TE Bvwg Beschluss 2020/11/12 W265 2235474-1

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Veröffentlicht am 12.11.2020
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Entscheidungsdatum

12.11.2020

Norm

B-VG Art133 Abs4
VOG §1
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W265 2235474-1/6E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Oberösterreich, vom 22.01.2019, betreffend die Abweisung des Antrages auf Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) in Form von Kostenübernahme einer psychotherapeutischen Krankenbehandlung, Pauschalentschädigung für Schmerzengeld, Heilfürsorge und Ersatz des Verdienstentganges, beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Sozialministeriumservice zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. VERFAHRENSGANG

Der Beschwerdeführer stellte am 21.08.2017 beim Sozialministeriumservice (im Folgenden auch als belangte Behörde bezeichnet), einen Antrag auf Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) in Form von Kostenübernahme einer psychotherapeutischen Krankenbehandlung, Pauschalentschädigung für Schmerzengeld, Heilfürsorge und Ersatz des Verdienstentganges aufgrund des Vorbringens, von seinem Vater sexuell schwer missbraucht worden zu sein. Zudem sei er massiver körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen, sodass er dadurch im Gesicht entstellt sei. Aufgrund der bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung könne er keinen Beruf mehr ausüben. Er habe um Invaliditätspension angesucht.

Mit Bescheid der belangten Behörde vom 08.02.2018 wurde gemäß § 38 AVG das Verfahren auf Gewährung von Leistungen nach dem VOG bis zur rechtskräftigen Beendigung des Strafverfahrens vor dem Landesgericht XXXX zu XXXX ausgesetzt.

Im Rahmen einer telefonischen Urgenz durch die belangte Behörde teilte das Landesgericht mit, dass die Strafsache nunmehr unter der GZ XXXX geführt werde.

Im Strafverfahren wurde ein psychiatrisch/neurologisches Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 15.09.2016 eingeholt.

Am 31.10.2018 langte bei der belangten Behörde das Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX zu XXXX , ein. Im strafgerichtlichen Urteil wurde der Angeklagte Peter B. wegen des Verbrechens der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs. 1 erster Fall und Abs. 2 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Neben dem Urteil des Landesgerichtes XXXX wurde auch das Protokoll der Hauptverhandlung vom 25.10.2018, eine Sachverhaltsdarstellung der ausgewiesenen Vertretung des Beschwerdeführers vom 13.07.2015, ein Abschlussbericht der Landespolizeidirektion vom 11.09.2015, eine Beschuldigtenvernehmung vom 11.09.2015 sowie eine Zeugenvernehmung vom 07.09.2015 übermittelt.

Mit Schreiben vom 08.01.2019 brachte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens zur Kenntnis und hielt dazu fest, dass mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX zu GZ XXXX , der Beschuldigte von der wider ihn erhobenen Anklage wegen des Verbrechens der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs. 1 erster Fall und Abs. 2 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen mangels Schuldbeweises freigesprochen wurden sei. Das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens werde der Entscheidung zugrunde gelegt. Er könne dazu binnen zwei Wochen nach Zustellung eine Stellungnahme abgeben.

Mit E-Mail vom 19.01.2019 nahm der Beschwerdeführer zum Parteiengehör Stellung und führt aus, dass das Urteil vom Landesgericht XXXX vom XXXX zwar vorerst rechtskräftig sei, es werde jedoch wieder angefochten, und ein erneutes Verfahren sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Der OGH habe diesbezüglich bereits einmal entschieden.

Ohne weitere Ermittlungen durchzuführen, hob die belangte Behörde den Bescheid vom 08.02.2018, mit dem das Verfahren auf Gewährung von Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz bis zur rechtskräftigen Beendigung des Strafverfahrens vor dem Landesgericht XXXX ausgesetzt wurde, auf, um in der Sache selbst zu entscheiden (Spruchpunkt I.). In Spruchpunkt II. wies die belangte Behörde mit angefochtenem Bescheid vom 22.01.2019 den Antrag des Beschwerdeführers vom 21.08.2017 auf Leistungen nach dem Verbrechensopfergesetz gemäß § 1 Abs. 1 VOG ab. Die belangte Behörde begründete die Abweisung wie im Schreiben des Parteiengehörs vom 08.01.2019. Ungeachtet des Freispruches hätten keine Beweismittel erhoben werden können, aus denen mit Wahrscheinlichkeit eine rechtswidrige und vorsätzliche Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1 VOG abgeleitet werden könne. Die grundsätzlichen Anspruchsvoraussetzungen nach dem VOG, wonach mit Wahrscheinlichkeit eine mit mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedrohe, rechtswidrige und vorsätzliche Handlung vorliegen müsse, seien nicht gegeben. Das rechtskräftige Urteil des Landesgerichtes XXXX sei für die Verwaltungsbehörde bindend.

