TE Vwgh Erkenntnis 2014/8/21 2013/11/0251

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Veröffentlicht am 21.08.2014
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
25/01 Strafprozess;
40/01 Verwaltungsverfahren;
67 Versorgungsrecht;

Norm

AVG §37;
StPO 1975 §190 Z2;
StPO 1975 §210;
VOG 1972 §1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl, Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde der B B in N, vertreten durch Längle Fussenegger Singer Rechtsanwälte Partnerschaft in 6900 Bregenz, Brosswaldengasse 12, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom 9. Oktober 2013, Zl. 41.550/877 9/13, betreffend Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,60 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit im Instanzenzug angefochtenem Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten vom 9. Oktober 2013 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf Übernahme der Kosten für psychotherapeutische Krankenbehandlung nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) wegen behaupteten schweren sexuellen Missbrauchs im Kindesalter durch ihren Cousin vom 28. Mai 2013 abgewiesen.

Begründend gab die Bundesberufungskommission die das Verfahren Zl. 2 St 196/12t betreffende Einstellungsbegründung der Staatsanwaltschaft Feldkirch vom 12. Dezember 2012, Auszüge des Fortführungsantrages der Beschwerdeführerin vom 27. Dezember 2012 und auszugsweise den Beschluss des Landesgerichtes Feldkirch vom 16. Juni 2013 zur Zl. 32 Bl 2/13d wieder.

Der Einstellungsbegründung der Staatsanwaltschaft Feldkirch vom 12. Dezember 2012 zufolge seien die Belastungsmomente gegen den Beschuldigten (den Cousin der Beschwerdeführerin) in den Angaben der Beschwerdeführerin sowie der Zeugen MB (des Bruders der Beschwerdeführerin) und LH und der Bestätigung Dris. L, des behandelnden Arztes der Beschwerdeführerin, der ihr eine posttraumatische Belastungsstörung im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen ihres Cousins attestiert hätte, gelegen. Als Entlastungsmomente seien zum einen der Eindruck, den die Beschwerdeführerin bei der kontradiktorischen Vernehmung hinterlassen hätte, zu nennen, da sie über weite Strecken überhaupt keine genauen Angaben mehr hätte machen können; darüber hinaus beinhalteten ihre Angaben auch verschiedene erhebliche Widersprüche und Ungereimtheiten. Entlastend seien zum anderen auch Angaben weiterer Zeugen. Insgesamt überwögen die Entlastungsmomente die Belastungsmomente in einem solchen Ausmaß, dass dem Beschuldigten ein strafrechtlich relevantes Verhalten nicht nachgewiesen werden könne.

Im Fortführungsantrag habe die Beschwerdeführerin zusammengefasst angegeben, die Staatsanwaltschaft hätte in der Einstellungsbegründung offen gelassen, auf welche Widersprüche oder Ungereimtheiten sie sich bezöge. Inwieweit die Zeugenaussage der Großmutter (der Beschwerdeführerin und des Cousins) entlastend sein solle, würde nicht dargelegt. Der Umstand, dass sie die Beschwerdeführerin als "verlogenes Mädchen" bezeichnet und ausgeführt hätte, dass sich die Beschwerdeführerin näher genannten Personen anvertraut hätte, wäre es zu einem sexuellen Missbrauch gekommen, und sich an eine näher genannte Situation "nicht erinnern könne", könnte nicht entlastend gewertet werden. Es sei ein bekanntes Phänomen, dass Kinder das "Geheimnis" gegenüber ihrer Familie für sich behalten würden und darauf Bedacht nähmen, sich nichts anmerken zu lassen. In diesem Zusammenhang sei auch nicht ersichtlich, warum die Aussage der Mutter der Beschwerdeführerin entlastend gewertet worden wäre. Auch die Entlastung durch die Zeugenaussage der EB, welche angegeben hätte, es gäbe zu viele Faktoren, warum sie der Beschwerdeführerin nicht glaube, obwohl sie bereits vor einem Jahr ein Telefonat mitbekommen hätte, in welchem die Beschwerdeführerin gedroht hätte, den Beschuldigten wegen des sexuellen Missbrauchs anzuzeigen, sei nicht nachvollziehbar. Auch die Zeugin TB (die Lebensgefährtin des Beschuldigten) hätte zwei ähnliche Telefonate mitbekommen bzw. ausgesagt, die Beschwerdeführerin hätte sie gewarnt, auf "ihre Kleine Acht zu geben", damit sich der Beschuldigte nicht auch an ihr vergreife. Die Aussage der TB sei unverständlicherweise als entlastend gewertet worden. SV, eine frühere Freundin des Beschuldigten, habe ausgesagt, sich nicht erinnern zu können, jemals auf dem Dachboden gewesen zu sein, aber angegeben, dass "es möglich gewesen wäre", dass zwischen dem Beschuldigten und der Beschwerdeführerin "was gewesen sei", da er, wenn er Drogen genommen habe, "entsprechend beieinander gewesen" und "mehr aggressiv als nett" gewesen wäre.

