TE OGH 2020/1/30 2Ob6/20a

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Veröffentlicht am 30.01.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj P***** S*****, vertreten durch den Vater R***** S*****, dieser vertreten durch Dr. Gerhard Rößler, Rechtsanwalt in Zwettl, gegen die beklagte Partei Mag. Dr. Ulla Reisch, als Masseverwalterin im Konkurs über das Vermögen der N***** GmbH, *****, wegen 8.500 EUR sA und Feststellung (Streitwert 16.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 30. August 2016, GZ 2 R 27/16d-18, womit das „Zwischen- und Teilurteil“ (richtig: Teilzwischenurteil) des Landesgerichts Korneuburg vom 15. Dezember 2015, GZ 4 Cg 97/15b-12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I. Das mit Beschluss vom 26. Juni 2018, AZ 2 Ob 79/18h, gemäß § 90a GOG ausgesetzte Verfahren wird fortgesetzt.

II. Die Einschränkung des Klagebegehrens dahin, dass die nunmehr beklagte Masseverwalterin (nur) bei sonstiger Exekution in den Deckungsanspruch der N***** GmbH gegenüber ihrem Luftfahrthaftpflichtversicherer haftet, wird zur Kenntnis genommen.

III. Aus Anlass der Revision wird das Urteil des Berufungsgerichts im Umfang der Abweisung des Feststellungsbegehrens sowie der Kostenentscheidung als nichtig aufgehoben.

IV. Im Übrigen, hinsichtlich der Abweisung des Zahlungsbegehrens, wird der Revision Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden in diesem Umfang aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

V. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die minderjährige Klägerin flog im August (richtig) 2014 gemeinsam mit ihrer Familie mit einem Flugzeug der zunächst beklagten, nunmehr insolventen Fluglinie von Mallorca nach Wien. Etwa eine Stunde nach dem Start servierte die Flugbegleiterin Getränke. Zu diesem Zeitpunkt saß die Klägerin am Fensterplatz und lehnte (über die Armlehne zum benachbarten Sitz ihres Vaters hinüber gebeugt) im Hüft- und Brustbereich des Vaters. Der Vater der Klägerin nahm einen Becher Orangensaft sowie einen Pappbecher (ohne Abdeckung) mit frisch gebrühtem und heißem Kaffee entgegen, den er auf dem am Vordersitz angebrachten Abstellbrett abstellte. Er verlangte in der Folge noch Milch. In diesem Moment bemerkte die Flugbegleiterin, dass der Becher mit dem Kaffee zu rutschen begann. Sie machte den Vater darauf aufmerksam, dieser konnte jedoch nicht verhindern, dass der Becher kippte und sich über seinen rechten Oberschenkel und die Brust der Klägerin ergoss. Die Klägerin erlitt dadurch Verbrennungen zweiten Grades am Brustkorb vorne und links der Mitte in einer Gesamtausdehnung von etwa 2 bis 4 % der Körperoberfläche. Es konnte weder festgestellt werden, dass das Abstellbrett defekt gewesen und von vornherein schief gestanden wäre, noch dass der Kaffeebecher durch ein Vibrieren des Flugzeugs ins Rutschen gekommen wäre.

Die Klägerin macht nach Fortsetzung des wegen Insolvenzeröffnung unterbrochen gewesenen Verfahrens gegenüber der Insolvenzverwalterin der zunächst beklagten Fluggesellschaft Schmerzengeld und Verunstaltungs-entschädigung von zusammen 8.500 EUR bei Exekution in den Deckungsanspruch gegenüber dem Luftfahrthaftpflichtversicherer der Fluggesellschaft sowie die Feststellung der Haftung für zukünftige Unfallfolgen geltend. Die Beklagte hafte nach Art 17 Abs 1 Montrealer Übereinkommen (MÜ). Danach habe der Luftfrachtführer den Schaden zu ersetzen, der dadurch entstehe, dass ein Reisender während des Flugs getötet oder am Körper verletzt werde.

