Entscheidungsdatum
22.07.2020Norm
AsylG 2005 §5Spruch
W239 2233010-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Theresa BAUMANN als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.06.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG stattgegeben, das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz ist zugelassen und der bekämpfte Bescheid wird behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, stellte im Bundesgebiet am 04.02.2020 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Zu ihrer Person liegt ein EURODAC-Treffer der Kategorie 1 (Asylantragstellung) zu Österreich vom 25.11.2012 vor. Aktuell verfügte die Beschwerdeführerin laut VIS-Abfrage über ein von 21.12.2019 bis 03.02.2020 gültiges Schengen-Visum Typ C, ausgestellt von der italienischen Vertretungsbehörde in Moskau/Russland.
Im Zuge der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 04.02.2020 gab die Beschwerdeführerin zu ihrer Reiseroute an, sie habe ihren Herkunftsstaat am 09.01.2020 verlassen und sei auf dem Landweg über unbekannte Länder bis nach Tschechien gelangt, wo sie sich von 11.01.2020 bis dato aufgehalten habe; seit heute sei sie in Österreich. Sie besitze einen tschetschenischen Inlandsreisepass, den sie den österreichischen Behörden bereits vorgelegt habe. Des Weiteren habe sie einen tschetschenischen Auslandsreisepass gehabt, der ihr jedoch vom Busfahrer, welcher mit ihr von Tschetschenien nach Österreich gefahren sei, zu Beginn der Reise abgenommen worden sei.
Der Beschwerdeführerin sei von der italienischen Botschaft in Moskau ein Schengen-Visum ausgestellt worden; sie sei in der Zeit dessen Gültigkeit aber niemals in Italien gewesen. Während ihres Aufenthalts in Tschechien habe sie bei unbekannten Leuten übernachtet und gewartet, bis ihr Visum nicht mehr gültig gewesen sei. Eine Bekannte habe ihr gesagt, dass sie erst weiterfahren könne, wenn das Visum abgelaufen sei. Ihr Zielland sei Österreich gewesen, da ihre Tochter samt Familie hier lebe.
2. In weiterer Folge richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 06.02.2020 ein auf Art. 12 Abs. 4 der Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin-III-VO) gestütztes Aufnahmeersuchen an Italien und führte zusammengefasst aus, dass das Verfahren zum ersten in Österreich gestellten Asylantrag vom 25.02.2012 am 23.09.2013 als gegenstandlos eingestellt worden sei, da die Beschwerdeführerin zuvor am 12.09.2013 freiwillig in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sei. Nunmehr habe sie erneut in Österreich um Asyl angesucht. Laut VIS-Abfrage sei sie in Besitz eines abgelaufenen italienischen Schengen-Visums. Hinsichtlich des Reiseweges fasste das BFA die Angaben der Beschwerdeführerin zusammen und merkte an, dass die Beschwerdeführerin angegeben habe, in Österreich bei ihrer Tochter leben zu wollen. Laut den durchgeführten Recherchen in den einschlägigen österreichischen Datenbanken sei der volljährigen Tochter hier internationaler Schutz gewährt worden; sie sei auch seit 21.03.2012 quasi durchgehend in Österreich gemeldet.
Mit Schreiben vom 18.02.2020 teilte die italienische Dublin-Behörde mit, dass dem Aufnahmeersuchen unter Verweis auf Art. 9 Dublin-III-VO nicht entsprochen werden könne, da der Tochter der Beschwerdeführerin in Österreich internationaler Schutz gewährt worden sei.
Am 19.02.2020 richtete das BFA ein Remonstrationsschreiben an die italienische Dublin-Behörde und führte zusammengefasst aus, dass gegenständlich Art. 9 Dublin-III-VO nicht zur Anwendung gelangen könne, da die Tochter nicht unter den Begriff „Familienangehöriger“ im Sinne der Legaldefinition des Art. 2 lit. g Dublin-III-VO falle, zumal sie bereits volljährig sei. Des Weiteren liege keine in Art. 9 Dublin-III-VO vorgesehene „schriftliche Zustimmung“ der Beteiligten vor (vgl. Art. 9 Dublin-III-VO, letzter Halbsatz: „sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun“). Es werde daher weiterhin von der Zuständigkeit Italiens ausgegangen.