Mit E-Mail vom 11.03.2019 erhob der Beschwerdeführer (aus seiner Sicht) das Rechtsmittel der Beschwerde und führte darin im Wesentlichen aus, dass er gegen das rechtskräftige Urteil des Landesgerichtes XXXX vorgehen werde.

Nach telefonischer Urgenz des Beschwerdeführers hinsichtlich des Verfahrensstandes seines anhängigen Verfahrens wurde ihm mitgeteilt, dass das E-Mail vom 11.03.2020 (gemeint wohl: 11.03.2019) fälschlicherweise von der Behörde nicht als Beschwerde gewertet worden sei. Es wurde vereinbart, dem Beschwerdeführer ein Verbesserungsschreiben zu den Beschwerdegründen zu übermitteln.

Mit Schreiben der belangten Behörde vom 29.07.2020 wurde dem Beschwerdeführer ein Verbesserungsauftrag gemäß § 13 Abs. 2 AVG übermittelt, worin er aufgefordert wurde, seine Bescheidbeschwerde näher zu präzisieren.

Mit Schreiben vom 15.08.2020, welches am 18.08.2020 bei der belangten Behörde einlangte, kam der Beschwerdeführer dem Verbesserungsauftrag nach. Im Wesentlichen hielt der Beschwerdeführer sein Begehren auf Entschädigung aufrecht, die ihm durch die Verbrechen wiederfahren seien.

Am 10.09.2020 langte bei der belangten Behörde die Auskunft des Landesgerichtes XXXX ein, wonach das Urteil vom XXXX seit XXXX rechtskräftig sei. Es seien keine weiteren Rechtsmittel oder Rechtsbehelfe erhoben worden.

Die Beschwerde samt dem Verwaltungsakt wurde dem Bundesverwaltungsgericht von der belangten Behörde am 23.09.2020 vorgelegt und langte hg. am 28.09.2020 ein.

Am 20.10.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Schreiben des Beschwerdeführers ein, worin er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte.

II. DAS BUNDESVERWALTUNGSGERICHT HAT ERWOGEN:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 9d Abs. 1 VOG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide nach diesem Bundesgesetz durch einen Senat, dem ein fachkundiger Laienrichter angehört. Gegenständlich liegt daher Senatszuständigkeit mit Laienrichterbeteiligung vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

ZU A)

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Nach § 28 Abs. 2 leg.cit. hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11).

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet (vgl. auch VwGH 30.06.2015, Ra 2014/03/0054):

* Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht kommt nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

* Der Verfassungsgesetzgeber hat sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I Nr. 51/2012, davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.

* Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg.cit. bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 leg.cit. verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das in § 28 leg.cit. insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

Der angefochtene Bescheid erweist sich vor diesem Hintergrund in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt aus folgenden Gründen als mangelhaft:

Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Verbrechensopfergesetzes (VOG) lauten:

„Kreis der Anspruchsberechtigten

§ 1. (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1.       durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder

2.       durch eine an einer anderen Person begangene Handlung im Sinne der Z 1 nach Maßgabe der bürgerlich-rechtlichen Kriterien einen Schock mit psychischer Beeinträchtigung von Krankheitswert erlitten haben oder

3.       als Unbeteiligte im Zusammenhang mit einer Handlung im Sinne der Z 1 eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten haben, soweit nicht hieraus Ansprüche nach dem Amtshaftungsgesetz, BGBl. Nr. 20/1949, bestehen,

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Wird die österreichische Staatsbürgerschaft erst nach der Handlung im Sinne der Z 1 erworben, gebührt die Hilfe nur, sofern diese Handlung im Inland oder auf einem österreichischen Schiff oder Luftfahrzeug (Abs. 6 Z 1) begangen wurde.