Die Beklagte wendete ein, die Haftung nach Art 17 MÜ scheitere am Vorliegen eines Unfalls, da kein plötzliches und unerwartetes Ereignis zum Rutschen des Kaffeebechers und zum Ausfließen des Kaffees geführt habe. Sollte doch ein Unfall vorliegen, sei er nicht durch die Beklagte bzw deren Mitarbeiter verursacht worden. Die nicht auf Art 17 und 21 MÜ beruhenden Ansprüche auf Zuerkennung einer Verunstaltungsentschädigung und auf Feststellung der Haftung für zukünftige Schäden setzten ein Verschulden der Beklagten voraus. Ein solches liege aber hier nicht vor, da die Flugbegleiterin das Service ordnungsgemäß durchgeführt, den Kaffeebecher sicher an den Vater der Klägerin übergeben und diesen unverzüglich gewarnt habe, als sie das Rutschen des Bechers bemerkt habe. Ferner wendete die Beklagte ein Mitverschulden der Klägerin ein, weil sie nicht ordnungsgemäß auf ihrem Sitzplatz gesessen sei und ihr Vater das Heißgetränk nicht auf der dafür vorgesehenen Einkerbung abgestellt habe.

Das Erstgericht erkannte mit (richtig) Teilzwischenurteil das Zahlungsbegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend. Der Umstand, dass der Becher umgefallen sei und sich die heiße Flüssigkeit auf die Klägerin ergossen habe, sei als Unfall iSd Art 17 MÜ anzusehen, weil dies auf ein ungewöhnliches, von außen eintretendes Ereignis zurückzuführen sei. Dabei habe sich auch eine im Luftverkehr typische Gefahr verwirklicht, weil ein Luftfahrzeug betriebsbedingt unterschiedliche Neigungen aufweise, die (im Allgemeinen) dazu führen könnten, dass auf einer waagrechten Fläche im Flugzeug abgestellte Gegenstände zu rutschen beginnen, ohne dass dafür ein besonderes Flugmanöver notwendig sei. Ein Verschulden der Beklagten liege nicht vor, weil das Servieren von heißen Getränken ohne Abdeckung allgemein üblich und sozial adäquat sei. Da keine Schrägstellung des Abstellbretts bemerkbar gewesen sei, hätte die Beklagte den Sitzplatz auch nicht sperren müssen. Die Klägerin treffe kein Mitverschulden, weil das Umkippen des Bechers für sie nicht vorhersehbar gewesen sei. Ein allfälliges Mitverschulden des Vaters der Klägerin sei dieser nicht zurechenbar.

Das Berufungsgericht wies die Klage zur Gänze (dh einschließlich des Feststellungsbegehrens) ab. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision zulässig sei.

Es erörterte rechtlich, unter Art 17 Abs 1 MÜ fielen nur solche Unfälle, die durch ein für die Luftfahrt typisches Risiko ausgelöst würden. Dafür sei die Klägerin beweispflichtig. Da die Ursache für das Umkippen des Bechers nicht habe geklärt werden können, sei ihr der Beweis nicht gelungen, dass ihre Verletzung durch einen für die Gefahren der Luftfahrt typischen Unfall verursacht worden sei. Eine Haftung der Beklagten nach Art 17 Abs 1 MÜ sei daher ausgeschlossen. Auch die von der Klägerin hilfsweise herangezogene Verschuldenshaftung der Beklagten komme nicht zum Tragen.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zum Unfallbegriff des Art 17 Abs 1 MÜ und zur luftverkehrsspezifischen Kausalität fehle.

Gegen diese Entscheidung „in ihrem gesamten Umfang“ richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, das erstgerichtliche (Teilzwischen-)Urteil wiederherzustellen; hilfsweise wurde ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen bzw ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist, soweit das angefochtene Urteil nicht aus ihrem Anlass als nichtig aufzuheben ist, im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Zu I.:

Der Oberste Gerichtshof hat aus Anlass der Revision mit Beschluss vom 26. 6. 2018, 2 Ob 79/18h, dem Gerichtshof der Europäischen Union eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt und das Revisionsverfahren gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt. Nach Einlangen des Urteils des Gerichtshofs vom 19. 12. 2019, C-532/18, ist das Revisionsverfahren von Amts wegen fortzusetzen.