Am 26.02.2020 sendete das BFA an die italienische Dublin-Behörde einen „Reminder“ mit dem - völlig richtigen - Hinweis, es werde ersucht, das Remonstrationsschreiben vom 19.02.2020 bis längstens 04.03.2020 zu beantworten.
Mit Schreiben vom 02.03.2020 lehnte Italien die Aufnahme der Beschwerdeführerin abermals ab; diesmal unter Berufung auf Art. 17 Dublin-III-VO.
Noch am selben Tag richtete das BFA ein zweites Remonstrationsersuchen an Italien und verwies zusammengefasst abermals darauf, dass die Tochter der Beschwerdeführerin volljährig sei, die Beteiligten außerdem keinen „schriftlichen Wunsch“ zur Verfahrensführung in Österreich kundgetan hätten und derzeit auch keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Beteiligten im gemeinsamen Haushalt leben würden. Weder Art. 9 Dublin-III-VO noch Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO könne gegenständlich zur Anwendung kommen; Italien möge seine Zuständigkeit gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO akzeptieren.
Erst am 06.03.2020 stimmte Italien letztlich der Aufnahme der Beschwerdeführerin gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO ausdrücklich zu.
3. Nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens wurde mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 29.06.2020 der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Italien gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO zur Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig sei (Spruchpunkt I.). Zudem wurde gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG gegen die Beschwerdeführerin die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG die Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Italien zulässig sei (Spruchpunkt II.).
4. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin durch ihre Vertretung am 13.07.2020 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und stellte gleichzeitig den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
5. Die Vorlage der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erfolgte am 15.07.2020.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, stellte im österreichischen Bundesgebiet erstmals am 25.11.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz. Aufgrund der freiwilligen Rückkehr der Beschwerdeführerin in die Heimat wurde das diesbezügliche Verfahren am 23.09.2013 als gegenstandlos eingestellt.
Am 04.02.2020 stellte die Beschwerdeführerin den nunmehr gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Eine VIS-Abfrage ergab, dass die Beschwerdeführerin über ein von 21.12.2019 bis 03.02.2020 gültiges Schengen-Visum Typ C, ausgestellt von der italienischen Vertretungsbehörde in Moskau/Russland, verfügte.
Das BFA richtete am 06.02.2020 ein auf Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO gestütztes Aufnahmeersuchen an Italien, welches die italienische Dublin-Behörde mit Schreiben vom 18.02.2020 ablehnte.
Am 19.02.2020 und am 26.02.2020 richtete das BFA ein Remonstrationsschreiben bzw. eine Urgenz an die italienische Dublin-Behörde, welche von Italien mit Schreiben vom 02.03.2020 abermals abgelehnt wurden.
Im Hinblick auf Art. 5 Dublin-III-Durchführungsverordnung endete die Frist zur Beantwortung des österreichischen Remonstrationsersuchens vom 19.02.2020 endgültig nach zwei Wochen mit Ablauf des 04.03.2020. Von daher erweist sich die - erst nach erneuter Remonstration vom 02.03.2020 - seitens Italiens am 06.03.2020 ergangene ausdrückliche Zustimmung zur Übernahme der Beschwerdeführerin als verspätet; ein Zuständigkeitsübergang auf Italien hat nicht stattgefunden und es liegt die Zuständigkeit zur materiellen Führung des gegenständlichen Asylverfahrens daher bei Österreich.
2. Beweiswürdigung:
Die festgestellten Tatsachen ergeben sich aus dem Akt, insbesondere aus den Unterlagen betreffend das Konsultationsverfahren zwischen der österreichischen und der italienischen Dublin-Behörde und aus dem vorliegenden Ergebnis der EURODAC- und der VIS-Abfrage (zur verspäteten Zustimmung Italiens siehe die Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung).
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Stattgebung der Beschwerde:
§ 5 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 87/2012, lautet:
„§ 5 (1) Ein nicht gemäß §§ 4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des § 9 Abs. 2 BFA-VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen würde.
(2) Gemäß Abs. 1 ist auch vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.
(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesamt oder beim Bundesverwaltungsgericht offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.“
§ 21 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idF BGBl. I 70/2015 lautet:
„§ 21 (3) Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.“
Die maßgeblichen Bestimmungen der Dublin-III-VO lauten:
„Artikel 3
Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz
(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.
(2) Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.
Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.
(3) Jeder Mitgliedstaat behält das Recht, einen Antragsteller nach Maßgabe der Bestimmungen und Schutzgarantien der Richtlinie 32/2013/EU in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen.