Unabhängig davon werde der Begründung der Staatsanwaltschaft entgegen gehalten, dass die Übergriffe im Kindesalter stattgefunden hätten und es angesichts der Vielzahl der stattgefundenen Übergriffen durchaus lebensnah sei, dass die Beschwerdeführerin nicht in der Lage gewesen sei, die einzelnen Abläufe im Detail wiederzugeben. Vom behandelnden Dr. L wäre im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen durch den Cousin im Kindesalter eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden.

Dokumentierte SMS des Beschuldigten seien ein Beleg dafür, dass die Übergriffe bereits Monate vor der Anzeige Thema gewesen seien. Angesichts der bisherigen kriminellen Laufbahn des Beschuldigten (vgl. Haftbescheinigungen) stelle sich die Frage, warum die Beschwerdeführerin innerhalb der Familie derartige Vorwürfe zu Unrecht erheben solle, zumal der Beschuldigte hinsichtlich anderer Straftaten nachweislich überführt worden wäre. Zudem habe der Zeuge LH zu Unrecht die Aussage verweigert, da die Beziehung zwischen ihm und der Beschwerdeführerin bereits im Mai 2012 geendet habe. Auch die Zeugin AJ sei nicht einvernommen worden.

In dem den Fortsetzungsantrag abweisenden Beschluss des Landesgerichtes Feldkirch vom 16. April 2013 werde nach kurzer Zusammenfassung des bisherigen Verfahrensgeschehens zunächst die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zum Fortführungsantrag wiedergegeben, wonach dem Beschuldigten von der Beschwerdeführerin vorgeworfen worden wäre, er hätte sie zwischen ihrem 5. und 8. Lebensjahr (ca. 1. Jänner 1998 bis 23. Dezember 2000) mehrfach sexuell missbraucht. Konkret hätte der Beschuldigte nicht nur "unzählige Male" den Geschlechtsverkehr an ihr vollzogen bzw. zu vollziehen versucht, sondern auch viele Male den Oralverkehr an sich vornehmen lassen. Passiert wäre dies zum Teil beim Beschuldigten zu Hause in L, zum Teil bei den Großeltern zu Hause in N. Dieser Sachverhalt erfüllte, wenn er so stattgefunden hätte, zumindest die Tatbestände der §§ 206, 207 StGB. Auf den ersten Blick belastend für den Beschuldigten wirkten nicht nur die Angaben der Beschwerdeführerin selbst, sondern auch die Angaben ihres älteren Bruders. Diesem hätte die Beschwerdeführerin schon vor zwei Jahren davon erzählt, was ihr widerfahren wäre. Außerdem wäre er in zumindest einer Situation selbst dabei gewesen. Ebenso hätte sie ihrem Ex-Freund LH davon erzählt, dass der Beschuldigte sie angeblich "vergewaltigt" hätte. Einer ärztlichen Bestätigung Dris. L wäre im Übrigen zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Auf der anderen Seite gäbe es eine lange Reihe von Entlastungsmomenten, die für den Beschuldigten sprächen, zunächst der Eindruck, den die Beschwerdeführerin bei der kontradiktorischen Zeugenvernehmung hinterlassen hätte. Sie hätte zunächst weder zur zeitlichen Einordnung der Vorfälle noch zur Zeitdauer konkrete Angaben machen können. Auffällig wäre auch, dass sie teilweise relativ konkrete Angaben zu den Details der angeblichen Tathandlungen habe machen können, teilweise wiederum überhaupt nicht; sie brächte auch einen bis dahin völlig unbekannten, neuen Tatvorwurf ins Spiel, nämlich, dass der Beschuldigte sie gezwungen hätte, ihn am Hals zu küssen; dafür könnte sie aber zu einem weiteren Vorfall auf dem Dachboden, den sie bisher ziemlich detailliert beschrieben hätte, nicht mehr sagen, ob es dabei zum Oralverkehr oder zum versuchten Geschlechtsverkehr gekommen wäre. Bei dem Vorfall in der Abstellkammer, den ihr Bruder angeblich mitbekommen hätte, widerspräche sie ihm in wesentlichen Punkten (ob er überhaupt dabei gewesen wäre; ob die Türe zur Abstellkammer verschlossen gewesen wäre und die Großmutter an der Tür gerüttelt hätte, oder ob sie einfach in die Abstellkammer hereingekommen wäre; ob die Beschwerdeführerin "unten herum" vollständig nackt gewesen wäre oder ihre Unterhose noch angehabt hätte; ob auch der Beschuldigte "unten herum" entkleidet gewesen sei).

