TE OGH 2020/9/16 7Ob219/19k

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Veröffentlicht am 16.09.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G ***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Martin Leitner ua, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Ö***** AG, *****, vertreten durch Schramm Öhler Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 26.320 EUR sA, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 24. Oktober 2019, GZ 11 R 149/19s-60, womit der Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 22. August 2019, GZ 3 Cg 1/17i-56, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Einrede der Unzulässigkeit des Rechtswegs verworfen wird.

         Dem Erstgericht wird die Fortsetzung des gesetzmäßigen Verfahrens aufgetragen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die Beklagte schrieb mit Bekanntmachung vom 9. 2. 2016 (in Österreich) bzw 11. 2. 2016 (EU-weit) als Auftraggeberin einen Lieferauftrag für Hygienepapier im Wege eines Verhandlungsverfahrens mit vorheriger Bekanntmachung im Oberschwellenbereich aus. Das Vergabeverfahren wurde über eine Vergabeplattform abgewickelt.

Die Klägerin stellte am 11. 3. 2016 einen Nachprüfungsantrag sowie einen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung, um die Fortsetzung des gegenständlichen Vergabeverfahrens zu untersagen und die Angebotsfrist auszusetzen. Mit Beschluss vom 17. 3. 2016 setzte das Bundesverwaltungsgericht den Lauf der Frist für die Abgabe von Angeboten für die Dauer des Nachprüfungsverfahrens aus. Am 23. 3. 2016 fand im Nachprüfungsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ein Ausgleichsversuch statt. Die Parteien konnten sich auf Änderungen der technischen Spezifikationen, nicht aber der vertragsrechtlichen Punkte verständigen.

Am 11. 4. 2016 verlängerte die Beklagte das Ende der Angebotsfrist bis zum 27. 4. 2016. Die Widerrufsentscheidung der Beklagten wurde nicht angefochten.

Daraufhin wies das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 28. 7. 2016 den Nachprüfungsantrag der Klägerin zurück. Auch diese Entscheidung blieb unangefochten.

„Die Klägerin bezahlte ihrem Rechtsvertreter für die in Rechnung gestellten Leistungen, die alle im Zusammenhang mit dem Ausschreibungsverfahren standen, den Klagsbetrag.“

Die Klägerin begehrt den Ersatz der Beteiligungskosten an dem Ausschreibungsverfahren in der Höhe von (netto) 26.320 EUR sA. Die Kosten seien im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens entstanden, um die rechtswidrigen und diskriminierenden Ausschreibungsbedingungen zu beseitigen. Die Bedarfserhebung sei rechtswidrig erst nachträglich durchgeführt worden. Die Wahl des Sektorenvergaberegimes sei unrichtig und die Wahl des Verhandlungsverfahrens daher rechtswidrig erfolgt. Weiters hätten der Vorbehalt, im Verlauf des Verfahrens ein vorangekündigtes Short-Listing durchzuführen, die Festlegungen zum Abschluss eines Rahmenvertrags und zu einer Option, der Haftungsausschluss und die Festlegung auf Festpreise in der Ausschreibung gegen das BVergG 2006 verstoßen bzw seien unsachlich und im Widerspruch zu dem Grundsatz einer neutralen Leistungsbeschreibung gewesen. Die Festlegung in der Ausschreibung auf eine „aussagekräftige Menge“ von Mustern sei nicht hinreichend bestimmt gewesen und habe einen unzulässigen Entscheidungsspielraum überlassen. Letztlich sei der Irrtumsausschluss in der Bietererklärung unzulässig und die Pönalebestimmung in der Vertraulichkeitserklärung unbillig gewesen.

