TE OGH 2019/4/29 8Ob35/19h

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Veröffentlicht am 29.04.2019
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner, die Hofräte Dr. Hargassner und Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Stadt W*****, vertreten durch Mag. Thomas Marboe, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei E***** J*****, vertreten durch Mag. Dr. Johann Etienne Korab, Rechtsanwalt in Wien, wegen Aufkündigung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 16. Jänner 2019, GZ 40 R 313/18b-33, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die beklagte Mieterin bewohnt die Wohnung gemeinsam mit ihrem Ehemann. Seit im Jahre 2004 der bei der klagenden Vermieterin angestellte C***** B***** für das Haus als Hausbetreuer und Aufzugswart zuständig wurde, kam es zwischen diesem und dem Ehemann immer wieder zu Streitgesprächen. Diese endeten in cholerischen Beschimpfungen durch den Ehemann wie „Hurenvieh, Volltrottel, faule Sau“. Die Gespräche wurden vom Ehemann gesucht und betrafen Fragen, was im Haus zu reparieren sei, sowie ein von den Ehegatten am Gang neben ihrer Eingangstüre aufgestelltes Schuhkästchen und einen von ihnen am Dachboden aufgestellten Tisch. Am 24. 4. 2017 musste C***** B***** die Aufzugsanlage außer Betrieb nehmen, weil die Notrufanlage nicht funktionierte. Der Ehemann war über das Abschalten des Lifts sehr erbost, vermutete, dass C***** B***** dies absichtlich mache, damit er zu Fuß in den 5. Stock gehen müsse, und schlug diesem mit den Worten „Was hast du gemacht?“ mit der rechten Faust drei Mal und, nachdem C***** B***** einen Schritt zurückgewichen war, ein viertes Mal ins Gesicht. Die Beklagte, die Kenntnis von dem aufbrausenden Wesen ihres Gatten und dessen Vorbehalte gegen C***** B***** hatte, beobachtete den Vorfall zum Teil aus dem Fenster. C***** B***** erlitt beim Vorfall eine Prellung des rechten Ober- und Unterkiefers, eine dem Grad nach leichte Verletzung. Das wegen Körperverletzung gegen den Ehemann geführte strafrechtliche Ermittlungsverfahren wurde wegen Geringfügigkeit gemäß § 191 Abs 1 StPO eingestellt.

Die Vorinstanzen erklärten die gerichtliche Aufkündigung für rechtswirksam. Das Berufungsgericht sah den Kündigungsgrund nach § 30 Abs 2 Z 3 3. Fall MRG als erfüllt an.

Die Beklagte vermeint in ihrer Zulassungsbeschwerde ein Fehlen höchstgerichtlicher Rechtsprechung iSd § 502 Abs 1 ZPO zu den Fragen, „anhand welcher Kriterien eine mit Strafe bedrohte Handlung im Einzelfall als geringfügig zu beurteilen ist und inwieweit auch persönliche Verhältnisse der gekündigten Partei in die Einzelfallbeurteilung miteinzubeziehen sind“. Außerdem weiche die Berufungsinstanz von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ab bzw wende diese falsch an, „wenn sie die hinsichtlich der Bindungswirkung für freisprechende Urteile geltende Rechtslage ohne jegliche Begründung auch für Einstellungen der Staatsanwaltschaft anwendet“. Damit zeigt die Beklagte keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

Rechtliche Beurteilung

1. Gemäß § 30 Abs 2 Z 3 3. Fall MRG ist als wichtiger Grund, den Mietvertrag zu kündigen, insbesondere anzusehen, wenn der Mieter sich gegenüber dem Vermieter oder einer im Haus wohnenden Person einer mit Strafe bedrohten Handlung gegen das Eigentum, die Sittlichkeit oder die körperliche Sicherheit schuldig macht, sofern es sich nicht um Fälle handelt, die nach den Umständen als geringfügig anzusehen sind. Dem Verhalten des Mieters steht, soweit er es unterließ, die ihm mögliche Abhilfe zu schaffen, das Verhalten seines Ehegatten und der anderen mit ihm zusammenwohnenden Familienangehörigen sowie der von ihm sonst in die gemieteten Räume aufgenommenen Personen gleich (Z 3 letzter Halbsatz).

2. Dass ihr das Verhalten ihres Ehemanns im Sinn des letzten Halbsatzes von § 30 Abs 2 Z 3 MRG zugerechnet wird, zieht die Beklagte in ihrer außerordentlichen Revision ebenso wenig in Zweifel wie, dass C***** B***** dem geschützten Personenkreis des in Rede stehenden Kündigungsgrundes angehört. Nicht bezweifelt wird ferner, dass das Verhalten des Ehemanns § 83 Abs 1 StGB unterfällt.