Bemerkenswert erschienen so die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme auch die Angaben der Beschwerdeführerin, wonach die Vorfälle häufig auf dem WC, auf dem Dachboden oder in der Abstellkammer stattgefunden hätten und jeder Vorfall ca. 10 bis 15 Minuten gedauert hätte; in diesem Zusammenhang erschiene es mehr als fragwürdig, dass sich angeblich niemand gewundert habe, wenn die fünfjährige Beschwerdeführerin eine Viertelstunde mit dem Beschuldigten auf dem WC zugebracht hätte. Sehr fragwürdig wären weiters die Angaben der Beschwerdeführerin, dass sie sich bei sämtlichen Vorfällen bis auf den letzten in der Abstellkammer nie gewehrt und auch nie geschrien oder geweint hätte, obwohl sie beim Eindringen nach eigenen Angaben einen "stechenden Schmerz" verspürt hätte; dies hätte sie damit begründet, dass sie eben Angst gehabt hätte, "wieder die Blöde" zu sein, der man sowieso nicht glaube. Es erschiene sehr unglaubwürdig, dass eine Fünfjährige solche Überlegungen anstellte. Vor allem stellte sich dann aber die Frage, wieso sich die Beschwerdeführerin beim letzten Vorfall dies nicht mehr gedacht haben sollte, denn hier hätte sie sich laut eigenen Angaben plötzlich gewehrt und geweint.

Auch hinsichtlich des Umstands, wann die Beschwerdeführerin ihrem Bruder von den Tatvorwürfen gegen den Beschuldigten erzählt hätte, widerspräche sie ihm ganz klar; mitnichten wäre es so gewesen, dass sie ihm schon vor zwei Jahren weinend davon erzählt hätte. Überhaupt hätte sie gar keine Anzeige machen wollen; im Gegenteil hätte sie ihrer Mutter, die sie zur Anzeige gedrängt hätte, sogar mit dem "Abhauen" gedroht, wenn diese der Polizei etwas davon erzählte; um so merkwürdiger wäre, dass die Beschwerdeführerin dann im Rahmen ihrer Zeugenvernehmung zu einem Verkehrsunfall ganz "nebenbei" erzählt hätte, sie wäre als Kind von ihrem Cousin vergewaltigt worden.

Entlastend wäre so die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme auch eine Reihe von Zeugenaussagen, allen voran die Aussage der Großmutter, wonach es einen Vorfall in der Abstellkammer, bei dem sie wie von der Beschwerdeführerin und ihrem Bruder geschildert dazugekommen wäre, niemals gegeben hätte, oder die Aussage der SV, einer Ex-Freundin des Beschuldigten, die "ebenfalls bei einem Vorfall indirekt dabei gewesen sein" sollte, sich aber an Derartiges überhaupt nicht erinnern könnte. Im Übrigen passte auch hier die zeitliche Ordnung nicht zusammen. Der Beschuldigte wäre mit SV erst lange nach dem hier gegenständlichen Tatzeitraum zusammen gewesen. Entlastend wäre auch die Aussage des Bruders, der bei zahlreichen Übergriffen im Zimmer des Beschuldigten "ebenfalls anwesend" gewesen wäre, sich aber an Derartiges überhaupt nicht erinnern könnte. Entlastend wäre letztlich auch das Verhalten verschiedener Beteiligter, allen voran das Verhalten der Beschwerdeführerin selbst. Sie hätte zunächst niemandem von den Vorfällen erzählt, angeblich aus Angst, "wieder die Blöde" zu sein, der man sowieso nicht glaube. Sie hätte nicht einmal gesagt, nicht mehr zur Oma zu wollen, sondern wäre weiterhin brav hingegangen. Auch später, als der Beschuldigte der Stiefvater eines kleinen Mädchens geworden wäre und die Beschwerdeführerin nach eigenen Angaben hätte befürchten müssen, dass der Beschuldigte auch seiner Stieftochter etwas antun könnte, hätte sie geschwiegen. Stattdessen hätte sie im Alter von 16 Jahren sogar freiwillig noch einmal intensiven Kontakt zum Beschuldigten gesucht.