Artikel 7
Rangfolge der Kriterien
(1) Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.
(2) Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.
(3) Im Hinblick auf die Anwendung der in den Artikeln 8, 10 und 6 [Anm.: gemeint wohl 16] genannten Kriterien berücksichtigen die Mitgliedstaaten alle vorliegenden Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sofern diese Indizien vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme- oder Wiederaufnahme der betreffenden Person gemäß den Artikeln 22 und 25 stattgegeben hat, und sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist.
Artikel 12
Ausstellung von Aufenthaltstiteln oder Visa
(1) Besitzt der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel, so ist der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel ausgestellt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.
(2) Besitzt der Antragsteller ein gültiges Visum, so ist der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, es sei denn, dass das Visum im Auftrag eines anderen Mitgliedstaats im Rahmen einer Vertretungsvereinbarung gemäß Artikel 8 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft ( 1 ) erteilt wurde. In diesem Fall ist der vertretene Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.
(3) Besitzt der Antragsteller mehrere gültige Aufenthaltstitel oder Visa verschiedener Mitgliedstaaten, so sind die Mitgliedstaaten für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz in folgender Reihenfolge zuständig:
a) der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel mit der längsten Gültigkeitsdauer erteilt hat, oder bei gleicher Gültigkeitsdauer der Mitgliedstaat, der den zuletzt ablaufenden Aufenthaltstitel erteilt hat;
b) der Mitgliedstaat, der das zuletzt ablaufende Visum erteilt hat, wenn es sich um gleichartige Visa handelt;
c) bei nicht gleichartigen Visa der Mitgliedstaat, der das Visum mit der längsten Gültigkeitsdauer erteilt hat, oder bei gleicher Gültigkeitsdauer der Mitgliedstaat, der das zuletzt ablaufende Visum erteilt hat.
(4) Besitzt der Antragsteller nur einen oder mehrere Aufenthaltstitel, die weniger als zwei Jahre zuvor abgelaufen sind, oder ein oder mehrere Visa, die seit weniger als sechs Monaten abgelaufen sind, aufgrund deren er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, so sind die Absätze 1, 2 und 3 anwendbar, solange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat.
Besitzt der Antragsteller einen oder mehrere Aufenthaltstitel, die mehr als zwei Jahre zuvor abgelaufen sind, oder ein oder mehrere Visa, die seit mehr als sechs Monaten abgelaufen sind, aufgrund deren er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, und hat er die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten nicht verlassen, so ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.
(5) Der Umstand, dass der Aufenthaltstitel oder das Visum aufgrund einer falschen oder missbräuchlich verwendeten Identität oder nach Vorlage von gefälschten, falschen oder ungültigen Dokumenten erteilt wurde, hindert nicht daran, dem Mitgliedstaat, der den Titel oder das Visum erteilt hat, die Zuständigkeit zuzuweisen. Der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel oder das Visum ausgestellt hat, ist nicht zuständig, wenn nachgewiesen werden kann, dass nach Ausstellung des Titels oder des Visums eine betrügerische Handlung vorgenommen wurde.
Artikel 21
Aufnahmegesuch
(1) Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.
Abweichend von Unterabsatz 1 wird im Fall einer Eurodac- Treffermeldung im Zusammenhang mit Daten gemäß Artikel 14 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 dieses Gesuch innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Treffermeldung gemäß Artikel 15 Absatz 2 jener Verordnung gestellt.
Wird das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der in Unterabsätzen 1 und 2 niedergelegten Frist unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für die Prüfung des Antrags zuständig.
(2) Der ersuchende Mitgliedstaat kann in Fällen, in denen der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, nachdem die Einreise oder der Verbleib verweigert wurde, der Betreffende wegen illegalen Aufenthalts festgenommen wurde oder eine Abschiebungsanordnung zugestellt oder vollstreckt wurde, eine dringende Antwort anfordern.
In dem Gesuch werden die Gründe genannt, die eine dringende Antwort rechtfertigen, und es wird angegeben, innerhalb welcher Frist eine Antwort erwartet wird. Diese Frist beträgt mindestens eine Woche.