Die Beklagte bestritt das Vorliegen dieser Rechtswidrigkeiten. Der Anspruch scheitere daran, dass die Klägerin mangels Vorlage von Mustern aus dem Verfahren ausgeschieden sei. Die Klägerin sei ihrer Warnpflicht gemäß § 255 Abs 6 BVergG 2006 nicht nachgekommen. Die AGB seien Bestandteil der Teilnahmeunterlagen bzw der Bekanntmachung gewesen und mangels Anfechtung bestandfest geworden. Es habe vor der Ausschreibung zwar eine Bedarfserhebung stattgefunden, der Bedarf habe sich aber, was in der Widerrufsentscheidung nicht als Grund genannt worden sei, nachträglich durch die Flüchtlingskrise geändert. Die Klägerin begehre zum Teil Ersatz für Leistungen, die der Vorbereitung des Verfahrens gedient hätten und nicht im Zusammenhang mit der Rechtsverfolgung im Nachprüfungsverfahren stünden, und Leistungen, die nach dem Widerruf erbracht worden seien.

Das Erstgericht wies im ersten Rechtsgang das Klagebegehren mit der Begründung ab, dass allein die explosionsartige und in diesem Ausmaß nicht vorhersehbare Änderung des Bedarfs aufgrund der Flüchtlingskrise den Widerruf gerechtfertigt habe, weshalb die behaupteten Rechtswidrigkeiten keine „conditio sine qua non“ für den Widerruf gewesen seien. Es liege daher kein hinreichend qualifizierter, für den Schaden kausaler Verstoß vor. Die Wahl des „Sektorenvergaberegimes“ sei richtig gewesen, weil die Tätigkeiten der Dienstleister in einem Zusammenhang mit der Sektorentätigkeit „Verkehrsleistungen“ stünden. Die AGB seien mangels Anfechtung bestandfest geworden. Die Klägerin sei außerdem ihrer Warnpflicht gemäß § 255 Abs 6 BVergG 2006 nicht nachgekommen.

Das Berufungsgericht behob diese Entscheidung. Falls das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren weiter davon ausgehe, dass kein hinreichender Verstoß gegen das BVergG 2006 bestehe, sei nicht inhaltlich zu entscheiden, sondern die Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückzuweisen. § 341 Abs 3 BVergG 2006 normiere wie § 341 Abs 2 BVergG 2006 eine Beschränkung der Zulässigkeit des Rechtswegs. Überdies leide die Feststellung in Zusammenhang mit dem Mehrbedarf aufgrund der Flüchtlingskrise an einem Begründungsmangel, weil keine Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Widerrufsentscheidung, die diesen Grund nicht erwähne, erfolgt sei. Letztlich fehlten Feststellungen, ob die anderen in der veröffentlichten Widerrufsentscheidung angeführten Gründe durch eine qualifizierte Rechtsverletzung verursacht worden seien.

Daraufhin wies das Erstgericht ohne Durchführung eines weiteren Verfahrens die Klage mit Beschluss zurück. Es wiederholte seine rechtliche Begründung aus dem ersten Rechtsgang zum Fehlen eines für den Widerruf kausalen Verstoßes gegen Bestimmungen des BVergG 2006, die dazu ergangenen Verordnungen oder des Unionsrechts. Zusätzliche Feststellungen zu den in der Widerrufsentscheidung angeführten Gründen könnten mangels weiteren Tatsachenvorbringens nicht getroffen werden.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es verwarf die Nichtigkeits-, Mängel- und Tatsachenrüge und vertrat rechtlich, dass der Sektorenauftraggeber nach § 278 BVergG 2006 ein Vergabeverfahren widerrufen könne, wenn sachliche Gründe bestünden. Als solcher sei der unvorhergesehene und unvorhersehbare Mehrbedarf aufgrund der Flüchtlingskrise im Spätsommer/Herbst 2015 anzusehen. Der Sektorenauftraggeber habe zwar nach § 181 Abs 3 BVergG 2006 den geschätzten Auftragswert der auszuschreibenden Leistung vor Durchführung des Vergabeverfahrens sachkundig zu ermitteln, den Feststellungen sei aber nicht zu entnehmen, dass diese Pflicht verletzt worden sei. Die vorliegende Bedarfserhöhung bilde daher einen tauglichen Widerrufsgrund. Dass er in der Widerrufsentscheidung nicht erwähnt worden sei, ändere daran objektiv nichts.

Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs gemäß § 528 Abs 1 ZPO zu, weil noch keine höchstgerichtliche Judikatur zur Rechtsfrage bestehe, ob ein unvorhergesehener und unvorhersehbarer Mehrbedarf einen sachlichen Grund iSd § 278 BVergG 2006 für den Widerruf eines Vergabeverfahrens bilde.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekus der Klägerin mit dem Antrag, die Prozesseinrede der Unzulässigkeit des Rechtswegs abzuweisen.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, den Revisonsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig, er ist auch berechtigt.

1. Nach § 376 Abs 4 und 5 BVergG 2018 sind die im Zeitpunkt des Inkrafttretens, das ist für die hier interessierenden Bestimmungen der 21. 8. 2018, bereits eingeleiteten Vergabeverfahren und die zu diesem Zeitpunkt beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren nach der im Zeitpunkt der Einleitung des jeweiligen Vergabeverfahrens geltenden Rechtslage zu Ende zu führen. Die Frage, ob diese Übergangsbestimmungen auch analog für die Beurteilung von Schadenersatzansprüchen nach diesem Gesetz anzuwenden sind oder ob insofern die jeweils im Entscheidungszeitpunkt geltende Fassung des BVergG relevant ist, kann hier dahingestellt bleiben, weil – soweit hier relevant – keine Änderung der Rechtslage eingetreten ist (§ 337 Abs 1 BVergG 2006 idF BGBl I 10/2012 und § 369 Abs 1 BVergG 2018 [BGBl I 65/2018]; § 341 Abs 3 BVergG 2006 idF BGBl I 10/2012 und § 373 Abs 3 BVergG 2018 [BGBl I 65/2018]).

2. Zur Zulässigkeit des Rechtswegs im Hinblick auf § 341 BVergG 2006 idF BGBl I 10/2012:

2.1. Die hier relevanten Bestimmungen des Bundesvergabegesetzes (idF nur: BVergG) lauten:

Schadenersatzansprüche

§ 337. (1) Bei hinreichend qualifiziertem Verstoß gegen dieses Bundesgesetz oder die auf Grund dieses Bundesgesetzes ergangenen Verordnungen durch Organe des Auftraggebers oder einer vergebenden Stelle hat ein übergangener Bewerber oder Bieter gegen den Auftraggeber, dem das Verhalten der Organe zuzurechnen ist, Anspruch auf Ersatz der Kosten der Angebotsstellung und der Kosten der Teilnahme am Vergabeverfahren.

(2) Kein Anspruch nach Abs. 1 besteht, wenn nach Zuschlagserteilung oder nach Erklärung des Widerrufs eines Vergabeverfahrens durch die jeweils zuständige Vergabekontrollbehörde festgestellt worden ist, dass der übergangene Bewerber oder Bieter auch bei Einhaltung der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes und der hiezu ergangenen Verordnungen keine echte Chance auf Erteilung des Zuschlages gehabt hätte oder wenn der Geschädigte den Schaden durch Beantragung einer einstweiligen Verfügung sowie durch Stellen eines Nachprüfungsantrages hätte abwenden können.

Verhältnis zu sonstigen Rechtsvorschriften

§ 340. Im Übrigen bleiben die nach anderen Rechtsvorschriften bestehenden Ersatzansprüche, Unterlassungsansprüche, Solidarhaftungen sowie Rücktritts- und andere Gestaltungsrechte unberührt.

Zuständigkeit und Verfahren:

§ 341. [...]

(2) Eine Schadenersatzklage ist nur zulässig, wenn zuvor eine Feststellung der jeweils zuständigen Vergabekontrollbehörde erfolgt ist, dass

[…]

5. die Erklärung des Widerrufs eines Vergabeverfahrens wegen eines Verstoßes gegen dieses Bundesgesetz, die hierzu ergangenen Verordnungen oder unmittelbar anwendbares Unionsrecht rechtswidrig war, oder

[…]

