoll, dass sie nicht glaube, dass sie noch eine Gefahr darstelle. Sie werde gut betreut und sie werde „so etwas“ nie wieder machen. Sie werde nie wieder straffällig. Sie sehe das Unrecht der Tat ein und schäme sich dafür. Sie bereue ihre Tat.

11. Zu einem aus dem Akt nicht ersichtlichen Zeitpunkt langten beim BFA in Kopie folgende Unterlagen der BF ein: Der Konventionsreisepass, die Geburtsurkunde samt Übersetzung, ein Konvolut an Schulzeugnissen, eine Bestätigung über einen betreuten Wohnplatz, ein Antrag auf Arbeitslosengeld, sowie eine Bestätigung bzw. Beurteilung des psychologischen Dienstes der JA Schwarzau.

12. Am 19.12.2019 langte das jugendpsychiatrische Sachverständigenguten zur Strafsache der BF vom 22.08.2017 ein.

13. Mit Schreiben vom 04.02.2020 gab die BF eine Stellungnahme zu den Länderberichten sowie zu ihrem Privat- und Familienleben ab und legte ein Zertifikat über Absolvierung eines Kurses zur Qualifizierung als Lagerhelferin, eine Aufenthaltsbestätigung des Verein XXXX , eine Teilnahmebestätigung am Jugendcoaching und eine Mitteilung des AMS über den Anspruch auf Arbeitslosengeld vor.

14. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 02.06.2020 wurde der BF der mit Erkenntnis vom 20.03.2009 zuerkannte Status der Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aberkannt und festgestellt, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Der Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde ihr gem. § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gegen sie erlassen (Spruchpunkt IV.), die Unzulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt V.), eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.) und gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein fünfjähriges Einreiseverbot gegen sie erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass sich die Lage im Herkunftsstaat der BF seit Zuerkennung des Status der Asylberechtigten maßgeblich und nachhaltig geändert habe, weshalb ihr der Status abzuerkennen sei. Zudem sei die BF wegen eines besonders schweren Verbrechens verurteilt worden. Eine refoulementschutzrechtlich relevante Gefährdung im Falle einer Rückkehr nach Russland sei zwar aufgrund der massiven psychischen Belastung der BF gegeben, jedoch sei die BF aufgrund ihrer Straffälligkeit auch von der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten ausgeschlossen. Die BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe ihr Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der Straftat nicht entgegen. Eine Abschiebung der BF nach Russland sei jedoch im Sinne des § 8 Abs. 3a AsylG unzulässig. Die Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die die BF bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien. Da die BF aufgrund ihrer Verurteilungen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, sei zudem die Verhängung eines Einreiseverbotes geboten gewesen.

15. Mit Schriftsatz vom 30.06.2020 erhob die BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führte im Wesentlichen aus, dass die BF aufgrund ihrer Einstellung zur tschetschenischen Tradition und der Tatsache, dass sie in einem westlichen Land aufgewachsen sei, verfolgt werden würde. Es bestehe weiters kein Grund für die Versagung der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten. Schließlich würden trotz der Verurteilung ihre privaten und familiären Interessen an einem Verbleib in Österreich gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1 Zur Person der BF

Die BF ist russische Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tschetschenen sowie der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime an. Sie ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Sie spricht Deutsch, Englisch, Russisch und Tschetschenisch.

Die BF wurde in Gudermes, Republik Tschetschenien, geboren und kam als vierjähriges Kind nach Österreich.

Die Eltern und Geschwister sowie die Halbschwester der BF leben in Österreich. Ihre Eltern sind geschieden und leben getrennt. Ihre Mutter arbeitet als Putzfrau, ihr Vater als Sicherheitsmann. Die BF hat Verwandtschaft väterlicherseits in Russland, die sie nicht kennt und zu der sie keinen Kontakt hat.

Die BF absolvierte in Österreich die Volks- und Hauptschule. Sie besuchte danach ein Jahr lang eine Schule für Kinderpädagogik und wechselte daraufhin in eine islamische Fachschule für Sozialberufe, die sie bis zu ihrer Inhaftierung besuchte. Sie ging bislang keiner Erwerbstätigkeit nach. Sie hatte bis zu ihrer Verurteilung österreichische und tschetschenische Freunde. Sie ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation.

Die BF ist ledig und kinderlos.