(3) In den Fällen im Sinne der Unterabsätze 1 und 2 ist für das Gesuch um Aufnahme durch einen anderen Mitgliedstaat ein Formblatt zu verwenden, das Beweismittel oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 22 Absatz 3 genannten Verzeichnissen und/oder sachdienliche Angaben aus der Erklärung des Antragstellers enthalten muss, anhand deren die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats prüfen können, ob ihr Staat gemäß den in dieser Verordnung definierten Kriterien zuständig ist.
Die Kommission legt im Wege von Durchführungsrechtsakten einheitliche Bedingungen für die Erstellung und Übermittlung von Aufnahmegesuchen fest. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 44 Absatz 2 genannten Prüfverfahren erlassen.
Artikel 22
Antwort auf ein Aufnahmegesuch
(1) Der ersuchte Mitgliedstaat nimmt die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet über das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers innerhalb von zwei Monaten, nach Erhalt des Gesuchs.
(2) In dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats werden Beweismittel und Indizien verwendet.
(3) Die Kommission legt im Wege von Durchführungsrechtsakten die Erstellung und regelmäßige Überprüfung zweier Verzeichnisse, in denen die sachdienlichen Beweismittel und Indizien gemäß den in den Buchstaben a und b dieses Artikels festgelegten Kriterien aufgeführt sind, fest. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 44 Absatz 2 genannten Prüfverfahren erlassen.
a) Beweismittel:
i) Hierunter fallen förmliche Beweismittel, die insoweit über die Zuständigkeit nach dieser Verordnung entscheiden, als sie nicht durch Gegenbeweise widerlegt werden;
ii) Die Mitgliedstaaten stellen dem in Artikel 44 vorgesehenen Ausschuss nach Maßgabe der im Verzeichnis der förmlichen Beweismittel festgelegten Klassifizierung Muster der verschiedenen Arten der von ihren Verwaltungen verwendeten Dokumente zur Verfügung;
b) Indizien:
i) Hierunter fallen einzelne Anhaltspunkte, die, obwohl sie anfechtbar sind, in einigen Fällen nach der ihnen zugebilligten Beweiskraft ausreichen können;
ii) Ihre Beweiskraft hinsichtlich der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz wird von Fall zu Fall bewertet.
(4) Das Beweiserfordernis sollte nicht über das für die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung erforderliche Maß hinausgehen.
(5) Liegen keine förmlichen Beweismittel vor, erkennt der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit an, wenn die Indizien kohärent, nachprüfbar und hinreichend detailliert sind, um die Zuständigkeit zu begründen.
(6) Beruft sich der ersuchende Mitgliedstaat auf das Dringlichkeitsverfahren gemäß Artikel 21 Absatz 2, so unternimmt der ersuchte Mitgliedstaat alle Anstrengungen, um die vorgegebene Frist einzuhalten. In Ausnahmefällen, in denen nachgewiesen werden kann, dass die Prüfung eines Gesuchs um Aufnahme eines Antragstellers besonders kompliziert ist, kann der ersuchte Mitgliedstaat seine Antwort nach Ablauf der vorgegebenen Frist erteilen, auf jeden Fall ist die Antwort jedoch innerhalb eines Monats zu erteilen. In derartigen Fällen muss der ersuchte Mitgliedstaat seine Entscheidung, die Antwort zu einem späteren Zeitpunkt zu erteilen, dem ersuchenden Mitgliedstaat innerhalb der ursprünglich gesetzten Frist mitteilen.
(7) Wird innerhalb der Frist von zwei Monaten gemäß Absatz 1 bzw. der Frist von einem Monat gemäß Absatz 6 keine Antwort erteilt, ist davon auszugehen, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.
Die maßgebliche Bestimmung der Dublin-III-Durchführungsverordnung lautet:
„Artikel 5
Ablehnende Antwort
(1) Vertritt der ersuchte Mitgliedstaat nach Prüfung der Unterlagen die Auffassung, dass sich aus ihnen nicht seine Zuständigkeit ableiten lässt, erläutert er in seiner ablehnenden Antwort an den ersuchenden Mitgliedstaat ausführlich sämtliche Gründe, die zu der Ablehnung geführt haben.