Ebenso merkwürdig mutete so die Staatsanwalt weiters in ihrer Stellungnahme das Verhalten des Bruders an. Obwohl dieser selbst einen Vorfall mitbekommen haben wollte und obwohl die Beschwerdeführerin ihm vor zwei Jahren alles erzählt hätte, hätte auch er geschwiegen, angeblich, weil seine Schwester ihn bereits als Kind darum gebeten hätte, "es niemandem zu sagen". Schließlich hätte auch die Mutter der Beschwerdeführerin von den Vorwürfen erfahren. Auch sie hätte sich niemandem anvertraut, weder der Polizei noch ihrem eigenen Ehemann. Anzuführen wäre auch, dass niemandem, weder der Großmutter noch der Mutter oder Tante, jemals irgendein Verdacht in Richtung eines möglichen sexuellen Missbrauches gekommen wäre. Beispielsweise hätte nie jemand verdächtige Sperma- oder Blutspuren in der Unterhose des Mädchens gefunden, was bei einem fünfjährigen Mädchen, dem nach eigenen Angaben ca. 30 bis 50 mal der Penis des Beschuldigten in die Vagina eingeführt worden sein sollte, doch wohl naheliegend gewesen wäre. Bei zusammenfassender Betrachtung überwögen also die entlastenden Momente bei Weitem die belastenden.

Im abweisenden Beschluss des Landesgerichts Feldkirch werde anschließend die von der Beschwerdeführerin ausgeführte Gegenäußerung zur Stellungnahme der Staatsanwaltschaft wiedergegeben, in welcher der Staatsanwaltschaft vorgeworfen würde, sich mit den Ausführungen im Fortführungsantrag nicht auseinandergesetzt zu haben. Es wäre in diesem Zusammenhang auf die Aussage der Beschwerdeführerin verwiesen worden, wonach sie über spezielle Fragen angegeben hätte, dass sie nur das noch wüsste, was ihr in letzter Zeit eingefallen wäre. Es wäre eingeräumt worden, dass es im Detail widersprüchliche Angaben zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Bruder zum Vorfall im Keller gäbe, im Kern würden allerdings beide übereinstimmend aussagen, dass es zu einem Übergriff des Beschuldigten zum Nachteil der Beschwerdeführerin gekommen wäre. Die Aussagen würden sich "im Kern" decken. Es würde sich außerdem nicht um eine Aussage der Beschwerdeführerin "nebenbei im Zuge vom sexuellen Missbrauch im Kindesalter" handeln, sondern die Beschwerdeführerin hätte den Inhalt des Streites zwischen ihr und ihrem Ex-Freund wiedergegeben. Sie hätte keine Motive, den Beschuldigten zu Unrecht zu belasten und, hätte sie Rache nehmen wollen, hätte sie wohl zeitnah zu dem Konflikt mit dem Beschuldigten Anzeige erstattet. Der Einstellungsentscheidung läge sohin eine unerträgliche Fehlentscheidung bei der Beweiswürdigung zugrunde.

Nach Auffassung des Landesgerichtes erweise sich der Fortführungsantrag als nicht berechtigt.

Es sei, so das Landesgericht, vorerst grundsätzlich darauf zu verweisen, dass vieles dafür spreche, dass Erinnerungen aus den ersten vier, möglicherweise auch fünf Lebensjahren forensisch nicht verwertbar seien. Um der Problematik von Kindheitserinnerungen gerecht zu werden, um beurteilen zu können, ob die Erinnerungen forensisch verwertbar seien, bedürfte es weiterer Ermittlungsergebnisse, die in der Lage sein müssten, die Kindheitserinnerungen zu untermauern, zu erklären, sie so weit mit der ganzen Sachverhaltsaufnahme in Einklang zu bringen, dass der Schuldspruch wahrscheinlicher sei als ein Freispruch.