Das jugendpsychiatrische Sachverständigengutachten zur BF vom August 2017 kam zum Schluss einer schweren emotionalen Störung des Jugendalters mit einer komplexen innerpsychischen Konfliktsituation. Zum Zeitpunkt der Aufnahme der BF in die JA Schwarzau im März 2018 wurde vom psychologischen Dienst der Haftanstalt der BF die Diagnose einer emotional instabilen Persönlichkeitsentwicklungsstörung gestellt. Diese konnte im Laufe der Haft stabilisiert werden. Die BF steht auch nach Haftentlassung in Psychotherapie. Sie nimmt keine Medikamente ein. Sie leidet an keiner lebensbedrohlichen Krankheit.

1.2. Zu den Gründen für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten

Mit Erkenntnis des AsylGH vom 20.03.2009, Zl. D9 260867-0/2008/14E, wurde dem Vater der BF gem. § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt und gem. § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme, da ihm in seinem Herkunftsstaat als Familienangehöriger eines tschetschenischen Separatisten eine staatsfeindliche Gesinnung unterstellt wurde, weshalb er verfolgt wurde.

Der BF wurde mit Erkenntnis des AsylGH vom 20.03.2009, Zl. D9 267950-0/2008/10E, gem. §§ 7 und 10 AsylG 1997 durch Erstreckung von ihrem Vater Asyl gewährt und gem. § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

1.3. Zur Straffälligkeit der BF

1.3.1. Die BF wurde am 21.11.2017 vom LG für Strafsachen Wien zur Zl. 611 Hv 4/17y wegen des Verbrechens des (versuchten) Mordes nach §§ 15, 75 StGB unter Bedachtnahme auf § 5 Z 2 lit. a JGG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.

Das Strafgericht sprach die BF schuldig, sie hat am 05.04.2017 in Wien versucht, eine Person zu töten, indem sie dem auf einer Parkbank seitlich liegenden Opfer viermal mit einem Küchenmesser mit einer Klingenlänge von acht Zentimetern in ihre linke Seite, ihren Rücken und ihren Oberschenkel stach, ihr anschließend nachlief und versuchte, weiterhin auf sie einzustechen.

Bei der Strafzumessung erschwerend gewertet wurde die heimtückische Begehungsweise (Anschleichen an das arglose Opfer von hinten). Mildernd gewertet wurden das volle und reumütige Geständnis der Angeklagten (auch zur subjektiven Tatseite), ihr bisher tadelloser Lebenswandel, der Umstand, dass es beim Versuch blieb, die äußerst ungünstigen Erziehungsverhältnisse, die teilweise Schadensgutmachung durch Bezahlung von EUR 3.000,- Schmerzengeld an das Opfer sowie das Alter der BF ganz knapp über der relevanten Straferhöhungsgrenze von 16 Jahren.

1.3.2. Das OLG Wien erhöhte die Freiheitsstrafe mit Urteil vom 09.02.2018 zur Zl. 21 Bs 2/18z auf fünf Jahre, da vor allem das Ausmaß der Schädigung bzw. der Gefährdung des Opfers in zu geringem Maß in die Erwägungen des Erstgerichts zur Strafhöhe eingeflossen seien.

1.3.3. Am 18.10.2019 beschloss das OLG Wien zur Zl. 21 Bs 337/19s die bedingte Entlassung der BF am 05.12.2019 – somit zur Halbstrafe – wobei die Probezeit mit fünf Jahren bestimmt wurde, Bewährungshilfe angeordnet wurde und die Weisungen erteilt wurden, dass die BF in einer betreuten Wohneinrichtung Aufenthalt zu nehmen habe, die bestehende Psychotherapie fortzusetzen und regelmäßige psychiatrische Verlaufskontrollen vorzunehmen habe sowie weiterhin die Betreuung des Jugendcoachings anzunehmen habe.

Begründend führte das OLG Wien im Wesentlichen aus, dass die BF die unbestritten schwerwiegende Straftat in einer schweren Adoleszenzkrise beging und sich in einer Familie befand, in der von einer inadäquaten intrafamiliären Kommunikation und einer feindlichen Ablehnung und Sündenbockzuweisung durch die Kindesmutter auszugehen war. Nach der Darstellung der Fachdienste der Justizanstalt ist von einer entsprechenden Nachreifung der Persönlichkeit der BF auszugehen und davon, dass die erteilten Weisungen bzw. die Anordnung der Bewährungshilfe spezialpräventiv ausreichend sind, wobei sich die BF zu diesen Weisungen auch bereit erklärte.

1.4. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status der Asylberechtigten

Die BF wurde von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt und bedeutet wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft.

