TE Vfgh Erkenntnis 2014/6/6 E20/2014

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Veröffentlicht am 06.06.2014
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
EMRK Art8
FremdenpolizeiG 2005 §67
VwGVG §17, §28
AVG §37

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz durch Verhängung eines Aufenthaltsverbots mangels aktueller Feststellungen zum Privat- und Familienleben der britischen Beschwerdeführerin

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin ist britische Staatsangehörige und hält sich seit dem Jahr 2009 rechtmäßig in Österreich auf.

1.1. Mit den Urteilen des Landesgerichtes Feldkirch vom 8. Juli 2011 und 18. Oktober 2011 wurde die Beschwerdeführerin wegen des teilweise versuchten und teilweise vollendeten gewerbsmäßigen schweren Betruges zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren sowie zu einer Zusatzstrafe von einem Jahr verurteilt, insbesondere weil sie vortäuschte, Inhaberin gedeckter Schecks sowie eine leistungsfähige und leistungswillige Vertragspartnerin für den Erwerb von Kraftfahrzeugen aus dem gehobenen Preissegment zu sein.

1.2. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Bregenz vom 14. Februar 2012 wurde über die Beschwerdeführerin ein auf 10 Jahre befristetes Aufenthaltsverbot verhängt. Die Beschwerdeführerin erhob dagegen Berufung an den Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg (in der Folge: UVS Vorarlberg).

1.3. Mit Bescheid des UVS Vorarlberg vom 21. Mai 2012 wurde der Berufung der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Begrenz insofern Folge gegeben, als die Dauer des Aufenthaltsverbotes auf sechs Jahre herabgesetzt wurde. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof.

1.4. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. November 2013, 2012/22/0103, wurde der Bescheid des UVS Vorarlberg infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Begründend wurde ausgeführt, dass zwar die Ansicht der belangten Behörde, die Gefährdungsprognose sei zu Lasten der Beschwerdeführerin zu treffen, nicht zu beanstanden, jedoch die Interessensabwägung nach Art8 EMRK im Hinblick auf die schwerkranke und körperlich behinderte Mutter der Beschwerdeführerin nur unzureichend durchgeführt worden sei.

2. Mit dem (Ersatz-)Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Vorarlberg vom 10. Jänner 2014 wurde über die Beschwerdeführerin ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von fünf Jahren verhängt.

Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Mutter der Beschwerdeführerin mittlerweile verstorben sei und daher für die Interessensabwägung nach Art8 EMRK keine Rolle mehr spiele. Ein anderweitiges Familienleben oder besonders zu berücksichtigendes Privatleben in Österreich liege nicht vor. Die Verhängung eines auf fünf Jahre befristeten Aufenthaltsverbotes sei zur bestmöglichen Wahrung der Schutzinteressen erforderlich sowie verhältnismäßig, zumal der Höchstrahmen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegenüber EWR-Bürgern grundsätzlich zehn Jahre betrage.

3. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg sei verpflichtet, seine Entscheidungen auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung zu treffen. Dessen ungeachtet habe das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg keine Ermittlungen hinsichtlich der aktuellen Lebenssituation der Beschwerdeführerin angestellt. Es sei weder eine mündliche Verhandlung durchgeführt, noch im Wege des Parteiengehörs eine Aktualisierung des Sachverhaltes seit der Entscheidung des UVS Vorarlberg im Mai 2012 vorgenommen worden; lediglich sei erhoben worden, dass die Mutter der Beschwerdeführerin mittlerweile verstorben sei. Wäre das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg seiner Ermittlungspflicht nachgekommen, hätte es festgestellt, dass die Beschwerdeführerin seit mehr als einem Jahr in aufrechter Lebensgemeinschaft mit einem österreichischen Staatsangehörigen lebe und mit ihm nach Kärnten übersiedelt sei. Ebenso beabsichtige ihr zwanzigjähriger Sohn, der derzeit noch in England lebe, nach Österreich bzw. "Mitteleuropa" zu ziehen. Zudem habe die Beschwerdeführerin von ihrer Mutter ein "beträchtliches Vermögen" geerbt, das es ihr ermögliche, alleine von den Zinsen zu leben. Vor diesem Hintergrund sei "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" auszuschließen, dass die Beschwerdeführerin in Zukunft strafbare Handlungen gegen fremdes Vermögen oder sonstige strafbare Handlungen begehen werde.

4. Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor.

4.1. Es erstattete zunächst am 10. März 2014 eine Äußerung, in der den Beschwerdebehauptungen wie folgt entgegengetreten wird:

"Es kann […] nicht davon die Rede sein, dass die Beschwerdeführerin auf Grund von Verletzung ihres Parteiengehörs gehindert gewesen wäre, diese Umstände vorzubringen. Der Unabhängige Verwaltungssenat Vorarlberg hat am 12.12.2013 ein Schreiben an den ausgewiesenen Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin gerichtet. Mit diesem Schreiben wurde ihr Gelegenheit gegeben, innerhalb von zehn Tagen Stellung zu nehmen und angekündigt, dass nach fruchtlosem Ablauf dieser Frist ohne ihre weitere Anhörung entschieden werde. Eine Stellungnahme ist nicht eingelangt, obwohl der Verwaltungssenat bzw später das Verwaltungsgericht ohnehin fast einen Monat zugewartet hat, ob eine Stellungnahme dennoch einlangt. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde seitens der Beschwerdeführerin ohnehin nie beantragt. Überdies hat der Verwaltungssenat bzw das Verwaltungsgericht sehr wohl Ermittlungen über die maßgebliche Sachlage durchgeführt. Es wurden nämlich Meldeabfragen bzw eine Abfrage der Sozialversicherungsdaten vorgenommen. […]"

In der Sache führt das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg im Wesentlichen aus, dass die vorgenommene Gefährdungsprognose – auch vor dem Hintergrund, dass die Beschwerdeführerin ein "beträchtliches Vermögen" geerbt habe und eine Lebensgemeinschaft mit einem österreichischen Staatsangehörigen führe – nicht zu beanstanden sei. Das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin stehe der Verhängung eines fünfjährigen Aufenthaltsverbotes nicht entgegen, insbesondere weil die Beschwerdeführerin die Lebensgemeinschaft zu einem Zeitpunkt eingegangen sei, zu dem sie mit einem weiteren Verbleib in Österreich nicht rechnen durfte, und die Beschwerdeführerin erst seit Kurzem mit ihrem Lebensgefährten zusammenlebe.

4.2. Nach Aufforderung durch den Verfassungsgerichtshof erstattete das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg am 9. April 2014 eine weitere Äußerung, in der zur Gewährung des Parteiengehörs Folgendes ausgeführt wird:

"[…] Das zuständige Mitglied des damaligen Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Vorarlberg hat am 12.12.2013 um 15.38 Uhr (das war in derselben Minute, in der das hier gegenständliche Mail versendet wurde) an sein Mailpostfach eine Mailnachricht von MAILER-DAEMON@smtp.cnv.at zugestellt bekommen, die lautete […]:

'Ihre Nachricht wurden den folgenden Empfängern zugestellt:

office@germann-bertsch.at

Betreff: ***** ********* - Aufenthaltsverbot; Parteiengehör, Zl UVS-410a-009/E2-2012, Zl BHBr-III-3502-2011/0072.'

Das Mitglied geht daher davon aus, dass dieses Mail tatsächlich dem damalig ausgewiesenen Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin zugestellt wurde. Eine Zustellung des Mails vom 12.12.2013 an die E-Mail Adresse office@germann-bertsch[.at] bzw den entsprechenden Server kann aufgrund der mittlerweile verstrichenen Zeit nach Auskunft der Abteilung Informatik, Amt der Vorarlberger Landesregierung, nicht mehr nachgewiesen werden. Das Mitglied des damaligen Unabhängigen Verwaltungssenates konnte von einer Zustellung ausgehen, da keine Nachricht empfangen wurde, dass das Mail nicht zugestellt werden konnte. Wäre eine Mailnachricht über die Unzustellbarkeit des Mails gekommen, hätte der damalige Unabhängige Verwaltungssenat selbstredend eine nochmalige Zustellung veranlasst. […]"

Im Übrigen führt das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg aus, die Beschwerdeführerin hätte ein Vorbringen hinsichtlich ihres Privat- und Familienlebens auch ohne vorherige Aufforderung mittels eines Schriftsatzes erstatten können. Eine Verletzung des Parteiengehöres habe daher nicht stattgefunden.