(2) Vertritt der ersuchende Mitgliedstaat die Auffassung, dass die Ablehnung auf einem Irrtum beruht, oder kann er sich auf weitere Unterlagen berufen, ist er berechtigt, eine neuerliche Prüfung seines Gesuchs zu verlangen. Diese Möglichkeit muss binnen drei Wochen nach Erhalt der ablehnenden Antwort in Anspruch genommen werden. Der ersuchte Mitgliedstaat erteilt binnen zwei Wochen eine Antwort. Durch dieses zusätzliche Verfahren ändern sich in keinem Fall die in Artikel 18 Absätze 1 und 6 und Artikel 20 Absatz 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vorgesehenen Fristen.“
Im gegenständlichen Verfahren ist das BFA angesichts der Tatsache, dass die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Asylantragstellung am 04.02.2020 über ein seit weniger als sechs Monate zuvor abgelaufenes Schengen-Visum verfügte, welches von der italienischen Vertretungsbehörde in Moskau/Russland ausgestellt wurde (Gültigkeitszeitraum von 21.12.2019 bis 03.02.2020), zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass grundsätzlich Italien für die Aufnahme der Beschwerdeführerin zuständig wäre.
In der Folge wurde seitens des BFA am 06.02.2020 fristgerecht gemäß Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-VO innerhalb der dreimonatigen Frist ab Antragstellung ein Aufnahmeersuchen gestützt auf Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO an Italien gestellt. Dieses Aufnahmeersuchen wurde von den italienischen Behörden innerhalb der in Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO festgesetzten zweimonatigen Antwortfrist am 18.02.2020 abgelehnt. Dagegen hat das BFA fristgerecht gemäß Art. 5 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zur Dublin-III-VO binnen drei Wochen nach Erhalt der ablehnenden Antwort remonstriert, und zwar am 19.02.2020.
Ausgehend vom österreichischen Remonstrationsschreiben vom 19.02.2020 berechnet sich nun die höchstzulässige Dauer des Remonstrationsverfahrens, in der eine gültige Zustimmung bzw. Ablehnung Italiens erfolgen kann. Völlig richtig hat das BFA die italienische Dublin-Behörde in seinem „Reminder“ daher darauf hingewiesen, dass eine (zustimmende bzw. ablehnende) Antwort Italiens innerhalb der in Art. 5 der Durchführungsverordnung normierten Frist von zwei Wochen bis längstens 04.03.2020 erfolgen muss. Die letztlich - erst nach erneuter Remonstration - am 06.03.2020 erteilte Zustimmung Italiens zur Aufnahme der Beschwerdeführerin erweist sich sohin als verspätet und kann im gegenständlichen Fall keinen Zuständigkeitsübergang mehr begründen:
Dass es durch das Remonstrationsverfahren zu keiner Verlängerung der Fristen der Dublin-III-VO kommen kann, ergibt sich schon aus dem rechtssystematischen Argument, wonach die Durchführungsverordnung nicht Maximalfristen der höherrangigen Grundverordnung verlängern kann. Der EuGH hat in seiner Judikatur nunmehr klargestellt, dass es sich bei den in Art. 5 der Durchführungsverordnung geregelten Fristen um zwingende Fristen handelt und ein korrekt in Gang gesetztes Remonstrationsverfahren nach Ablauf der zweiwöchigen Antwortfrist jedenfalls endgültig endet (vgl. EuGH 13.11.2018, C-47/17 und C-48/17, sowie VwGH 13.12.2018, Ra 2017/18/0110, und VwGH 23.01.2019, Ra 2017/20/0205; ausführlich dazu Baumann/Filzwieser, Aspekte der Fristenberechnung der Dublin III-VO anhand EuGH C-47/17 und C-48/17, in: Filzwieser/Taucher [Hrsg.], Asyl- und Fremdenrecht - Jahrbuch 2019, Seiten 253ff.).
Nach dem eben Gesagten hat ein Zuständigkeitsübergang auf Italien nicht stattgefunden und es liegt die Zuständigkeit zur materiellen Führung des gegenständlichen Asylverfahrens daher bei Österreich, sodass der Beschwerde stattzugeben und der angefochtene Bescheid zu beheben war.
Eine mündliche Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben, zumal sämtliche verfahrenswesentliche Abklärungen, insbesondere die im gegenständlichen Verfahren relevante Frage hinsichtlich des Vorliegens eines Fristablaufes, eindeutig aus dem vorliegenden Verwaltungsakt hervorgingen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Frist Fristablauf Fristversäumung Überstellungsfrist Verfristung ZulassungsverfahrenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W239.2233010.1.00Im RIS seit
20.10.2020Zuletzt aktualisiert am
20.10.2020