TE OGH 2020/4/24 2Ob158/19b

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Veröffentlicht am 24.04.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J***** W*****, vertreten durch Rechtsanwälte Pieler & Pieler & Partner KG in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. E***** S*****, und 2. V***** Versicherungs-Aktiengesellschaft, *****, beide vertreten durch Dr. Wolfgang Miller, Rechtsanwalt in Wien, wegen 68.408,50 EUR sA und Feststellung (Streitwert 10.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 31. Juli 2019, GZ 11 R 105/19w-25, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die Klägerin lief bei Tageslicht und trockener Fahrbahn vor einer Straßenbahn, die hinter einem zum Linksabbiegen eingeordneten PKW angehalten hatte, aus Sicht des Straßenbahnfahrers von links nach rechts über die Fahrbahn, ohne auf das rechts neben der Straßenbahn herannahende Beklagtenfahrzeug zu achten. Die Erstbeklagte fuhr mit dem Beklagtenfahrzeug am rechten Fahrstreifen an der angehaltenen Straßenbahn mit 28 km/h (bei grundsätzlich erlaubten 50 km/h) und einem ohne Außenspiegel berechneten Seitenabstand von 1,2 m vorbei. Als sie die bis dahin von der Straßenbahn verdeckte Klägerin erstmals erkennen konnte, leitete die Erstbeklagte sofort eine Vollbremsung ein. Dennoch wurde die Klägerin vom Beklagtenfahrzeug erfasst und verletzt.

Rechtliche Beurteilung

Das Berufungsgericht bestätigte das die unter Anerkennung eines Mitverschuldens von 50 % geltend gemachten Schadenersatzansprüche der Klägerin abweisende Urteil des Erstgerichts und ließ die ordentliche Revision nicht zu. In ihrer dagegen gerichteten außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:

1. Die Frage, ob bei objektiver Beurteilung (2 Ob 126/01w) für die Erstbeklagte eine unklare Verkehrssituation vorlag, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und erfüllt in der Regel nicht die Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO (2 Ob 80/11w; RS0044241 [T32]).

Nach ständiger Rechtsprechung muss ein Kraftfahrer seine Fahrweise nicht von vornherein darauf einstellen, dass Fußgänger vor oder hinter anhaltenden Fahrzeugen unachtsam und ohne Rücksicht auf den Fahrzeugverkehr die Fahrbahn zu überqueren suchen. Er braucht lediglich damit zu rechnen, dass ein Fußgänger so weit hervortreten werde, dass er sich einen Überblick über den Verkehr verschaffen kann (2 Ob 53/95 [angehaltener Schibus]; 2 Ob 47/89 [angehaltene Fahrzeugkolonne]; 2 Ob 53/88 [angehaltener Omnibus]; 8 Ob 67/87 [Fahrzeug des Straßendienstes]; 2 Ob 99/71 [angehaltener Omnibus]; vgl 2 Ob 15/91 [Bauhütte]; vgl RS0073766).

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen war für die Erstbeklagte das vor der Straßenbahn zum Linksabbiegen eingeordnete Fahrzeug erkennbar. Die Ansicht des Berufungsgerichts, für die Erstbeklagte sei trotz eines kurzen neuerlichen Anfahrens und Anhaltens der Straßenbahn keine unklare Verkehrssituation vorgelegen, weil sie mit dem Fehlverhalten der Klägerin nicht zu rechnen brauchte, hält sich im Rahmen der dargelegten Rechtsprechung.

2. Die Frage, welcher Abstand beim Vorbeifahren an einem stehenden Kraftfahrzeug und dergleichen einzuhalten ist, hängt weitgehend von der im Einzelfall bestehenden Verkehrslage ab (2 Ob 15/91). Zu Kollisionen zwischen an stehenden Fahrzeugen vorbeifahrenden anderen Kraftfahrzeugen und Fußgängern besteht umfangreiche Rechtsprechung, auch zum Vorbeifahren an öffentlichen Verkehrsmitteln. Danach ist ein Seitenabstand einzuhalten, der es einem Fußgänger gestattet, ungefährdet zwischen den oder hinter den angehaltenen Fahrzeugen ein kleines Stück hervorzutreten, um sich einen Überblick über die Verkehrslage verschaffen zu können (siehe Punkt 1.).

Die Beurteilung des Berufungsgerichts, selbst unter Berücksichtigung eines „Spiegelüberstands“ habe die Erstbeklagte im Hinblick auf ihre langsame Fahrgeschwindigkeit einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten, begegnet ebenso keinen Bedenken wie dessen Ansicht, die Erstbeklagte treffe daher kein Verschulden am Verkehrsunfall (vgl 2 Ob 53/88).

3. Auch der Umfang der gemäß § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt hängt von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab (RS0111708). Ein verkehrswidriges Verhalten von Fußgängern stellt für den Lenker eines Kraftfahrzeugs dann ein unabwendbares Ereignis dar, wenn er nach den konkreten Umständen damit nicht zu rechnen brauchte und er den Unfall auch bei Anwendung der Vorsicht und Aufmerksamkeit eines besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers nicht verhindern konnte. Deuten Anzeichen darauf hin, dass der Fußgänger die Fahrbahn überqueren könnte, muss der Kraftfahrer darauf durch Herabsetzen der Geschwindigkeit oder Abgabe eines Warnsignals reagieren, um dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 EKHG zu entsprechen (RS0058217 [T1]).

In der von der Revisionswerberin mehrfach zitierten Entscheidung 2 Ob 53/88 war dem PKW-Lenker, der im Ortsgebiet an einem am rechten Fahrbahnrand angehaltenen Omnibus mit 50 km/h und einem Seitenabstand von ca 1 m vorbeigefahren war und ein vor dem Bus über die Fahrbahn laufendes Kind erfasst hatte, der Entlastungsbeweis nicht gelungen, weil für einen besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrer die Überlegung nahelag, dass sich im Bereich dieses Fahrzeugs Personen befinden könnten, die dem Straßenverkehr nicht die erforderliche Aufmerksamkeit zuwendeten. Vergleichbare Überlegungen führten auch in den Entscheidungen 2 Ob 99/91 (in der Haltestelle haltender Omnibus), 8 Ob 67/87 (angehaltenes Fahrzeug des Straßendiensts in dessen Umgebung Straßenarbeiten durchgeführt wurden) sowie 2 Ob 53/95 (bei Haltestellenbucht anhaltender Omnibus) zum Misslingen des Entlastungsbeweises. Beim Vorbeifahren an einer angehaltenen Fahrzeugkolonne waren derartige Erwägungen hingegen nicht ausschlaggebend (2 Ob 47/89).

Die Ansicht des Berufungsgerichts, die Erstbeklagte habe im vorliegenden Fall einer außerhalb einer Haltestelle verkehrsbedingt angehaltenen Straßenbahn auch bei äußerster Sorgfalt nicht mit einer vor der Straßenbahn über die Fahrbahn laufenden Fußgängerin rechnen müssen, sodass sie im Hinblick auf ihre geringe Fahrgeschwindigkeit auch unter Zugrundelegung des Sorgfaltsmaßstabs des § 9 Abs 2 EKHG einen ausreichenden Seitenabstand eingehalten habe, hält sich im Rahmen dieser Rechtsprechung.

Textnummer

E128302

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00158.19B.0424.000

Im RIS seit

18.06.2020

Zuletzt aktualisiert am

29.06.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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