(2) Hilfe ist auch dann zu leisten, wenn

1.       die mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen worden ist oder der Täter in entschuldigendem Notstand gehandelt hat,

2.       die strafgerichtliche Verfolgung des Täters wegen seines Todes, wegen Verjährung oder aus einem anderen Grund unzulässig ist oder

3.       der Täter nicht bekannt ist oder wegen seiner Abwesenheit nicht verfolgt werden kann.

(3) Wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit ist Hilfe nur zu leisten, wenn

1.       dieser Zustand voraussichtlich mindestens sechs Monate dauern wird oder

2.       durch die Handlung nach Abs. 1 eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 StGB, BGBl. Nr. 60/1974) bewirkt wird.

[…]

Hilfeleistungen

§ 2. Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:

1.       Ersatz des Verdienst- und Unterhaltsentganges;

2.       Heilfürsorge

...

2a.      Kostenübernahme bei Krisenintervention durch klinische Psychologen und Gesundheitspsychologen sowie Psychotherapeuten;

3.       Orthopädische Versorgung

4.       medizinische Rehabilitation

10.      Pauschalentschädigung für Schmerzengeld.
Ausschlussbestimmungen

§ 8 (1) Von den Hilfeleistungen sind Opfer ausgeschlossen, wenn sie

1.       an der Tat beteiligt gewesen sind,

2.       ohne einen von der Rechtsordnung anerkannten Grund den Täter zu dem, verbrecherischen Angriff vorsätzlich veranlasst oder sich ohne anerkennenswerten Grund grob fahrlässig der Gefahr ausgesetzt haben, Opfer eines Verbrechens zu werden,

3.       an einem Raufhandeln teilgenommen und dabei die Körperverletzung oder die Gesundheitsschädigung (§ 1 Abs. 1) erlitten haben oder

4.       es schuldhaft unterlassen haben, zur Aufklärung der Tat, zur Ausforschung des Täters oder zur Feststellung des Schadens beizutragen.

[…]“

Grundsätzliche Voraussetzung für die Gewährung von Versorgungsleistungen für Gesundheitsschädigungen nach dem Verbrechensopfergesetz ist, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass der Antragsteller durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten hat und muss das schädigende Ereignis in ursächlichem Zusammenhang (Kausalzusammenhang) mit der Gesundheitsschädigung stehen.

Das VOG 1972 knüpft den Anspruch des Geschädigten an das Vorliegen einer zumindest bedingten vorsätzlichen Handlung iSd § 1 Abs. 1 VOG 1972. Eine ausreichende Wahrscheinlichkeit iSd § 1 Abs. 1 VOG 1972 ist erst gegeben, wenn erheblich mehr für als gegen das Vorliegen einer Vorsatztat spricht (Hinweis E vom 6. März 2014, 2013/11/0219, mwN).

Die belangte Behörde begründete gegenständlich die Abweisung des Antrages damit, dass nicht mit Wahrscheinlichkeit vom Vorliegen einer Straftat ausgegangen werden könne.

Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt jedoch aus folgenden Gründen als gravierend mangelhaft:

Die belangte Behörde stützt ihre Entscheidung auf das Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX , worin der Angeklagte wegen des Verbrechens der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs. 1 erster Fall und Abs. 2 erster Fall StGB und weiteren strafbaren Handlungen mangels Schuldbeweises freigesprochen worden sei, da entsprechende Tathandlungen nicht hätten festgestellt werden können. Ungeachtet des Freispruches hätten keine Beweismittel erhoben werden können, aus denen mit Wahrscheinlichkeit eine rechtswidrige und vorsätzliche Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1 VOG abgeleitet werden könnten. Des Weiteren verwies die belangte Behörde auf den Umstand, dass das Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX für die Verwaltungsbehörde bindend sei.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bewirkt die materielle Rechtskraft des Schuldspruches eines Strafurteiles, dass dadurch - vorbehaltlich einer allfälligen Wiederaufnahme des Strafverfahrens - mit absoluter Wirkung, somit gegenüber jedermann, bindend festgestellt ist, dass die schuldig gesprochene Person die strafbare Handlung entsprechend den konkreten Tatsachenfeststellungen des betreffenden Urteils rechtswidrig und schuldhaft begangen hat. Im Fall einer verurteilenden Entscheidung durch ein Strafgericht besteht daher eine Bindung der Verwaltungsbehörde in der Frage, ob ein gerichtlich zu ahndender Tatbestand erfüllt wurde. Durch die gerichtliche Verurteilung wird in einer für die Verwaltungsbehörde bindenden Weise über die Begehung der Tat abgesprochen. Eine eigene Beurteilung durch die Behörde ist damit nicht mehr zulässig, diese ist verpflichtet, die so entschiedene Frage ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Eine eigenständige Beurteilung durch die Behörde ist nur im Falle eines freisprechenden Urteils vorzunehmen (VwGH 26.04.2016, Ra 2016/03/0009, bzgl VOG VwGH 21.08.2014, 2013/11/0251).

