TE OGH 2020/6/29 2Ob27/20i

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Veröffentlicht am 29.06.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** W*****, vertreten durch Ing. Mag. Klaus Helm, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagten Parteien 1. M***** S*****, und 2. W***** Versicherung AG *****, beide vertreten durch Mag. Manfred Schaffer, Rechtsanwalt in Pfarrwerfen, wegen zuletzt 12.160 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 4. Dezember 2019, GZ 22 R 338/19p-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 25. Oktober 2019, GZ 5 C 14/19w-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung einschließlich der bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile zu lauten hat:

„1. Die Klagsforderung besteht mit 11.400 EUR zu Recht.

2. Die eingewendete Gegenforderung besteht nicht zu Recht.

3. Die beklagten Parteien sind daher zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 11.400 EUR samt 4 % Zinsen aus 6.160 EUR von 19. 1. 2019 bis 10. 9. 2019 und aus 11.400 EUR seit 11. 9. 2019 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

4. Es wird festgestellt, dass die beklagten Parteien der klagenden Partei zur ungeteilten Hand für sämtliche zukünftigen, derzeit nicht bekannten Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 3. 7. 2018 auf der Bundesstraße B ***** bei Straßenkilometer 43,850 im Ortsgebiet von B***** haften, wobei die Haftung der zweitbeklagten Partei der Höhe nach mit der zum Unfallszeitpunkt geltenden Haftungshöchstsumme des Haftpflichtversicherungsvertrages für den PKW mit dem Kennzeichen ***** beschränkt ist.

5. Das Mehrbegehren, die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei weitere 760 EUR samt 4 % Zinsen seit 11. 9. 2019 zu bezahlen, wird abgewiesen.“

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 14.606,05 EUR (darin enthalten 1.439,63 EUR USt und 5.968,28 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am ***** 2018 ereignete sich im Ortsgebiet von B***** auf der B ***** bei Straßenkilometer 43,850 ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker und Halter eines Motorrads und die Erstbeklagte als Lenkerin und Halterin eines bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW beteiligt waren.

Die Bundesstraße weist im Bereich der Unfallörtlichkeit in jeder Fahrtrichtung einen Fahrstreifen auf. In Fahrtrichtung des Klägers hatte der Lenker eines Klein-LKW samt Autoanhänger rechts blinkend vor der Ein- und Ausfahrt einer Tankstelle angehalten, um nach rechts in diese einzubiegen. Das war ihm nicht möglich, weil sich im Einmündungstrichter der PKW der Erstbeklagten befand, die aus der Tankstelle in die Bundesstraße einbiegen wollte. Hinter dem Klein-LKW hatte sich eine Fahrzeugkolonne gebildet.

Der Kläger fuhr an fünf bis acht Fahrzeugen der Fahrzeugkolonne rechts vorbei und wechselte, nachdem er das letzte Fahrzeug hinter dem Klein-LKW passiert hatte, auf den linke Fahrstreifen, also auf den Gegenverkehrsstreifen, um auch an dem Klein-LKW vorbeizufahren. Zur gleichen Zeit beabsichtigte die Erstbeklagte mit ihrem PKW vor dem Klein-LKW nach links in die Bundesstraße einzubiegen und fuhr mit einer Geschwindigkeit von 4 bis 5 km/h in die Bundesstraße ein. Die Sicht nach links war durch den Klein-LKW verdeckt. Der Kläger fuhr mit einer Geschwindigkeit von 45 bis 50 km/h an dem Klein-LKW vorbei. Etwa im Bereich der Mittellinie der Bundesstraße kam es zur Kollision zwischen dem Motorrad und dem PKW, wobei der Kläger über die Motorhaube des PKW stürzte. Eine Reaktionsverspätung auf Seiten der Erstbeklagten oder des Klägers lag nicht vor. Hätte die Erstbeklagte ihr Fahrzeug „vortastend“ bis zur Mittelleitlinie bzw bis zur ausreichenden Sichtgewinnung auch nach links in die Bundesstraße hineinbewegt, wäre das Unfallgeschehen zu vermeiden gewesen; ebenso bei einer Fahrgeschwindigkeit des Motorrads von 15 bis 20 km/h.