3. § 30 Abs 2 Z 3 3. Fall MRG entspricht im Wesentlichen § 19 Abs 2 Z 3 2. Fall MietenG. Damit kann in Hinsicht auf die in der Zulassungsbeschwerde vorgetragenen Fragen auch auf die zur Vorgängerbestimmung ergangene höchstgerichtliche Rechtsprechung zurückgegriffen werden.

4. Das Gesetz spricht von einer mit Strafe bedrohten Handlung, verwendet somit die Einzahl, weshalb eine einzige Straftat genügt (3 Ob 415/56 = MietSlg 5.128). Der Kündigungsgrund der strafbaren Handlung ist bereits durch die strafbare Handlung an sich verwirklicht (2 Ob 242/06m = wobl 2007/79; RIS-Justiz RS0070257 [T2]). Es kommt nicht darauf an, ob durch die Straftat den Bewohnern das Zusammenleben verleidet wird, wie sich das „Gesamtverhalten“ des Mieters darstellt oder ob eine „ungünstige Zukunftsprognose“ vorliegt (8 Ob 35/17f = wobl 2018/16 mwN). Ob von letztem dahingehend eine Ausnahme zu machen ist, dass der Kündigungsgrund dann nicht verwirklicht ist, wenn ein Mitbewohner des Mieters die strafbare Handlung beging und sichergestellt ist, dass sich das strafbare Verhalten nicht wiederholen wird, etwa weil der Täter endgültig die Wohnung verlassen hat (so Lovrek in Böhm/Pletzer/Spruzina/Stabentheiner, GeKo Wohnrecht I § 30 MRG Rz 70), kann hier unerörtert bleiben. Dies wird weder releviert noch finden sich in den Feststellungen dafür Anhaltspunkte. Dass – wie in der außerordentlichen Revision vorgebracht – die Beklagte und ihr Ehemann bereits fortgeschrittenen Alters sind und Schwierigkeit haben könnten, mit ihren finanziellen Möglichkeiten am Wohnungsmarkt eine neue Wohnung zu finden, vermag hier nicht durchzuschlagen. Es kommt allein darauf an, ob der Mieter oder eine mit ihm im Sinn des letzten Halbsatzes der Z 3 zusammenlebende Person durch eine Handlung den
– objektiven und subjektiven (5 Ob 38/60 = MietSlg 8.133; 3 Ob 593/89 = MietSlg 42.312; RS0070257) – Tatbestand eines Strafdelikts erfüllt hat und bejahendenfalls, ob es sich um einen Fall handelt, der nach den Umständen nicht als geringfügig zu bezeichnen ist.

5. Eine strafrechtliche

Verurteilung ist nicht Voraussetzung für die gerichtliche Geltendmachung des Kündigungsgrundes. Der Zivilrichter hat in jedem Fall die Tatbestandsmäßigkeit des behaupteten Verhaltens des Mieters selbst zu prüfen (4 Ob 124/12g = wobl 2013/82 = RS0067682 [T6] = RS0070257 [T3])

, dies auch dann, wenn die Einstellung von der Staatsanwaltschaft „wegen Geringfügigkeit“ nach § 191 Abs 1 StPO vorgenommen wurde (vgl RS0106015 [T6]). An den Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft waren die Vorinstanzen daher entgegen der Ansicht der Beklagten nicht gebunden.

Im Übrigen darf nicht übersehen werden, dass § 191 StPO (vor BGBl I 2007/93: § 42 StGB – „

Mangelnde Strafwürdigkeit der Tat“) nur ein amtswegig wahrzunehmendes, auf verfahrensökonomischen Überlegungen beruhendes prozessuales Verfolgungshindernis normiert

(

RS0124922; zu § 42 StGB vgl RS0091966). Die grundsätzliche Strafbarkeit der angelasteten Bagatelltat lässt § 191 StPO unberührt (Schroll in Fuchs/Ratz, Wiener Kommentar zur StPO § 191 Rz 5). Zweck der Bestimmung des § 30 Abs 3 Z 3 3. Fall MRG ist es hingegen, den Hausfrieden zu wahren, sei es im Interesse der Hausgemeinschaft (1 Ob 76/63 = MietSlg 15.279), sei es im Interesse des Vermieters (2 Ob 580/93 = MietSlg 45.381; 2 Ob 242/06m = wobl 2007/79). Durch das Wort „geringfügig“ wird auf die geringe Eignung der Handlung, den Hausfrieden zu stören (bzw das Zusammenwohnen zu verleiden), hingewiesen (vgl 4 Ob 261/32 = MietSlg 12.142). Während die Geringfügigkeit bei § 191 StPO auf fehlender strafrechtlicher Verfolgungswürdigkeit beruht, beruht sie bei § 30 Abs 2 Z 3 3. Fall MRG auf zu geringer Eignung, den Hausfrieden zu stören. Das eine muss sich mit dem anderen nicht decken.