Zu II.:

1. Die Klägerin hatte nach Unterbrechung des Verfahrens (2 Ob 92/17v) am 14. 3. 2018 die Fortsetzung des Verfahrens sowie die Richtigstellung der Parteibezeichnung der Beklagten auf die Masseverwalterin beantragt und gleichzeitig das Klagebegehren auf deren Haftung (nur) bei sonstiger Exekution in den Deckungsanspruch der N***** GmbH gegenüber ihrem Luftfahrthaftpflicht-versicherer eingeschränkt. Damit gab sie zu erkennen, dass sie nun nur noch ein Absonderungsrecht geltend macht (§ 6 Abs 2 IO; vgl 7 Ob 91/16g; RS0064041, RS0064068; zur Zulässigkeit auch für ein Feststellungsbegehren: 4 Ob 125/12d SZ 2012/80 mwN). In weiterer Folge fasste das Erstgericht einen – wenngleich nicht so bezeichneten – Aufnahmebeschluss (vgl 10 Ob 21/18p mwN; RS0037193), der unbekämpft in Rechtskraft erwuchs.

2. Als gesetzliche Folge des § 6 Abs 2 IO und des § 11 IO steht der Klagseinschränkung auch die Regelung des § 163 Abs 2 ZPO nicht entgegen (6 Ob 1/03w; auch 9 Ob 92/09h). Die Einschränkung des Klagebegehrens ist daher zulässig und zwar gemäß § 483 Abs 3 iVm § 513 ZPO auch noch im Revisionsverfahren (RS0039644, RS0081567), was mit deklarativem Ausspruch zur Kenntnis zu nehmen ist. Hingegen kommt ein Ausspruch über eine teilweise Wirkungslosigkeit der Urteile der Vorinstanzen schon mangels bisheriger Verurteilung zu einer Leistung bzw eines stattgebenden Feststellungsurteils nicht in Betracht.

Zu III.:

Aus Anlass der zulässigen Revision ist das angefochtene Urteil in der Abweisung des Feststellungsbegehrens als nichtig aufzuheben:

Das Berufungsgericht hat das Feststellungsbegehren der Klägerin abgewiesen, ohne dass dieses Gegenstand der erstinstanzlichen Entscheidung war. Es hat damit seine funktionelle Zuständigkeit überschritten. Die Entscheidung eines funktionell unzuständigen Gerichts ist als nichtig aufzuheben (vgl 2 Ob 233/08s; 8 Ob 55/12i; RS0042059). Diese Konsequenz erstreckt sich hier auch auf die Kostenentscheidung, deren Grundlage der nichtige Entscheidungspunkt bildete (vgl 8 Ob 55/12i).

Im weiteren Verfahren obliegt dem funktionell zuständigen Erstgericht die Entscheidung (auch) über das Feststellungsbegehren.

Zu IV.:

1. Der Anwendungsvorrang gemeinschafts- und völkerrechtlicher Regelungswerke gegenüber dem innerstaatlichen Recht ergibt sich aus § 146 Abs 1 LFG.

2. Die Verordnung (EG) Nr 2027/97 des Rates vom 9. 10. 1997, die mit 17. 10. 1998 in Kraft getreten ist, setzt in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr 889/2002 geänderten Fassung die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal über die Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck um und trifft zusätzliche Bestimmungen (Art 1). Gemäß Art 3 Abs 1 der Verordnung gelten für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft für Fluggäste und deren Gepäck alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal (MÜ).