Dies lasse zwar nicht den Schluss zu, dass die Beschwerdeführerin lüge, da sie selbst anführte, niemandem "davon etwas gesagt zu haben", es könne aber andererseits auch nicht dazu führen, dass sämtliche Widersprüche sowie die übrigen Aussagen der einvernommenen Zeugen "völlig außer Betracht" blieben, um dann die Anklageerhebung zu begründen. Es könne nicht Entscheidungsgrundlage sein, dass alle belastenden und entlastenden Momente jeweils gleichsam zusammengezählt würden, und die zahlenmäßige Mehrheit der belastenden Momente zur Anklageerhebung bzw. die Mehrheit der entlastenden Momente zur Verfahrenseinstellung führten, denn dies würde einer gebundenen Beweiswürdigung entsprechen, die schon Jahrhunderte lang überwunden worden wäre. Allerdings seien die belastenden als auch die entlastenden Momente ursächlich dafür, dass die Staatsanwaltschaft die Verpflichtung träfe, bei den gegebenen Voraussetzungen, sofern eine Verurteilung nicht nahe liege, das Verfahren einzustellen. Es sei richtig, dass aus dem Nichterinnern, beispielsweise der Großmutter, nicht geschlossen werden könnte, dass der Vorfall nicht so gewesen sei, wie ihn die Beschwerdeführerin, wenn auch widersprüchlich, schilderte. Es könne ebensowenig aus der Tatsache, dass die angeblichen Missbrauchsfälle im Zuge eines Streites hervorgekommen seien, geschlossen werden, dass sie nicht der Richtigkeit entsprächen, ebenso wenig, dass möglicherweise Rachegedanken auszuschließen wären. Dass ein fünfjähriges Mädchen Überlegungen anstellte, dass man ihr nicht glaube, wenn sie Derartiges ihrer Mutter oder Großmutter schildere, scheine möglich, wenn auch zweifelhaft, ebenso wie die Angaben der Beschwerdeführerin, dass sie vom Beschuldigten auf den WC Deckel gestellt worden wäre, um danach an ihr die geschilderten Missbrauchshandlungen durchzuführen. Alle diese Möglichkeiten ließen weder den Schluss zu, dass die Missbrauchshandlungen stattgefunden hätten, noch, dass dies zu verneinen sei, aber diese Unsicherheiten und Widersprüche bei der Problematik von Kindheitserinnerungen ließen die Beurteilung der Staatsanwaltschaft nicht nur verständlich, sondern konsequent erscheinen, dass nämlich aufgrund dieser Widersprüchlichkeiten, Ungereimtheiten, Unerklärlichkeiten eine Verurteilung nicht nahe liege, und demnach eine Anklageerhebung nicht indiziert wäre. Es dürfe nicht übersehen werden, dass zu Beginn der angeblichen Missbrauchshandlungen der Beschuldigte noch gar nicht strafmündig gewesen sei. Auch unter diesem Aspekt sei zu wiederholen, dass im Hinblick auf die Widersprüchlichkeit der Angaben der Beschwerdeführerin, die von ihr auch eingeräumt würden, im Zusammenhang mit den übrigen Beweisergebnissen, keine unerträgliche Fehlentscheidung der Staatsanwaltschaft bei der Beweiswürdigung zugrunde läge, welche die unrichtige Lösung der Verfahrenseinstellung qualifiziert nahe legte, vielmehr sei das Gegenteil der Fall, weshalb dem Fortführungsantrag auch kein Erfolg beschieden sein könne.

Im Anschluss an diese Wiedergaben führte die Bundesberufungskommission aus, nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei für die Auslegung des Begriffes "wahrscheinlich" der allgemeine Sprachgebrauch maßgebend; Wahrscheinlichkeit sei dann gegeben, wenn erheblich mehr für als gegen des Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 1 Abs. 1 Z. 1 VOG spreche. Diesen Grad der Wahrscheinlichkeit hätten die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nicht begründen können.

Das Vorbringen der Beschwerdeführerin enthalte keine neuen Aspekte, und es lägen keine neuen Beweismittel vor, die Anhaltspunkte enthielten, welche geeignet wären, die strafrechtliche Qualifikation zu den einzelnen Vorwürfen, nämlich der Einstellung des Strafverfahrens, in Zweifel zu ziehen beziehungsweise eine davon abweichende Beurteilung zu bedingen.