Durch den Unfall erlitt der Kläger einen Bruch des Kahnbeins der rechten Hand und eine Prellung/Zerrung des linken Handgelenks. Er hatte zwei Tage starke, acht Tage mittelstarke und 62 Tage leichte Schmerzen zu erdulden. Es verblieb eine Bewegungseinschränkung des rechten Handgelenks als Dauerfolge. Spätfolgen sind nicht auszuschließen. Die objektive Wertminderung des Motorrads betrug 3.000 EUR. Dem Kläger entstanden 160 EUR an weiteren unfallkausalen Kosten, der Erstbeklagten 60 EUR. Die Reparaturkosten des Beklagtenfahrzeugs betrugen 6.430,40 EUR.

Der Kläger begehrte zuletzt 12.160 EUR sA an Schadenersatz (10.000 EUR Schmerzengeld, 3.000 EUR Fahrzeugschaden, 160 EUR Unkosten, abzüglich 1.000 EUR Privatbeteiligtenzuspruch) sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für sämtliche, aus dem Verkehrsunfall resultierenden Dauer- und Folgeschäden. Er brachte vor, das Alleinverschulden am Verkehrsunfall treffe die Erstbeklagte, die sich beim Einfahren in die Bundesstraße nicht „vorgetastet“ und den Vorrang des Klägers verletzt habe.

Die beklagten Parteien wendeten eine Gegenforderung von 6.430,40 EUR (6.370,40 EUR Reparaturkosten des Beklagtenfahrzeugs, 60 EUR Unkosten) ein und brachten vor, das Alleinverschulden am Verkehrsunfall treffe den Kläger. Dieser sei mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit gefahren. Er hätte angesichts der Kolonnenbildung damit rechnen müssen, dass sich vor der Kolonne ein Hindernis befinde und angesichts der eingeschränkten Sicht gänzlich vom Vorbeifahren absehen oder seine Geschwindigkeit soweit reduzieren müssen, dass er das Klagsfahrzeug beim Auftauchen eines Hindernisses jederzeit kollisionsfrei zum Stillstand bringen könne.

Das Erstgericht erkannte die Klagsforderung mit 5.200 EUR und die Gegenforderung mit 3.215,20 EUR als zu Recht bestehend und gab dem Zahlungsbegehren im Umfang von 1.984,80 EUR sA sowie dem Feststellungsbegehren zur Hälfte statt. Es erachtete eine Verschuldensteilung von 1 : 1 für gerechtfertigt. Der Kläger habe gegen § 12 Abs 5 StVO verstoßen, weil er beim Vorbeischlängeln an der stehenden Fahrzeugkolonne und am Klein-LKW nicht die erforderliche Geschwindigkeit von 15 bis 20 km/h eingehalten und dadurch das ein- bzw abbiegende Beklagtenfahrzeug gefährdet und behindert habe. Die Erstbeklagte sei trotz Sichtbehinderung durch den Klein-LKW ohne sich „vorzutasten“ in die Bundesstraße eingebogen und habe den Vorrang des Klägers (§ 19 Abs 6 StVO) verletzt. Ein Schmerzengeld von (ungekürzt) 9.240 EUR sei angemessen. Zuzüglich der übrigen Schadenspositionen und unter Berücksichtigung der Verschuldensteilung und des Privatbeteiligtenzuspruchs ergebe sich nach Aufrechnung mit der Gegenforderung der dem Kläger zugesprochene Betrag.

Das nur vom Kläger angerufene Berufungsgericht bestätigte das erstinstanzliche Urteil. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und ließ die ordentliche Revision zunächst nicht zu.