(3) Abweichend von Abs. 2 ist eine Schadenersatzklage zulässig, wenn die Erklärung des Widerrufs eines Vergabeverfahrens zulässig war, aber vom Auftraggeber durch einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen andere Bestimmungen dieses Bundesgesetz, die hierzu ergangenen Verordnungen oder gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verursacht wurde. Eine derartige Schadenersatzklage ist unzulässig, sofern die behauptete Verursachung der Erklärung des Widerrufs in einem Verstoß besteht, der im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens gemäß den §§ 320 ff geltend gemacht hätte werden können.“

2.2. Im Fall des Widerrufs eines Vergabeverfahrens durch den Auftraggeber ist zu unterscheiden zwischen dem rechtswidrigen Widerruf wegen eines Verstoßes gegen das BVergG, die hiezu ergangenen Verordnungen oder unmittelbar anwendbares Unionsrecht, bei dem als Prozessvoraussetzung vor der Schadenersatzklage eine Feststellungsentscheidung der Vergabekontrollbehörde einzuholen ist (§ 341 Abs 2 BVergG) und dem zulässigen Widerruf, der durch hinreichend qualifizierten Verstoß gegen die genannten Bestimmungen verursacht wurde und bei dem die vorherige Erlangung eines Feststellungsbescheids keine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Rechtswegs ist (§ 341 Abs 3 BVergG). Im Fall des zulässigen Widerrufs, ist nämlich ein Verfahren zur Feststellung der Vergabegesetzwidrigkeit der Ausschreibung während eines anhängigen Nachprüfungsverfahrens gar nicht möglich (vgl 7 Ob 56/08y; 10 Ob 21/18p; RS0123776; VwGH 2012/04/0133; Holoubek/Fuchs/Holzinger, Vergaberecht4, 207 f; Aicher in Schramm/Aicher/Fruhmann, Bundesvergabegesetz 20062 § 341 Rz 11). Zur Vermeidung der dadurch entstehenden Rechtsschutzlücke normiert § 341 Abs 3 BVergG die (sofortige) Zulässigkeit einer Schadenersatzklage nach Erklärung des Widerrufs (10 Ob 21/18p; Reisner in Haid/Preslmayr, Handbuch Vergaberecht4, Rz 2238).

2.3. Die Parteien gehen hier übereinstimmend von der Zulässigkeit des Widerrufs der Beklagten aus. Damit war ein Verfahren zur Feststellung der Vergabegesetzwidrigkeit gemäß § 341 Abs 2 BVergG nicht möglich.

Die Zulässigkeit des Rechtswegs ist zu bejahen (vgl auch Aicher in Schramm/Aicher/Fruhmann, Kommentar zum Bundesvergabegesetz 2006 § 341 Rz 11).

3. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Kosten des Vergabeverfahrens eingeklagt werden:

Der Geltendmachung von Vertretungskosten im Vergabeverfahren als materiell-rechtliche Schadenersatzforderung steht nicht entgegen, dass das Ergebnis der Kosten verursachenden Maßnahmen gegebenenfalls auch eine spätere Prozessführung fördern könnte, wenn evident ist, dass die Maßnahmen in erster Linie einen anderen Zweck verfolgten als die Vorbereitung eines gerichtlichen Verfahrens; dazu gehören auch Kosten im Zusammenhang mit einem auf Nichtigerklärung einer vergaberechtswidrigen Ausschreibung gerichteten Verfahren (RS0121198). Dies gilt auch für Vertretungskosten im Nachprüfungsverfahren gegen Entscheidungen des Auftraggebers, mit welchem sich der Bewerber/Bieter bemüht, „sich im Vergabeverfahren zu halten“. Es werden insoweit nicht vorprozessuale Kosten geltend gemacht, für die der Klagsweg nicht offen stünde (7 Ob 148/01t; 1 Ob 85/05i; 6 Ob 85/06b; 7 Ob 101/12x; 3 Ob 203/14w; 10 Ob 21/18p; RS0121198; Aicher in Schramm/Aicher/Fruhmann, Kommentar zum Bundesvergabegesetz 2006 § 337 Rz 45).