Der Befund Dris. L diagnostiziere zwar eine posttraumatische Belastungsstörung, ein Zusammenhang mit den angeschuldigten sexuellen Übergriffen werde jedoch lediglich anamnestisch festgehalten, indem angeführt werde, die Beschwerdeführerin sei angeblich vom ihrem Cousin im Alter von vier bis sieben Jahren vergewaltigt worden.

Die Einstellung des Verfahrens sei nicht mangels Gewissheit erfolgt, vielmehr überwögen die entlastenden Momente bei weitem die belastenden.

Dem Verfahrenskonzept des AVG liege grundsätzlich nicht der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zu Grunde. Auf Grund des Prinzips der Unbeschränktheit der Beweismittel (§ 46 AVG) könne die Behörde daher auch amtliche Niederschriften über die bereits vor der Unterbehörde, vor anderen Behörden, aber auch vor Gerichten erfolgten Einvernahmen von Zeugen im Beweisverfahren zu Grunde legen. Sie habe die Beweismittel nach Gewährung von Parteiengehör hiezu zu würdigen und allfällige Widersprüche soweit sie Tatsachen beträfen, die für die Wahrheitsfindung im konkreten Fall bedeutsam seien auf geeignete Weise aufzuklären oder im Rahmen der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu verwerten. Die neuerliche Einvernahme von Zeugen sei nur zu neuem, für die Entscheidung wesentlichem, Vorbringen der Parteien geboten. Auch das Auftreten von Ungereimtheiten oder gar Widersprüchen mit anderen zwischenzeitig vorliegenden Beweisergebnissen verpflichte die Behörde nicht zur neuerlichen Einvernahme der Zeugen. Es sei vielmehr Aufgabe der Behörde, sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit solchen Beweisergebnissen auseinander zu setzten. Die Beschwerdeführerin sei bereits kontradiktorisch vernommen worden, eine neuerliche Einvernahme sei daher unterblieben.

Da nicht mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne, dass die Beschwerdeführerin Opfer einer mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohten rechtswidrigen und vorsätzlichen Handlung geworden sei, sei spruchgemäß zu entscheiden gewesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde:

Das Bundesverwaltungsgericht legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, nahm aber von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1.1. § 1 des Verbrechenopfergesetzes lautet (auszugsweise):

"Kreis der Anspruchsberechtigten

§ 1. (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1. durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder ...

...

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Wird die österreichische Staatsbürgerschaft erst nach der Handlung im Sinne der Z 1 erworben, gebührt die Hilfe nur, sofern diese Handlung im Inland oder auf einem österreichischen Schiff oder Luftfahrzeug (Abs. 6 Z 1) begangen wurde.

..."

1.2. Da die vorliegende Beschwerde mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beim Verwaltungsgerichtshof bereits anhängig war, sind gemäß § 79 Abs. 11 letzter Satz VwGG darauf die bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 geltenden Bestimmungen weiter anzuwenden.

2. Die Beschwerde ist im Ergebnis begründet.

2.1. Die Beschwerdeführerin bringt vor, mit Rücksicht darauf, dass § 1 Abs. 1 VOG nur von der "wahrscheinlichen" Annahme einer Straftat spreche, seien die Prämissen für die positive Erledigung eines Antrages nach dem VOG zweifelsohne andere als für eine Anklage im Strafverfahren. Indem die belangte Behörde die Entscheidung der Staatsanwaltschaft "billige", irre sie rechtlich darüber, dass eben unterschiedliche Erfordernisse in Bezug auf das Beweismaß vorgesehen seien, und für die positive Erledigung eines Antrages nicht derselbe Überzeugungsgrad im Rahmen der freien Beweiswürdigung gefordert werde wie im Strafverfahren für eine Anklagerhebung bzw. in weiterer Folge Verurteilung. Festgehalten werde, dass die Einstellung des Strafverfahrens aus Beweisgründen keine Bindungswirkung entfalten könne, eine entsprechende Annahme wäre im Übrigen verfassungswidrig, da die Beschwerdeführerin als Privatbeteiligte von Vornherein nur beschränkt Einfluss auf das Strafverfahren habe nehmen können und der Beschuldigte im Strafverfahren nicht der Wahrheitspflicht unterlegen sei.