6. Bei der Wertung einer mit Strafe bedrohten Handlung als geringfügig iSd § 30 Abs 2 Z 3 3. Fall MRG kommt es daher vor allem auf die Eignung der Handlung an, den Hausfrieden zu stören (vgl 3 Ob 331/54 = MietSlg 3.961).

 

Eine Tat, die ein Verbrechen nach § 17 Abs 1 StGB darstellt, schließt nach einem Teil der höchstgerichtlichen Rechtsprechung immer (1 Ob 536/76 = MietSlg 28.303; vgl auch VwGH 94/12/0126 = MietSlg 47.558), nach einem anderen regelmäßig (2 Ob 242/06m = wobl 2007/79 = RS0067682 [T3]) die Annahme von Geringfügigkeit iSd § 30 Abs 2 Z 3 3. Fall MRG aus (vgl auch

RS0067682). Aber auch wenn die strafbare Handlung bloß ein Vergehen nach § 17 Abs 2 StGB darstellt, ist sie grundsätzlich ein Kündigungsgrund (3 Ob 505/84 = MietSlg 36.391; RS0067676; RS0067682 [T4]).

7. Ob ein geringfügiger Fall vorliegt, hängt regelmäßig von den Umständen des Einzelfalls ab (RS0067682 [T5]). So kann eine strafbare Handlung durch ein vorangegangenes Verhalten des Vermieters im Einzelfall soweit gemildert sein, dass sie den Charakter eines Kündigungsgrundes verliert (7 Ob 235/65 = MietSlg 17.395; RS0067676 [T3]). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die strafbare Handlung auf Provokationen des Vermieters durch Schikanen oder ähnliches zurückgehen (5 Ob 626/59 = MietSlg 8.137; 7 Ob 63/72 = MietSlg 24.277; im Ansatz auch 7 Ob 133/73 = MietSlg 25.272: „durch nichts provozierte Gewalttätigkeit des Mieters“). Der vorliegende Sachverhalt bietet hierfür jedoch keinen Anlass. Der Vorfall vom 24. 4. 2017 war nicht von der Klägerin bzw ihrem Angestellten provoziert.

Auch liegt keine Straftat vor, die im Sinne der Rechtsprechung an sich nicht oder kaum geeignet erscheint, den Hausfrieden zu stören, sodass sie aus diesem Grund im Sinne der mietrechtlichen Bestimmung geringfügig wäre. So wurden etwa vom Obersten Gerichtshof als für eine Aufkündigung der Wohnung zu geringfügig qualifiziert: der Diebstahl einer Fassdaube (3 Ob 166/53 = MietSlg 3.156); das einmalige Aneignen von dem Vermieter gehörendem Abfallholz (3 Ob 331/54 = MietSlg 3.961); das Entwenden von vier Zeitungen (3 Ob 76/57 = MietSlg 5.806) oder von ein wenig Obst und Blumen (1 Ob 218/57 = MietSlg 5.807) oder von die kindliche Begehrlichkeit eines gerade einmal Strafmündigen lockenden Kleinigkeiten (6 Ob 370/61 = MietSlg 8.910) oder von 12 kg unversperrter Kohle (3 Ob 389/61 = MietSlg 8.911) oder von 10 kg Walnüssen aus dem Hausgarten des Vermieters (8 Ob 324/64 = MietSlg 16.314); unter Umständen auch eine nicht schwere Sachbeschädigung (vgl 4 Ob 609/89 = MietSlg XLII/13); unter Umständen auch eine geringfügig über eine bloß tätliche Misshandlung hinausgehende Straftat (vgl 4 Ob 261/32 = MietSlg 12.142), nicht aber bei erheblicher Gewalt (vgl 8 Ob 551/78 = MietSlg 30.377; 7 Ob 35/16x = wobl 2016/92). Wenn das Berufungsgericht hier die Geringfügigkeit iSd § 33 Abs 2 Z 3 3. Fall MRG der vorsätzlichen Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB verneinte, so ist dies jedenfalls vertretbar, zumal der Ehemann der Beklagten dem Hausbetreuer und Aufzugswart ohne jegliche Veranlassung und ohne mit ihm das Gespräch gesucht zu haben vier Mal mit der Faust ins Gesicht schlug.

8. Die außerordentliche Revision ist daher mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

Textnummer

E125050

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2019:0080OB00035.19H.0429.000

Im RIS seit

31.05.2019

Zuletzt aktualisiert am

28.08.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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