Das Berufungsgericht war der Ansicht, das Vorbeifahren nach § 17 Abs 1 StVO sei grundsätzlich nur gestattet, wenn dadurch andere Straßenbenützer weder gefährdet noch behindert werden. Wegen der Sichtbehinderung durch den am rechten Fahrstreifen angehaltenen Klein-LKW hätte der Kläger an diesem nicht mit einer Geschwindigkeit von 45 bis 50 km/h auf dem Gegenverkehrsstreifen vorbeifahren dürfen. Er hätte damit rechnen müssen, dass dem Klein-LKW die Zufahrt zur Tankstelle aufgrund eines von dort ausfahrenden Fahrzeugs oder eines anderen Hindernisses nicht möglich gewesen sei. Er hätte sich deshalb auf die Möglichkeit eines solchen Hindernisses einstellen und entweder vor dem Einmündungstrichter der Tankstelle ebenfalls anhalten müssen oder zumindest nur mit äußerster Vorsicht und Aufmerksamkeit am stehenden Klein-LKW vorbeifahren dürfen. Bei einer derart gravierenden Geschwindigkeitsüberschreitung sei das vom Erstgericht angenommene gleichteilige Verschulden sachgerecht. Auch der ausgemittelte Schmerzengeldbetrag bewege sich im Rahmen des Ermessensspielraums.

Auf Antrag des Klägers ließ das Berufungsgericht die ordentliche Revision nachträglich mit der Begründung zu, es habe zwar die krasse Geschwindigkeitsüberschreitung des Klägers der Vorrangverletzung der Erstbeklagten gegenübergestellt. Es sei aber nicht auszuschließen, dass es dem Schutzzweck des § 17 Abs 1 StVO im Sinn der Entscheidung 8 Ob 250/81 zu wenig Rechnung getragen habe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit dem Abänderungsantrag, dem Klagebegehren zur Gänze stattzugeben; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.

Die beklagten Parteien beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Judikatur des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist. Sie ist auch teilweise berechtigt.

Der Kläger macht geltend, der Schutzzweck des § 17 Abs 1 StVO umfasse nicht Straßenbenützer, die aufgrund einer Vorrangbestimmung gegenüber dem Vorbeifahrenden wartepflichtig seien. Der Kläger habe nicht damit rechnen müssen, dass die Erstbeklagte unter Missachtung seines Vorrangs in den von ihm benützten Fahrstreifen einfahre. Er sei berechtigt gewesen, unter Einhaltung der im Ortsgebiet zulässigen Höchstgeschwindigkeit an dem angehaltenen Fahrzeug vorbeizufahren.

Hiezu wurde erwogen:

1. Der Erstbeklagten liegt eine Vorrangverletzung zur Last:

Durch den Verzicht eines Verkehrsteilnehmers auf „seinen“ Vorrang wird der Vorrang anderer Verkehrsteilnehmer, also auch der eines Vorbeifahrenden, nicht betroffen (RS0074845). Im Revisionsverfahren ist nicht mehr strittig, dass der Erstbeklagten gegenüber dem Kläger eine Vorrangverletzung (§ 19 Abs 6 und 7 StVO) zur Last liegt, weil sie trotz Sichtbehinderung nicht „vortastend“ in die bevorrangte Verkehrsfläche eingefahren ist (2 Ob 136/19t; 2 Ob 110/01t; RS0074932).

2. Den Kläger trifft am Zustandekommen des Unfalls kein Mitverschulden:

2.1 Kein Verstoß des Klägers gegen § 17 Abs 1 StVO:

2.1.1 Gemäß § 17 Abs 1 Satz 1 StVO ist das Vorbeifahren nur gestattet, wenn dadurch andere Straßenbenützer, insbesondere entgegenkommende, weder gefährdet noch behindert werden. Unter den anderen Straßenbenützern, die durch die Vorbeifahrt nicht behindert werden dürfen, können Straßenbenützer, die gegenüber dem Vorbeifahrenden keinen Anspruch auf Nichtbehinderung haben, nicht verstanden werden. Wer aufgrund einer Vorrangbestimmung gegenüber dem Vorbeifahrenden wartepflichtig ist, hat diesem gegenüber keinen Anspruch auf Nichtbehinderung (2 Ob 297/04x; 2 Ob 2420/96p; 8 Ob 250/81 ZVR 1982/209; RS0074094 [T1]).