Damit hat die Europäische Gemeinschaft die Grundsätze des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 28. 5. 1999 („Montrealer Übereinkommen“ – MÜ), in das europäische Recht übernommen. Die Verordnung betrifft nur die Haftung aus dem Beförderungsvertrag. Sie gilt für Luftfahrtunternehmen, die über die Betriebsgenehmigung eines Mitgliedstaats verfügen. Es sollte sichergestellt werden, dass für die Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft einheitliche Vorschriften unabhängig davon gelten, ob sie eine internationale, eine innergemeinschaftliche oder eine inländische Strecke befliegen (2 Ob 58/15s mwN).

3. Von Österreich wurde das MÜ mit Wirkung vom 28. 6. 2004 ratifiziert und ist seit damals Teil des innerstaatlichen Rechts (BGBl III 2004/131; 2 Ob 58/15s).

Der Zweck des MÜ liegt darin, durch gemeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen (Abs 5 der Präambel zum MÜ). Wie sich bereits aus der Bezeichnung ergibt („Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr“), werden darin bestimmte Ansprüche aus der Schlechterfüllung des Beförderungsvertrags (nämlich Personenschäden, Verspätung, Verlust, Verspätung und Beschädigung von Gütern und Reisegepäck) geregelt. Art 17 Abs 1 MÜ enthält die grundlegende Haftungsnorm für Personenschäden „Reisender“ (2 Ob 58/15s mwN).

4. Art 17 Abs 1 MÜ lautet wie folgt:

Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.

Das Haftungssystem des MÜ erhellt sich allerdings erst durch das Zusammenwirken von Art 17 mit Art 21 MÜ. Dieses ist danach zweistufig ausgestaltet: Bis zu einer individuellen Haftungshöchstgrenze – die vom vorliegenden Klagebegehren nicht erreicht wird – besteht eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung des Luftfrachtführers, welcher nur noch der Mitverschuldenseinwand des Art 20 MÜ entgegengehalten werden kann. Für darüber hinausgehende Individualschäden besteht eine der Höhe nach unbegrenzte Haftung für vermutetes Verschulden (Reuschle, Montrealer Übereinkommen² [2011] Art 17 Rn 2).

5. Haftungsvoraussetzung nach Art 17 Abs 1 MÜ ist eine durch einen Unfall hervorgerufene Rechtsgutverletzung (Tod oder Körperverletzung), die zu einem Vermögensschaden führt. Der konkrete Personenschaden muss sich also durch den Unfall ereignet haben, das Unfallereignis ist conditio sine qua non für den Schaden (Reuschle, Montrealer Übereinkommen Art 17 Rn 10 und 24; Schmid in Giemulla/Schmid/Müller-Rostin, Frankfurter Kommentar zum Luftverkehrsrecht [2011] Art 17 MÜ Rn 4 ff).

Weder das MÜ noch das ältere Warschauer Abkommen (WA) enthalten jedoch eine Definition des Begriffs „Unfall“. Nach der zum WA entwickelten Rechtsprechung handelt es sich bei einem Unfall um ein auf äußerer Einwirkung beruhendes plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmtes Ereignis, durch das der Reisende getötet oder verletzt wird. Der Betroffene erleidet für ihn selbst unerwartet einen Schaden (vgl insb U.S. Supreme Court, No. 83-1785, Air France v. Saks; ausführlich zum Unfallbegriff Jahnke, Haftung bei Unfällen im internationalen Luftverkehr [2008] 150 ff [158]; Schmid, Frankfurter Kommentar Art 17 MÜ Rn 7 ff; Reuschle, Montrealer Übereinkommen Art 17 Rn 13; jeweils samt Nachweisen aus der deutschen Rechtsprechung).

Es liegt beim Reisenden nachzuweisen, dass ein Unfall iSd Art 17 MÜ vorliegt (vgl 1 Ob 11/10i ZVR 2011/144 [Kathrein]; Schmid, Frankfurter Kommentar Art 17 MÜ Rn 48).