Die BF unterliegt zudem in der Russischen Föderation keiner aktuellen Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation

Aus den vom BFA bereits ins Verfahren eingeführten, im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 27.03.2020 (in der Folge: LIB 2020) zitierten Länderberichten zur Lage in der Russischen Föderation ergibt sich Folgendes:

1.5.1. Sicherheitslage – Nordkaukasus

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden (SWP 4.2017).

Quellen:

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus

1.5.2. Rechtsschutz und Justizwesen in Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien „Ramzan sagt“ lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation

-        CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus

-        EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser)

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland

1.5.3. Allgemeine Menschenrechtslage in Tschetschenien

NGOs beklagen weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen zumeist Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten (ÖB Moskau 12.2019). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 13.2.2019). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird, und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. BAMF 11.2019).

In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte von Personen, die nicht aufgrund irgendwelcher politischer Aktivitäten, sondern aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 12.2019). Der regierungskritische tschetschenische Blogger Tumso Abdurachmanow ist nach eigenen Angaben in seinem polnischen Exil von einem bewaffneten Angreifer attackiert worden. Es sei ihm gelungen, den Angreifer zu überwältigen. Menschenrechtsgruppen verurteilten den Angriff als „Mordversuch“. Abdurachmanow betreibt bei YouTube einen Videokanal, der etwa 75.000 Abonnenten hat. In seinen Videos setzt er sich kritisch mit dem tschetschenischen Regionalpräsidenten Ramsan Kadyrow auseinander. Nach eigenen Angaben wurde er in Tschetschenien mit dem Tode bedroht, seit 2015 lebt er im Exil. Dies war nicht der erste Angriff auf einen Tschetschenen, der von Kadyrow als „störend“ empfunden wird, erklärte die russische Menschenrechtsorganisation Memorial. In den meisten Fällen würden die Ermordungen oder Mordversuche von „aus Tschetschenien entsandten Auftragsmördern“ in Moskau oder anderen russischen Regionen, aber auch in der Ukraine oder anderen europäischen Ländern ausgeführt. 2019 hatte die Ermordung eines Georgiers mit tschetschenischen Wurzeln im Berliner Tiergarten Aufsehen erregt. Das Opfer soll im sogenannten zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft haben. Laut Bundesanwaltschaft wurde der 40-Jährige von russischen Behörden als „Terrorist“ eingestuft und verfolgt. Ein dringend tatverdächtiger russischer Staatsangehöriger sitzt in Untersuchungshaft (AFP 27.2.2020). Anfang 2020 wurde ein anderer politischer Blogger aus Tschetschenien tot in einem Hotel in Frankreich aufgefunden. Imran Aliev (44) habe eine Kopfverletzung erlitten. Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Kawkaski Usel hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Bei Youtube hatte der Tschetschene unter dem Namen Mansur Staryj Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020).

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AFP – Agence France Presse (27.2.2020): Bewaffneter Angreifer attackiert tschetschenischen Exil-Blogger

-        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtinge (11.2019): Länderreport 21 Russische Föderation, LGBTI in Tschetschenien

-        Kleine Zeitung (3.2.2020): Gewalttat vermutet, Blogger aus Tschetschenien lag tot in Hotelzimmer

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

1.5.4. Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges

Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen (ÖB Moskau 12.2019). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020).

Quellen:

-        CACI – Central Asia-Caucasus Analyst (25.2.2020): Kadyrov Continues to Target Enemies Abroad

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

1.5.5. Frauen im Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien

Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019), aber auch in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan. Verlässliche Statistiken dazu gibt es kaum. Die Gewalt gegen Frauen bleibt in der Region ein Thema, dem vonseiten der Regional- und Zentralbehörden zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Erschwert wird die Situation durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach „Traditionen“ als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramzan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer „Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit“ (ÖB Moskau 12.2019). Die Heirat einer 17-jährigen Tschetschenin mit einem 47-jährigen örtlichen Polizeichef im Frühjahr 2015 gilt als Beispiel für die verbreitete Praxis von Zwangsehen. Außerdem weist sie auf eine Form der Polygamie hin, die zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich ist (AA 13.2.2019).