2.1.2 Die benachrangte Erstbeklagte war somit vom Schutzzweck des § 17 Abs 1 StVO nicht umfasst. Ein haftungsbegründendes Mitverschulden des Klägers kann daher nicht auf diese Bestimmung gestützt werden.

2.2 Dem Kläger ist keine (relativ) überhöhte Geschwindigkeit vorzuwerfen:

2.2.1 Nach den Feststellungen war für den Kläger das Einfahren der Erstbeklagten in die Bundesstraße nicht erkennbar, weil die Sicht durch den Klein-LKW verdeckt war.

2.2.2 Zu vergleichbaren Verkehrssituationen hat der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen, dass bloß abstrakt mögliche Gefahrenquellen bei der Wahl einer Geschwindigkeit unter 50 km/h im Ortsgebiet nicht in Rechnung gestellt zu werden brauchen (8 Ob 250/81 ZVR 1982/209; 8 Ob 73/80 ZVR 1981/84 mwN). Dem Vorbeifahrenden kann nicht die Verpflichtung auferlegt werden, das von einem anderen Verkehrsteilnehmer gesetzte verkehrsordnungswidrige Verhalten noch vor dessen Erkennbarkeit durch die Wahl einer so geringen Fahrgeschwindigkeit in Rechnung zu stellen, die es ihm ermöglicht, auch bei Missachtung seines Vorrangs sein Fahrzeug rechtzeitig zum Stillstand zu bringen (8 Ob 250/81 ZVR 1982/209 mwN [vor Kreuzung angehaltener PKW]; vgl auch 2 Ob 2420/96p [vor Kreuzung angehaltener LKW-Zug]; 8 Ob 73/80 ZVR 1981/84 [angehaltene Kolonne]). Der Kläger musste daher nicht damit rechnen, dass ein Fahrzeug aus der Tankstellenausfahrt unter Missachtung seines Vorrangs vor dem zum Rechtseinbiegen angehaltenen Klein-LKW in den von ihm benützten Fahrstreifen einfahren werde.

2.2.3 Aus diesen Gründen lag für den Kläger auch keine rechtzeitig erkennbare unklare Verkehrssituation, die die Einhaltung besonderer Vorsicht und einer geringeren Geschwindigkeit als 45 km/h verlangt hätte (vgl RS0073128) vor.

2.3 Auf eine in ihrer Revisionsbeantwortung angedeutete Einhaltung eines zu geringen Seitenabstands durch den Kläger beim Vorbeifahren am Klein-LKW haben sich die beklagten Parteien im erstinstanzlichen Verfahren nicht gestützt. Feststellungen dazu wurden demnach (richtigerweise) auch nicht getroffen.

3. Gegen die Bemessung des Schmerzengeldes durch die Vorinstanzen enthält die Revision keine inhaltlichen Ausführungen, sodass es bei dem Betrag von 9.240 EUR zu bleiben hat.

4. Ergebnis:

Die Revision des Klägers hat daher teilweise Erfolg. Die Entscheidung ist dahin abzuändern, dass die Klagsforderung mit 11.400 EUR als zu Recht bestehend, die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend erkannt und dem Klagebegehren im Umfang von 11.400 EUR sA stattgegeben wird. Das Mehrbegehren von 760 EUR sA an Schmerzengeld ist abzuweisen.

5. Kosten:

Die Kostenentscheidung des erstinstanzlichen Verfahrens gründet sich auf § 41 Abs 1 ZPO und hinsichtlich des letzten Verfahrensabschnitts auf § 43 Abs 2 ZPO.

Die Kostenentscheidung des Rechtsmittelverfahrens beruht auf § 43 Abs 2 erster Fall iVm § 50 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E128965

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00027.20I.0629.000

Im RIS seit

02.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.06.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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