4. Dem Revisionsrekurs ist daher Folge zu geben.

5. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen und weil die Vorinstanzen – wenn auch in anderem Zusammenhang – bereits materiell-rechtliche Erwägungen angestellt haben, kann schon jetzt auf Folgendes hingewiesen werden:

5.1. Der Ersatz der Beteiligungskosten am Vergabeverfahren ist nach der Rechtsprechung im BVergG abschließend geregelt. Insofern besteht keine Anspruchskonkurrenz mit dem allgemeinen Schadenersatzrecht, wie culpa in contrahendo (7 Ob 101/12x; 3 Ob 203/14w; 10 Ob 21/18p; RS0128318).

Beim Anspruch auf Ersatz der Kosten der Angebotsstellung und der Kosten der Teilnahme am Vergabeverfahren gemäß § 337 Abs 1 BVergG handelt es sich um einen Vertrauensschadenersatzanspruch eigener Art (10 Ob 21/18p; RS0016377).

         5.2. Die Richtlinie des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (89/665/EWG), und die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Änderung der Richtlinien 89/665/EWG und 92/13/EWG des Rates im Hinblick auf die Verbesserung der Wirksamkeit der Nachprüfungsverfahren bezüglich der Vergabe öffentlicher Aufträge, statuieren ganz allgemein ein Gebot an die Mitgliedstaaten, geeignete Verfahren zu schaffen, um die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen und die Entschädigung der durch einen Verstoß Geschädigten zu ermöglichen. Dabei ist für die nationale Rechtslage folgendermaßen zu differenzieren:

§ 337 BVergG enthält die gebotene und auch so bezeichnete Regelung für „Schadenersatzansprüche“. Diese Bestimmung ist demnach die materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage für den „Ersatz der Kosten der Angebotsstellung und der Kosten der Teilnahme am Vergabeverfahren“. Davon zu unterscheiden ist § 341 BVergG, der schon nach seiner Bezeichnung und systematischen Stellung jene Norm bildet, die (alleine) die zuständigkeits- und verfahrensrechtliche Regelung enthält. Daher folgt bei richtlinienkonformer Auslegung der genannten Bestimmungen insbesondere unter Berücksichtigung ihrer getrennten Regelungsbereiche aus § 341 Abs 3 BVergG keine materiell-rechtliche Einschränkung der in § 337 BVergG vorgesehenen Ansprüche. Materiell-rechtlich findet daher auf diesen Schadenersatzanspruch § 337 Abs 1 BVergG Anwendung.

5.3. Nach der Judikatur des VwGH ist eine bloß unzutreffende Begründung einer Widerrufsentscheidung kein Grund für deren Nichtigerklärung, sodass auch ein „Nachschieben“ von Widerrufsgründen zulässig ist (vgl VwGH 2008/04/0054, 2008/04/0109). Das bedeutet, dass bereits ein zulässiger Widerrufsgrund die (gesondert) anfechtbare (§ 2 Z 15 dd BVergG) Widerrufsentscheidung zulässig macht.

Im vorliegenden Fall gehen beide Parteien davon aus, dass der Widerruf der Beklagten zulässig erfolgte. Daher kommt es auf die Frage, ob der nachgeschobene Grund (auch) einen zulässigen Widerrufsgrund dargestellt hätte oder nicht, nicht mehr an. Der Widerruf bleibt zulässig.

5.4. Es sind daher die von der Klägerin behaupteten Vergaberechtswidrigkeiten der Ausschreibung dahin zu prüfen, ob sie iSv § 337 Abs 1 BVergG einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen Bestimmungen dieses Bundesgesetzes, die hiezu ergangenen Verordnungen oder gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht darstellen, die nach dem Widerruf zum frustriert gebliebenen Nachprüfungsverfahren führten. Bejahendenfalls stellt sich die Frage, welche angemessenen Kosten der Klägerin dadurch entstanden sind.

5.5. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass bei einem allenfalls unvollständig gebliebenen Vorbringen einer Partei zu prüfen ist, ob dieses im Sinn des § 182 ZPO zu erörtern ist (§ 182a ZPO).

6. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E129169

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00219.19K.0916.000

Im RIS seit

30.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

07.12.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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