Unter sowjetischer Herrschaft waren tschetschenische Frauen durch die russische Gesetzgebung geschützt. Polygamie, Brautentführungen und Ehrenmorde wurden bestraft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, löste sich der Schutz durch russisches Recht für Frauen allmählich auf, gleichzeitig kam es zu einem stärkeren Einfluss von Adat und Scharia. Unter Kadyrow ist die tschetschenische Gesellschaft traditioneller geworden. Die Behandlung von Frauen, wie sie heute existiert, soll aber nie eine Tradition in Tschetschenien gewesen sein. Frauen sind sowohl unter islamischem Recht als auch im Adat hochgeschätzt (EASO 9.2014). Allerdings ist die Realität in Tschetschenien, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet und die Situation im Allgemeinen für Frauen schwierig ist. Auch die Religion ist ein Rückschlag für die Frauen und stellt sie in eine den Männern untergeordnete Position (EASO 9.2014, vgl. Welt.de 14.2.2017). Diese Entwicklungen erfolgten in den letzten Jahren. Es ist nicht klar, ob Scharia oder Adat wichtiger für die tschetschenische Gesellschaft sind. Jedoch kann nur das russische Recht Frauen effektiv schützen. Es wird auch berichtet, dass die Scharia immer wichtiger wird, und auch Kadyrow selbst – obwohl er sowohl Adat als auch Scharia betont – sich in letzter Zeit eher auf die Scharia bezieht. Das Adat-Recht dürfte aber besonders bei Hochzeitstraditionen eine dominante Rolle spielen (EASO 9.2014).

Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag (Welt.de 14.2.2017). Zivilgesellschaftliche Initiativen widmen sich der Unterstützung nordkaukasischer Frauen und bieten etwa psychologische, rechtliche und medizinische Hilfe an: z.B. die Organisationen „Women for Development“ und „SINTEM“ in Tschetschenien und „Mat‘ i Ditja“ (Mutter und Kind) in Dagestan (ÖB Moskau 12.2019). Im Jahr 2019 eröffnete in Tschetschenien die Organisation Women for Development - eine der ältesten und angesehensten Organisationen in Tschetschenien - mit Unterstützung des Zuschussprogramms für NGOs ein Krisenzentrum für Frauen. Es gab auch Pläne, ein Frauenhaus zu eröffnen; aufgrund der engen familiären Bindungen, die in der Republik herrschen, wäre es aber schwierig gewesen, die Einrichtung vor Männern und ihren Familien geheim zu halten, darum scheiterte dieses Vorhaben. Beamte haben das hohe Maß an Scheidung und häuslicher Gewalt anerkannt und ein Komitee zur Verhütung von Familienkonflikten unter dem Spirituellen Ausschuss der Muslime der Republik Tschetschenien eingerichtet. Mehrere NGOs, die Teil der Koalition der Frauen-NGOs im Nordkaukasus sind, arbeiten an den Themen häusliche Gewalt und Unterstützung für Frauen. „Zulässige“ Themen müssen jedoch in die allgemeine Logik traditioneller, kultureller, spiritueller, religiöser und nationaler Bräuche und Werte passen. Es ist auch wichtig anzumerken, dass die Mehrheit der NGO-Direktoren und Mitarbeiter in Tschetschenien Frauen sind. Der Ausweg aus der humanitären Nachkriegskrise lag direkt auf den Schultern der Frauen, da sich die Mehrheit der männlichen Bevölkerung nicht frei bewegen konnte und ständigen Bedrohungen und Kontrollen ausgesetzt war. Da Frauen in Tschetschenien, als Folge der lokalen traditionellen Kultur, als verantwortlich für Empathie und Fürsorge angesehen werden, sind sie diejenigen, die die meisten gemeinnützigen und sozialen Projekte zusammenstellen, als Psychologinnen arbeiten, sich freiwillig für Kinder engagieren und sich mit den Themen von Familien mit niedrigem Einkommen und Menschen mit Behinderungen beschäftigen (CSIS 1.2020).

In Dagestan werden Geschlechterfragen und Frauenrechte in der Arbeit von Malikat Jabirowas Organisation „Mat i Ditja“ (Mutter und Kind) sowie von der unabhängigen Journalistin Swetlana Anochina mit ihrem „Daptar“-Projekt und ihrer Gruppe „Väter und Töchter“ behandelt, obwohl diese Initiativen nicht die einzigen sind, die in diesem Bereich aktiv sind (CSIS 1.2020).

Vergewaltigung ist laut Artikel 131 des russischen Strafgesetzbuches ein Straftatbestand. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht als Vergewaltigung angesehen. Vergewaltigung ist in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet, sie passieren auch in Polizeistationen. Es handelt sich um ein Tabuthema in Tschetschenien. Einer vergewaltigten Frau haftet ein Stigma an. Sie wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn die Vergewaltigung publik wird. Auch die Familie würde isoliert und stigmatisiert werden und es ist nicht unüblich, dass die Familie eine vergewaltigte Frau wegschickt. Die vorherrschende Einstellung ist, dass eine Frau selbst schuld an einer Vergewaltigung sei. Bei Vergewaltigung von Minderjährigen gestaltet sich die Situation etwas anders. Hier wird die Minderjährige eher nicht als an der Vergewaltigung schuld gesehen, wie es einer erwachsenen Frau passieren würde. Insofern ist die Schande für die Familie auch nicht so groß (EASO 9.2014).