Darüber hinaus verkennt die belangte Behörde, dass im Strafverfahren eine andere Wahrscheinlichkeit über die Täterschaft gefordert wird als im Verbrechensopfergesetz. Gemäß § 210 StPO hat die Staatsanwaltschaft Anklage bei dem für das Hauptverfahren zuständigen Gericht einzubringen, wenn auf Grund ausreichend geklärten Sachverhalts eine Verurteilung nahe liegt und kein Grund für die Einstellung des Verfahrens oder den Rücktritt von der Verfolgung vorliegt. Für eine Verurteilung im Strafverfahren wird jedoch gemeinhin subjektiv die volle Gewissheit über die Täterschaft und Schuld gefordert. Als objektives Mindestmaß gilt eine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ (s. Lendl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 258 (Stand 1.8.2009, rdb.at) Rz 30).

Der Anspruch auf eine Leistung nach dem VOG hat damit nicht ein verurteilendes Straferkenntnis zu Voraussetzung, also nicht den Beweis, sondern lediglich die Annahme der „Wahrscheinlichkeit“, dass der Anspruchswerber durch eine mit mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohten rechtswidrigen und vorsätzlichen Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten hat und ihm dadurch Heilungskosten oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit entstanden sind (OGH 28.06.1994, 5Ob527/94).

Demnach folgt aus einer Einstellung des Strafverfahrens gemäß § 190 Z. 2 StPO 1975 ebenso wenig zwingend wie aus dem Unterbleiben einer Anklage, dass die von § 1 VOG 1972 geforderte Wahrscheinlichkeit einer Tatbegehung nicht gegeben ist. Die Behörde hat vielmehr, so nicht eine bindende strafgerichtliche Verurteilung vorliegt, eine eigenständige, auf Feststellungen gegründete und schlüssige Beurteilung vorzunehmen (VwGH vom 21.08.2014, 2013/11/0251).

Vor dem Hintergrund der zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erweist sich das von der Behörde durchgeführte Ermittlungsverfahren als grob mangelhaft, da sie keine eigenständige, auf Feststellungen gegründete und schlüssige Beurteilung vorgenommen hat.

So wird beispielsweise im Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX ausgeführt, dass das Beweisverfahren „Ergebnisse bezüglich körperlichen Tätlichkeiten des Angeklagten zum Nachteil seines Sohnes ergeben hat, der Großteil dieser massiven Anschuldigungen (Fußtritte, Faustschläge etc) jedoch zufolge Teileinstellung der Staatsanwaltschaft XXXX nicht prozessgegenständlich waren (...)

(…)

Weiters wird im Strafurteil ausgeführt, dass es zwar kein valides Beweisergebnis gibt, wonach XXXX sexuelle Übergriffe oder Nötigungen zum Nachteil seines Sohnes vorgenommen hätte – vielmehr das Gegenteil. Sämtliche Zeugen und auch von Seiten des Privatbeteiligtenvertreters vorgelegten Urkunden belasten ihn bloß hinsichtlich körperlicher Übergriffe – die er auch zugestand.“

Darüber hinaus wurde im Strafverfahren ein psychiatrisch/neurologisches Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie eingeholt, worin u.a. Folgendes festgehalten wurde:

„In Zusammenschau von Längsschnitt- und Querschnittsdiagnostik ergibt sich aktuell vor dem Hintergrund des laufenden Gerichtsverfahrens das Bild einer Anpassungsstörung bei kombinierter Persönlichkeitsstörung (mit emotional instabilen, ängstlich-vermeidenden und abhängigen Anteilen), die auf Basis einer Persönlichkeitsentwicklungsstörung entstanden ist. Es zeigen sich Unsicherheit bezüglich des Selbstbildes, anhaltende Gefühlen von Leere, Impulsivität, Affektverflachung, mangelndes Interesse an Tätigkeiten, übertriebene Empfindlichkeit auf Rückschläge und dauerhafter Groll.