2.2.1. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend ausführt, ist, worauf der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Judikatur hinweist, Voraussetzung für eine Hilfeleistung nach dem VOG u.a., dass erheblich mehr für als gegen das Vorliegen einer Vorsatztat spricht (vgl. z.B. das hg. Erkenntnis vom 6. März 2014, Zl. 2013/11/0219). Eine Anklageerhebung hat nach § 210 StPO zu erfolgen, wenn aufgrund ausreichend geklärten Sachverhalts eine Verurteilung nahe liegt und kein Grund für die Einstellung des Verfahrens oder den Rücktritt von der Verfolgung vorliegt. Aus einer Einstellung des Strafverfahrens gemäß § 190 Z. 2 StPO folgt ebensowenig zwingend wie aus dem Unterbleiben einer Anklage, dass die von § 1 VOG geforderte Wahrscheinlichkeit einer Tatbegehung nicht gegeben ist. Die Behörde hat vielmehr, so nicht eine bindende strafgerichtliche Verurteilung vorliegt, eine eigenständige, auf Feststellungen gegründete und schlüssige Beurteilung vorzunehmen.

2.2.2. Die Beschwerdeführerin hat bereits in ihrem verfahrenseinleitenden Antrag vorgebracht, sie sei von dem Beschuldigten (ihrem Cousin) von Anfang Jänner 1998 bis gegen Ende 2000 schwer sexuell missbraucht worden. Nachdem die Erstbehörde den Antrag mit Bescheid vom 5. Juli 2013 mit der lapidaren Begründung abgewiesen hatte, dass das Verfahren gegen den Cousin wegen §§ 206, 207 StGB gemäß § 190 Z. 2 StPO eingestellt worden sei und dem Fortsetzungsantrag keine Folge gegeben worden sei, hat die Beschwerdeführerin mit ihrer Berufung von sich aus eine Arbeitsunfähigkeitsmeldung, ein Schreiben Dris. L, welches eine posttraumatische Belastungsstörung im Zusammenhang mit den sexuellen Übergriffen des Cousins diagnostizierte, die Einstellungsbegründung der Staatsanwaltschaft, den Fortführungsantrag, die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft hiezu, ihre eigene Gegenäußerung sowie den Beschluss des Landesgerichts vorgelegt.

2.2.3. Aus diesen Unterlagen ergab sich für die belangte Behörde hinreichend konkret das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu ihrem behaupteten sexuellen Missbrauch durch den Cousin. Sollte das Vorbringen der Beschwerdeführerin zutreffen, läge jedenfalls eine Vorsatztat iSd. § 1 VOG vor. Die belangte Behörde durfte folglich den Antrag der Beschwerdeführerin nur dann wegen mangelnder Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der behaupteten Vorsatztat abweisen, wenn sie die Beschwerdeführerin nicht für glaubwürdig hielt oder allenfalls gestützt auf sachverständige Beurteilung trotz Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin zum Ergebnis kam, dass die (subjektiven) Kindheitserinnerungen der Beschwerdeführerin nicht geeignet wären, das behauptete Missbrauchsgeschehen als objektiv wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Dazu bedurfte es freilich einer Würdigung sämtlicher Ermittlungsergebnisse. Eine solche ist dem angefochtenen Bescheid, in dem die belangte Behörde vornehmlich begründet, weshalb sie auf eine Einvernahme der Beschwerdeführerin verzichtet hat, nicht zu entnehmen. In den vorgelegten Verwaltungsakten sind weder die in den wiedergegebenen Beschlüssen angesprochenen Vernehmungsprotokolle enthalten, noch ist daraus erkennbar, dass die belangte Behörde überhaupt versucht hätte, diese einzusehen, um sich selbst ein Bild von der Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin zu machen.

2.2.4. Da die gebotene Beweiswürdigung der belangten Behörde, insbesondere ihre Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin, zur Gänze fehlt, ist der angefochtene Bescheid mit einem relevanten Verfahrensmangel behaftet.

2.3. Der angefochtene Bescheid war aus diesen Erwägungen gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG aufzuheben.

3. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Gemäß § 11 VOG ist die Beschwerde von der Entrichtung der Gebühr nach § 24 Abs. 3 VwGG befreit. Da gemäß § 48 Abs. 1 Z. 1 VwGG nur ein Anspruch auf Ersatz der Gebühr nach § 24 Abs. 3 VwGG in Betracht kommt, wenn diese im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof zu entrichten war, kann ein Ersatz dieser Gebühr daher nicht erfolgen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 6. März 2014, Zl. 2013/11/0219).

Wien, am 21. August 2014

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung VerfahrensmangelBegründung Begründungsmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2014:2013110251.X00

Im RIS seit

06.10.2014

Zuletzt aktualisiert am

02.10.2017
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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