Es ist in Tschetschenien üblich, die Ehe auf muslimische Art – durch einen Imam – zu schließen. Solch eine Hochzeit ist jedoch nach russischem Recht nicht legal, da sie weder vor einem Standesbeamten geschlossen noch registriert ist. Nach russischem Recht wird sie erst nach der Registrierung bei der Behörde ZAGS legal, die nicht nur Eheschließungen registriert, sondern auch Geburten, Todesfälle, Adoptionen usw. Da die Registrierung mühsam ist und auch eine Scheidung verkompliziert, sind viele Ehen im Nordkaukasus nicht registriert. Eine Registrierung wird oft nur aus praktischen Gründen vorgenommen, beispielsweise in Verbindung mit dem ersten Kind. Der Imam kann eine muslimische Hochzeit auch ohne Anwesenheit des Bräutigams schließen, jedoch ist laut Scharia die Anwesenheit der Frau nötig (EASO 9.2014).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus

-        EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautenführung; Waisenhäuser)

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        Welt.de (14.2.2017): Immer ein echter Mann zu sein – das ist eine Last

1.5.6. Bewegungsfreiheit

In der Russischen Föderation herrscht Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 13.3.2020).

Quellen:

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland

1.5.7. Grundversorgung im Nordkaukasus

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 2.2020a, vgl. ÖB Moskau 12.2018), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Dennoch hat sich die wirtschaftliche Lage im Nordkaukasus in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Wenngleich die föderalen Transferzahlungen wichtig bleiben, konnten in den vergangenen Jahren dank des massiven Engagements der Föderalen Behörden, insbesondere des Nordkaukasus-Ministeriums, signifikante Fortschritte bei der sozio-ökonomischen Entwicklung der Region erzielt werden (ÖB Moskau 12.2019). Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, ist wieder aufgebaut. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Die Bevölkerungspyramide ähnelt derjenigen eines klassischen Entwicklungslandes mit hohen Geburtenraten und niedrigem Durchschnittsalter und unterscheidet sich damit stark von der gesamtrussischen Altersstruktur (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

1.5.8. Medizinische Versorgung

Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger ist in der Verfassung verankert (GIZ 2.2020c, vgl. ÖB Moskau 12.2018). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land (ÖB Moskau 12.2019).

Die Medikamentenversorgung ist zumindest in den Großstädten gewährleistet und teilweise kostenfrei (AA 13.2.2019).

Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (DIS 1.2015, vgl. AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft

-        DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

1.5.9. Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten

Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgefährdeten (BMA 12248).

Wie in anderen Teilen Russlands werden auch in Tschetschenien psychische Krankheiten hauptsächlich mit Medikamenten behandelt und es gibt nur selten eine Therapie. Üblicherweise zahlen Personen für einen Termin wegen psychischer Probleme zwischen RUB 700 und 2.000 (ca. EUR 8 bis 24) (BDA 31.3.2015).

Quellen:

-        International SOS via MedCOI (3.4.2019): BMA 12248

-        BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

1.5.10. Rückkehr

Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Der Rückübernahme geht, wenn die betroffene Person in Österreich über kein gültiges Reisedokument verfügt, ein Identifizierungsverfahren durch die russischen Behörden voraus. Wird dem Rücknahmeersuchen stattgegeben, wird für diese Person von der Russischen Botschaft in Wien ein Heimreisezertifikat ausgestellt. Wenn die zu übernehmende Person im Besitz eines gültigen Reisedokuments ist, muss kein Rücknahmeersuchen gestellt werden. Bei Ankunft in der Russischen Föderation mussten sich bislang alle Rückkehrer beim Föderalen Migrationsdienst (FMS) ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren. Dies gilt generell für alle russische Staatsangehörige, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. 2016 wurde der FMS allerdings aufgelöst und die entsprechenden Kompetenzen in das Innenministerium verlagert. Die Zusammenarbeit zwischen föderalen und regionalen Behörden bei der innerstaatlichen Migration scheint verbesserungsfähig. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach dem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 12.2019).

Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mit Hilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, zu deren Bewältigung von Problemen zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützend tätig sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt. Im Normalfall sind Rückkehrer aber nicht immer mit Diskriminierung seitens der Behörden konfrontiert (ÖB Moskau 12.2019).