5. Der Antragsgegner legte die Verwaltungsakten vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II. Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

§61 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl I 100, idF BGBl 38/2011

"Schutz des Privat- und Familienlebens

§61. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4. der Grad der Integration;

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§45 und 48 oder §§51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

[…]"

§67 FPG, BGBl I 100/2005, idF BGBl 38/2011

"Aufenthaltsverbot

§67. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

(2) Ein Aufenthaltsverbot kann für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden.

[…]"

§70 FPG, BGBl I 100/2005, idF BGBl 38/2011

"Ausreiseverpflichtung und Durchsetzungsaufschub

§70. (1) Die Ausweisung und das Aufenthaltsverbot werden spätestens mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar; der Fremde hat dann unverzüglich auszureisen. Der Eintritt der Durchsetzbarkeit ist für die Dauer eines Freiheitsentzuges aufgeschoben, auf den wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung erkannt wurde.

[…]

(3) EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen ist bei der Erlassung einer Ausweisung oder eines Aufenthaltsverbotes von Amts wegen ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat zu erteilen, es sei denn, die sofortige Ausreise wäre im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich.

[…]"

§125 FPG, BGBl I 100/2005, idF BGBl 68/2013

"Übergangsbestimmungen

§125. […]

(22) Alle mit Ablauf des 31. Dezember 2013 bei einem Unabhängigen Verwaltungssenat der Länder anhängigen Berufungsverfahren und Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt nach diesem Bundesgesetz sind ab 1. Jänner 2014 vom jeweils zuständigen Landesverwaltungsgericht nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl I Nr 87/2012 zu Ende zu führen. […]"

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der dem angefochtenen Erkenntnis zu Grunde liegenden generellen Rechtsvorschriften wurden weder von der Beschwerdeführerin behauptet noch sind solche aus Anlass des vorliegenden Falles beim Verfassungsgerichtshof entstanden.

2. Die Beschwerdeführerin wurde in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz gemäß Art7 B-VG (zur Anwendung dieses verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auch auf Unionsbürger vgl. VfSlg 19.077/2010, 19.515/2011) verletzt.

2.1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.

2.2. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).

2.3. Ein solcher Fehler ist dem Landesverwaltungsgericht Vorarlberg unterlaufen:

2.3.1. Aufenthaltsverbote werden grundsätzlich spätestens mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichten den Fremden zur unverzüglichen Ausreise (vgl. §70 Abs1 FPG).

2.3.2. Auf Grund dieser Folgewirkung sind Aufenthaltsverbote in besonderem Maße geeignet, in das grundrechtlich geschützte Privat- und Familienleben von Betroffenen einzugreifen (vgl. auch VfSlg 19.475/2011 mwN). Der Gesetzgeber hat daher ausdrücklich angeordnet, dass die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes bei Eingriff in das Privat- oder Familienleben eines Fremden nur zulässig ist, wenn dieses zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist (vgl. §61 Abs1 FPG). Mit dieser Anordnung verdeutlicht der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich gebotene Interessensabwägung und zwingt zu einer Bewertung des Privat- und Familienlebens zum Zeitpunkt der Entscheidung.

2.3.3. Eine Bewertung des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführerin erfolgte in der Entscheidung des UVS Vorarlberg vom 21. Mai 2012. Das Privat- und Familienleben eines Menschen kann sich jedoch in einem Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahren entscheidend ändern, weshalb eine Beurteilung durch das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg zum Zeitpunkt der Entscheidung verfassungsgesetzlich geboten war.