6. Strittig war allerdings, ob der Begriff des Unfalls und damit die Haftung auf Fälle einzuschränken ist, in denen sich ein für die Luftfahrt typisches Risiko verwirklichte, wie dies insbesondere die überwiegende deutsche Lehre und Rechtsprechung vertrat, oder ob dies kein Erfordernis für die Haftung des Luftfrachtführers ist (zum Meinungsstand vgl etwa Schmid, Frankfurter Kommentar Art 17 MÜ Rn 16; Reuschle, Montrealer Übereinkommen Art 17 Rn 5; zuletzt BGH X ZR 30/15 NJW 2018, 861; zu allem bereits ausführlich 2 Ob 79/18h). Von den das Erfordernis eines luftfahrtspezifischen Risikos ablehnenden Teilen der Lehre war demzufolge das Verschütten von heißen Getränken oder Speisen auf den Körper eines Reisenden als Unfall anerkannt, für dessen Folgen der Beförderer ohne weiteres haftet (vgl die Nachweise in 2 Ob 79/18h).

7. Der Senat hat zur Klärung der Rechtslage dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„Handelt es sich um einen die Haftung des Luftfrachtführers begründenden 'Unfall' im Sinn von Art 17 Abs 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft auf der Grundlage von Art. 300 Abs. 2 EG unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde (Montrealer Übereinkommen, MÜ), wenn ein Becher mit heißem Kaffee, der in einem in der Luft befindlichen Flugzeug auf dem Ablagebrett des Vordersitzes abgestellt ist, aus ungeklärter Ursache ins Rutschen gerät und umfällt, wodurch ein Fluggast Verbrühungen erleidet?“

8. Der EuGH beantwortete die Frage wie folgt:

„Art 17 Abs 1 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichnet und mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass der Begriff 'Unfall' im Sinne dieser Bestimmung jeden an Bord eines Luftfahrzeugs vorfallenden Sachverhalt erfasst, in dem ein bei der Fluggastbetreuung eingesetzter Gegenstand eine körperliche Verletzung eines Reisenden verursacht hat, ohne dass ermittelt werden müsste, ob der Sachverhalt auf ein luftfahrtspezifisches Risiko zurückgeht.“

9. Im vorliegenden Fall ist daher der Klägerin der Nachweis gelungen, dass ein Unfall iSd Art 17 MÜ für den von ihr erlittenen Schaden ursächlich war. Die von einem Verschulden unabhängige Haftung der Beklagten ist demnach zu bejahen.

10. Auf ihren (vom Erstgericht als unberechtigt erachteten) Einwand des Mitverschuldens der Klägerin kam die Beklagte in ihrer Berufung nicht mehr zurück. Dasselbe gilt für den Einwand, die Verunstaltungsentschädigung werde von der Haftung nach Art 17 MÜ nicht erfasst. Beide Einwände sind daher nicht mehr Gegenstand dieses Verfahrens (so bereits 2 Ob 79/18h).

11. Dennoch kann das Zwischenurteil des Erstgerichts nicht wiederhergestellt werden:

Ein Zwischenurteil ist erst dann zu fällen, wenn alle dem Grund des Anspruchs entgegenstehenden Einwendungen erledigt sind (RS0040935). Die Frage, ob der behauptete Absonderungsanspruch der Klägerin besteht, ist eine solche materiell-rechtlicher Natur, die den Grund des Anspruchs betrifft (vgl 7 Ob 145/13v; 7 Ob 133/14f). Die Masseverwalterin hatte bisher noch keine Möglichkeit, sich im Rahmen einer mündlichen Streitverhandlung zu dem Anspruch zu äußern.

Die über das Zahlungsbegehren absprechenden Entscheidungen der Vorinstanzen sind daher aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht den geltend gemachten Absonderungsanspruch mit den Parteien zu erörtern und der Masseverwalterin Gelegenheit zur Erstattung allfälligen Vorbringens zu geben haben.

Zu V.:

Der Kostenvorbehalt gründet sich – auch hinsichtlich des Ausspruchs zur Nichtigkeit (RS0035870) – auf § 52 Abs 1 dritter Satz ZPO.

Textnummer

E127432

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00006.20A.0130.000

Im RIS seit

26.02.2020

Zuletzt aktualisiert am

29.07.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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