Es besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrern in den Nordkaukasus. Vereinzelt gibt es Fälle von Tschetschenen, die im Ausland einen negativen Asylbescheid erhalten haben, in ihre Heimat zurückgekehrt sind und nach ihrer Ankunft unrechtmäßig verfolgt worden sind. Das unabhängige Informationsportal Caucasian Knot schreibt in einem Bericht vom April 2016 von einigen wenigen Fällen, in denen Tschetschenen, denen im Ausland kein Asyl gewährt worden ist, nach ihrer Abschiebung drangsaliert worden wären (ÖB Moskau 12.2019). Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für jene ergeben, die schon vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB Moskau 12.2019).

Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von häufig willkürlichem Vorgehen der Polizei gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden weiterhin statt (AA 13.2.2019).

Rückkehrende werden grundsätzlich nicht als eigene Kategorie oder schutzbedürftige Gruppe aufgefasst. Folglich gibt es keine individuelle Unterstützung durch den russischen Staat. Rückkehrende haben aber wie alle anderen russischen StaatsbürgerInnen Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen. Es gibt auch finanzielle und administrative Unterstützung bei Existenzgründungen. Beispielsweise können Mikrokredite für Kleinunternehmen bei Banken beantragt werden. Einige Regionen bieten über ein Auswahlverfahren spezielle Zuschüsse zur Förderung von Unternehmensgründungen an (IOM 2018).

Neben der allgemeinen Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr haben Rückkehrer die Möglichkeit, eines der vom österreichischen Innenministerium unterstützten Reintegrationsprogramme in ihrem Heimatland in Anspruch zu nehmen. Diese freiwilligen Rückkehrer erhalten eine umfassende Beratung und eine Reintegrationsleistung vor Ort (besteht im Wesentlichen aus einer Sachleistung), welche eine erneute Existenzgrundlage im Herkunftsland ermöglichen und somit eine Nachhaltigkeit der Rückkehr fördern soll (ÖB Moskau 12.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation

1.6. Zur Situation der BF im Falle einer Rückkehr

Die BF würde im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation Gefahr laufen, dort unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung iSd Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.

2. Beweiswürdigung

2.1. Zur Person der BF

Die Feststellungen zur Person der BF gründen sich auf ihre glaubhaften Aussagen in den Einvernahmen durch das BFA am 23.05.2018 und am 12.12.2019 sowie hinsichtlich des Gesundheitszustandes zusätzlich auf das jugendpsychiatrische Sachverständigengutachten vom 22.08.2017 sowie die Bestätigung bzw. Einschätzung des psychologischen Dienstes der JA Schwarzau vom 02.12.2019, sowie dem damit übereinstimmenden weiteren Akteninhalt.

2.2. Zu den Gründen für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten

Die Gründe für die vom Vater abgeleitete Zuerkennung des Status der Asylberechtigten stützt sich auf die festgestellten rechtskräftigen Erkenntnisse des AsylGH vom 20.03.2009.

2.3. Zur Straffälligkeit der BF

Die Feststellungen zur Straffälligkeit der BF sowie zu ihrer bedingten Entlassung ergeben sich aus den festgestellten rechtskräftigen Urteilen des LG für Strafsachen Wien vom 21.11.2017 und des OLG Wien vom 09.02.2018 sowie dem festgestellten rechtskräftigen Beschluss des OLG Wien vom 18.10.2019.

2.4. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status der Asylberechtigten

Dass die BF wegen eines besonders schweren Verbrechens verurteilt wurde und eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellt, folgt im Wesentlichen aus den unter Punkt II.1.3. getroffenen und unter Punkt II.2.3. gewürdigten Feststellungen in Verbindung mit der rechtlichen Beurteilung unter Punkt II.3.1.1.