2.3.4. Den vorliegenden Verwaltungsakten ist zwar zu entnehmen, dass der UVS Vorarlberg – als Rechtsvorgänger des Landesverwaltungsgerichtes Vorarlberg (vgl. Art151 Abs51 Z8 B-VG) – ein Schreiben in Form eines E-Mails an den damals ausgewiesenen Vertreter der Beschwerdeführerin zur Stellungnahme zu den Ergebnissen der Beweisaufnahme (ZMR-Abfrage, Versicherungsdatenauszug), datiert mit 12. Dezember 2013, verfasst hat und damit der Beschwerdeführerin die Gelegenheit zur Stellungnahme auch zu ihrem Privat- und Familienleben einräumen wollte. Dem UVS Vorarlberg ist jedoch bei der Eingabe der E-Mail-Adresse des Vertreters der Beschwerdeführerin ein Tippfehler unterlaufen, weshalb mangels anders lautendem Vorbringen des Landesverwaltungsgerichtes Vorarlberg davon auszugehen ist, dass das Schreiben dem damals ausgewiesenen Vertreter der Beschwerdeführerin nicht übermittelt wurde: In den Verwaltungsakten ist lediglich eine Bestätigung über die Zustellung an die falsche, mit dem Tippfehler versehene E-Mail-Adresse enthalten. Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg konnte dem Verfassungsgerichtshof auch nach entsprechender Nachfrage nicht belegen, dass das E-Mail dem damals ausgewiesenen Vertreter der Beschwerdeführerin – unabhängig von der Frage, ob ein mit E-Mail übermitteltes Schreiben überhaupt als Zustellung iSd Zustellgesetzes, BGBl 200/1982, idF BGBl I 33/2013, zu qualifizieren wäre (vgl. RV 252 BlgNR 22. GP, 17) – tatsächlich zugekommen ist.

2.3.5. Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg hat auch keine mündliche Verhandlung durchgeführt oder der Beschwerdeführerin auf sonstige Weise die Gelegenheit zur Wahrung des Parteiengehörs bzw. zur Stellungnahme zu ihrem Privat- und Familienleben gegeben.

2.3.6. Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg ist daher seiner Verpflichtung - da es in der Sache selbst entschieden hat – zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes nicht nachgekommen (vgl. §§17 und 28 VwGVG iVm §37 AVG): Nach Verstreichen eines Zeitraums von mehr als eineinhalb Jahren seit der letzten Bewertung des Privat- und Familienlebens durch den UVS Vorarlberg hat das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg keine Erhebungen zum aktuellen Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin – mit Ausnahme der Feststellung des Todes der Mutter – angestellt und es damit verabsäumt, das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Entscheidung zu bewerten. Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg hat daher jegliche Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen und willkürlich gehandelt.

2.3.7. Soweit das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg in der Äußerung vom 9. April 2010 vermeint, die Beschwerdeführerin hätte ihr Vorbringen mittels eines Schriftsatzes auch ohne vorherige Aufforderung erstatten können, ist es auf die – vor dem Hintergrund des vorliegendes Falles – ihm zukommende Verpflichtung zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes sowie auf die Verpflichtung zu verweisen, den Parteien die Gelegenheit einzuräumen, von den getroffenen Sachverhaltsfeststellungen bzw. vom Ergebnis der Beweisaufnahme Kenntnis zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen (vgl. §§17 und 28 VwGVG iVm §37 AVG).

2.4. An diesem Ergebnis vermag auch die "nachgereichte" Interessensabwägung des Landesverwaltungsgerichtes Vorarlberg in der Äußerung vom 10. März 2014 hinsichtlich des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführerin nichts zu ändern (vgl. schon VfGH 12.9.2013, U2679/2012).

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden.

2. Das angefochtene Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Fremdenpolizei, Aufenthaltsverbot, Ermittlungsverfahren, Privat- und Familienleben, email, Parteiengehör

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:E20.2014

Zuletzt aktualisiert am

08.07.2016
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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