Der Zeuge berichtet von massiven, fast täglichen gewalttätigen Übergriffen und mehrmals wöchentlichen sexuellen Missbrauchshandlungen mit Oral- und Analverkehr, denen er zwischen seinem 3. und 12. Lebensjahr durch den Beschuldigten ausgesetzt war. Die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes dieser Angaben obliegt der Beweiswürdigung des Hohen Gerichtes und kann gutachterlicherseits weder verifiziert noch falsifiziert werden.

Das über den damals 6-jährigen Zeugen erstellte Heilpädagogische Gutachten der Landes-Kinderklinik XXXX (ON 8), sowie eine bereits am 19.04.1994 erfolgte Stellungnahme der Jugendwohlfahrt XXXX beinhalten Ausführungen über den psychischen Zustand des Zeugen, die den eindeutigen Rückschluss zulassen, dass das Kind schwersten emotionalen Traumatisierungen und Gewalterfahrungen ausgesetzt war.“

Trotz der Zugeständnisse des Angeklagten im Strafverfahren, dass er gegenüber dem Beschwerdeführer körperlich tätlich gewesen sei, nahm die belangte Behörde von weiteren Ermittlungen Abstand. Damit übersieht sie jedoch, dass – wie bereits oben ausgeführt – ein Großteil dieser massiven Anschuldigungen (Fußtritte, Faustschläge etc) jedoch zufolge Teileinstellung der Staatsanwaltschaft XXXX nicht prozessgegenständlich waren. Darüber hinaus hält auch die Sachverständige in ihrem Gutachten fest, dass „das Kind schwersten emotionalen Traumatisierungen und Gewalterfahrungen ausgesetzt war“, die sich u.a. aus einem Heilpädagogische Gutachten der Landes-Kinderklinik XXXX sowie einer bereits am 19.04.1994 erfolgte Stellungnahme der Jugendwohlfahrt XXXX entnehmen lassen.

Zunächst hätte sich die belangte Behörde durch die Einvernahme des Beschwerdeführers einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit verschaffen können. Darüber hinaus wäre die Einholung des Aktes der Jugendwohlfahrt sowie des Pflegschaftsaktes erforderlich gewesen, um die im Sachverständigengutachten genannten Traumatisierungen und Gewalterfahrungen, die dem Beschwerdeführer offensichtlich seitens seines Vaters wiederfahren sind, zu überprüfen und sich in weiterer Folge damit auseinanderzusetzen, ob es sich dabei um eine Straftat handeln könnte.

Sollte die belangte Behörde zu dem Ergebnis einer wahrscheinlich erlittenen Straftat gelangen, werden die gesundheitlichen Auswirkungen – unter Beziehung von medizinischen Sachverständigen – zu ermitteln sein und die vom Beschwerdeführer in seinem Antrag geltend gemachten Hilfeleistungsansprüche – konkret zu prüfen sein (vgl. VwGH 26.04.2018, Ra 2018/11/0072).

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird der Beschwerdeführer mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht liegt im Lichte obiger rechtlicher Ausführungen und unter Berücksichtigung der bereits genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht im Sinne des Gesetzes. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden“ wäre, ist – angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes – auch nicht ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall des Beschwerdeführers noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückzuverweisen.

Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:

Aufgrund der Behebung des angefochtenen Bescheides konnte eine Verhandlung gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen.

ZU B) UNZULÄSSIGKEIT DER REVISION

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Einvernahme Ermittlungspflicht Gesundheitsschädigung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung persönlicher Eindruck Straftat Traumatisierung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W265.2235474.1.00

Im RIS seit

12.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

12.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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