Dass die BF in der Russischen Föderation keiner aktuellen Bedrohung aus Konventionsgründen unterliegt, folgt zunächst daraus, dass ihr der Status der Asylberechtigten lediglich durch Erstreckung von ihrem Vater gewährt wurde und somit bereits zum damaligen Zeitpunkt keine individuellen Gründe vorlagen. Zudem wurde dem Vater der BF mit rechtskräftigem Bescheid des BFA vom 09.03.2018 der Status des Asylberechtigten aufgrund einer wesentlichen und nachhaltigen Verbesserung der Lage im Herkunftsstaat aberkannt. Dem zitierten LIB 2020 ist nicht zu entnehmen, dass gegen Personen, die an den beiden Tschetschenienkriegen teilnahmen – geschweige deren Angehörigen – weiterhin eine Bedrohungslage bestehen würde. Auch im gegenständlichen Aberkennungsverfahren der BF konnten keine sonstigen Gründe einer Verfolgung bzw. Bedrohung aus Konventionsgründen glaubhaft gemacht werden. Soweit die BF in ihrer Einvernahme ausführte, dass ihr eine Gefahr drohe, da sie eine straffällige Frau sei, ist daraus zum einen schon grundsätzlich keine Verfolgungsgefahr abzuleiten und stünde es ihr zum anderen auch offen, dies in ihrer Heimat zu verschweigen. Wenn die BF im Beschwerdeschriftsatz zudem angibt, dass ihr „aufgrund ihrer Einstellung zur tschetschenischen Tradition und Religion“ Verfolgung drohe, so ist dieses Vorbringen zunächst nur vage und unsubstantiiert. Sofern sie damit darauf Bezug nimmt, dass sie in den Einvernahmen durch das BFA zu Protokoll gab, religiös eher „locker“ zu sein, nicht mehr zu beten und kein Kopftuch mehr zu tragen, so ist darin noch keine derartig nachhaltige, identitätsstiftende islamkritische Haltung zu erblicken, die zu einer etwaigen Gefährdung der BF führen würde. Zumal die belangte Behörde der BF mehrere Fragen zu diesem Thema stellte, ist ihr insoweit auch kein mangelhaftes Ermittlungsverfahren vorzuwerfen. Schließlich ist auch der Ausführung im Beschwerdeschriftsatz, dass der BF in ihrer Heimat Verfolgung drohe, da sie in einem westlichen Land aufgewachsen sei, nicht zu folgen, da sich für eine auf diesem Grund aufbauende Bedrohungslage keine Deckung in den ins Verfahren eingeführten Länderberichten findet.

2.5. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation

Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aus dem im LIB 2020 wiedergegebenen und zitierten Länderberichten. Diese gründen sich auf den jeweils angeführten Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, zumal ihnen nicht substantiiert entgegengetreten wurde. Die konkret den Feststellungen zugrundeliegenden Quellen wurden unter Punkt II.1.5. zitiert.

2.6. Zur Situation der BF im Falle einer Rückkehr

Dass die BF im Falle einer Rückkehr Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSd Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein, ergibt sich unstrittig aus ihrem schlechten psychischen Zustand in Zusammenschau mit ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat im Kindesalter und der damit verbundenen, glaubhaften Unkenntnis ihrer Heimat. Die BF, die erst vor kurzem Volljährigkeit erreicht hat und bis dato noch nie für sich selbst sorgen musste, liefe dadurch Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

3. Rechtliche Beurteilung

Zum Spruchteil A)

3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides

3.1.1. Zum Aberkennungsgrund des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005

3.1.1.1. Gem. § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG ist einem Fremden der Status des Asylberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn einer der in Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) angeführten Endigungsgründe eingetreten ist.

Gem. § 7 Abs. 4 AsylG kann das Bundesamt einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3), den Status eines Asylberechtigten gem. Abs. 1 Z 2 nicht aberkennen, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt – wenn auch nicht rechtskräftig – nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat. Kann nach dem ersten Satz nicht aberkannt werden, hat das Bundesamt die nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zuständige Aufenthaltsbehörde vom Sachverhalt zu verständigen. Teilt diese dem Bundesamt mit, dass sie dem Fremden einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt hat, kann auch einem solchen Fremden der Status eines Asylberechtigten gem. Abs. 1 Z 2 aberkannt werden.

Gem. Art. 1 Abschnitt C der GFK wird dieses Abkommen auf eine Person (…) nicht mehr angewendet werden, (…) 5. wenn die Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und sie es daher nicht weiter ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen. Die Bestimmungen des Z 5 sind nicht auf (…) Flüchtlinge anzuwenden, wenn sie die Inanspruchnahme des Schutzes durch ihr Heimatland aus triftigen Gründen, die auf frühere Verfolgungen zurückgehen, ablehnen.

Die Bestimmung des Art. 1 Abschnitt C Z 5 verleiht dem Grundsatz Ausdruck, dass die Gewährung von internationalem Schutz lediglich der vorübergehenden Schutzgewährung, nicht aber der Begründung eines Aufenthaltstitels dienen soll. Bestehen nämlich die Umstände, aufgrund derer eine Person als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr und kann sie es daher nicht weiterhin ablehnen, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen, so stellt auch dies einen Grund dar, den gewährten Status wieder abzuerkennen (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 7 AsylG, K8.).

Laut der Art. 1 Abschnitt C Z 5 betreffenden höchstgerichtlichen Judikatur setzt selbige Bestimmung in diesem Zusammenhang eine wesentliche nachhaltige Änderung der (für die Verfolgungsgefahr maßgeblichen) Umstände im Heimatstaat des Flüchtlings, einen Wegfall der Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK und der Notwendigkeit der Schutzgewährung voraus.

In diesem Kontext erweist sich der reine Wegfall des subjektiven Furchtempfindens als nicht ausschlaggebend; Umstände im Sinne dieser Regelung müssen sich auf grundlegende in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Konvention angeführte Fluchtgründe betreffende Veränderungen im Heimatstaat des Flüchtlings beziehen, aufgrund derer angenommen werden kann, dass der Anlass für die begründete Furcht vor Verfolgung nicht mehr länger besteht. Der Wegfall des subjektiven Furchtempfindens kann jedoch „ein Indiz dafür sein, dass auch objektiv kein asylrechtlich relevanter Verfolgungsgrund mehr vorliegt (VwGH 25.06.1997, 95/01/0326; VwGH 29.01.1997, 95/01/0449).“

Die Änderungen im Herkunftsstaat müssen zudem nachhaltig und nicht bloß von vorübergehender Natur sein (VwGH 22.04.1999, 98/20/0567. VwGH 25.03.1999 98/20/0475). Nach Einhaltung eines längeren Beobachtungszeitraums wird auch der bloße „Haltungswandel“ des bisherigen Verfolgers, ohne dass ein politischer Machtwechsel stattgefunden hat, eine asylrechtlich maßgebliche Änderung der Umstände ergeben und in Folge Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK zum Tragen kommen (VwGH 21.11.2002, 99/20/0171).

Der Wegfall der Verfolgungsgefahr ist maßgeblich für die Anwendung des Artikel 1 Abschnitt C Z 5 GFK. Ob die allgemeine wirtschaftliche Lage im Heimatland schlecht ist oder familiäre respektive emotionelle Bindungen zum Aufnahmestaat bestehen, ist für den Eintritt der in Rede stehenden Bestimmung grundsätzlich irrelevant.

3.1.1.2. Fallgegenständlich ging das BFA davon aus, dass sich die Umstände im Herkunftsland der BF maßgeblich und nachhaltig verändert (d.h. verbessert) haben, und die BF daher nicht ablehnen könne, sich dem Schutz ihres Herkunftsstaates zu unterstellen, weshalb die Bestimmung des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 der GFK anwendbar sei.

Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der BF der Status der Asylberechtigten vom (damaligen) AsylGH nicht aufgrund einer individuellen Verfolgung, sondern aufgrund einer Erstreckung nach dem AsylG 1997 (entspricht im Wesentlichen dem nunmehrigen Familienverfahren gem. § 34 AsylG 2005) von ihrem Vater abgeleitet zugesprochen wurde, zumal die BF zu diesem Zeitpunkt erst acht Jahre alt war.

Für die Aberkennung des einem Familienangehörigen im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannten Status des Asylberechtigten wegen Wegfalls der fluchtauslösenden Umstände (Art. 1 Abschnitt C Z 5 der GFK) kommt es drauf an, ob die Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und es diese daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen. Diese Frage hat die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) ohne Bindung an eine allfällige diesbezügliche Entscheidung im Verfahren über die Aberkennung des Asylstatus des Familienangehörigen selbstständig zu beurteilen. Gelangt die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) in so einem Fall zu der Beurteilung, dass die fluchtauslösenden Umstände nicht mehr vorliegen, ist der Asylstatus eines Familienangehörigen, dem dieser Status im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannt worden ist, abzuerkennen, sofern im Entscheidungszeitpunkt hinsichtlich des Familienangehörigen nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (drohende Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK) vorliegen (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0059).

Dem Vater der BF wurde vom BFA rechtskräftig der Status des Asylberechtigten aufgrund einer solchen Verbesserung der Lage im Herkunftsstaat aberkannt. Wie schon beweiswürdigend ausgeführt, ist dem LIB 2020 nämlich zu entnehmen, dass Teilnehmern an den Tschetschenienkriegen heute grundsätzlich keine Gefahr mehr droht.

Diese Aberkennung bzw. der Wegfall der Umstände hinsichtlich des Vaters der BF schlägt im Sinne der zitierten Rechtsprechung auch auf die BF durch. Individuelle Gründe, die zur Zuerkennung (bzw. Beibehaltung) des Status

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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