TE OGH 2010/11/16 11Os56/10k (11Os93/10a, 11Os94/10y, 11Os95/10w)

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Veröffentlicht am 16.11.2010
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Der Oberste Gerichtshof hat am 16. November 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Mag. Lendl, Dr. Bachner-Foregger und Dr. Nordmeyer als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Fries als Schriftführer, in der Strafsache gegen Marcell H***** und andere Angeklagte wegen Verbrechen des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster Fall StGB, AZ 49 Hv 17/09h des Landesgerichts Wiener Neustadt, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 30. Juni 2009 (ON 38) und das Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 19. April 2010, AZ 19 Bs 18/10a, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes und den Antrag des Verurteilten Frederic Z***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleitner, in Abwesenheit der Angeklagten jedoch in Anwesenheit ihrer Verteidiger Dr. Kier, Mag. Miller und Dr. Kovacs-Andor, zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache gegen Marcell H***** und andere Angeklagte, AZ 49 Hv 17/09h des Landesgerichts Wiener Neustadt, verletzen das Gesetz

1. die Urteilsfällung durch die Einzelrichterin am 30. Juni 2009 (ON 38) im Umfang der Schuldsprüche II ohne vorangegangene Information der Angeklagten Frederic Z***** und Charles T***** über die in Aussicht genommene Änderung der Beteiligungsform in § 262 erster Satz StPO;

2. das Urteil der Einzelrichterin vom 30. Juni 2009 (ON 38) hinsichtlich der die Angeklagten Marcell H***** und Michael M***** betreffenden Schuldsprüche I/4 in § 270 Abs 2 Z 5 StPO;

3. das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 19. April 2010, AZ 19 Bs 18/10a, in § 281 Abs 1 Z 8 iVm § 262 erster Satz StPO sowie § 290 Abs 1 zweiter Satz erster und zweiter Fall StPO.

Das Urteil der Einzelrichterin des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 30. Juni 2009, GZ 49 Hv 17/09h-38, das im Übrigen unberührt bleibt, wird in den Schuldsprüchen I/4 und II sowie demzufolge auch in den dazu gebildeten Subsumtionseinheiten und in den die Angeklagten Marcell H*****, Charles T***** und Michael M***** betreffenden Strafaussprüchen aufgehoben, desgleichen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 19. April 2010, AZ 19 Bs 18/10a, zu Schuldspruch II/a des Ersturteils und demzufolge auch in dem den Angeklagten Frederic Z***** betreffenden Strafausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Wiener Neustadt verwiesen.

Der Angeklagte Frederic Z***** wird mit seinem Erneuerungsantrag auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt legte Marcell H*****, Frederic Z*****, Charles T*****, Julia B***** und Michael M***** im Verfahren AZ 49 Hv 17/09h des Landesgerichts Wiener Neustadt mit Strafantrag vom 26. Februar 2009 als „Vergehen“ (richtig: Verbrechen) des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster Fall StGB beurteilte Taten zur Last (ON 17 des Hv-Akts). In der Hauptverhandlung dehnte sie die Anklage unter anderem gegen Frederic Z***** und Charles T***** um weitere Diebstahlsvorwürfe aus (ON 36 S 20).

Die Einzelrichterin des Landesgerichts Wiener Neustadt sprach, soweit hier von Bedeutung, mit Urteil vom 30. Juni 2009, GZ 49 Hv 17/09h-38, Frederic Z***** (I/7 und 8, II/a des Tenors) und Charles T***** (I/7, II/b) - abweichend vom durchwegs auf unmittelbare Täterschaft bezogenen Strafantrag (ON 36 S 20 iVm ON 17), ohne die Angeklagten über den geänderten rechtlichen Gesichtspunkt gehört zu haben - je des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster Fall StGB, „teils als Beteiligter nach § 12 zweiter Fall StGB“ (Letzteres mit Blick auf II/a und b), sowie Marcell H***** (I/1 bis 7) und Michael M***** (I/3 und 4) je des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster Fall StGB schuldig.

Als Bestimmungstäterschaft wurde Z***** und T***** angelastet, dass sie andere Angeklagte durch Bestellung von Gegenständen beauftragt hatten, im Urteil näher beschriebene Diebstähle auszuführen (US 5, 13).

Zu Punkt I/4 heißt es im Urteilsspruch, Marcell H***** und Michael M***** hätten im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter Ende Juni 2008 in Vösendorf gewerbsmäßig ein Antivirus-Programm, zwei Video-Spiele und ein Paar Socken in nicht mehr feststellbarem Gesamtwert Gewahrsamsträgern der M***** GmbH mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz weggenommen (US 2, 4). In den Entscheidungsgründen finden sich dazu keine Feststellungen.

Während das Urteil in Ansehung der übrigen Angeklagten unangefochten in Rechtskraft erwuchs, wurde es von Frederic Z***** unter anderem aus dem Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 8 (§ 489 Abs 1) StPO mit dem Einwand eines Verstoßes gegen das in § 262 StPO verankerte Überraschungsverbot bekämpft, weil er vom Gericht nicht über die beabsichtigte Änderung der Beteiligungsform gegenüber dem Strafantrag (Bestimmung statt unmittelbarer Täterschaft) in Kenntnis gesetzt worden sei.

Das Oberlandesgericht Wien gab der Berufung des Frederic Z***** mit Urteil vom 19. April 2010, AZ 19 Bs 18/10a, nicht Folge. In Erledigung des genannten Einwands führte es zusammengefasst aus, dass die vom Anklagevorwurf teilweise in der Beteiligungsform abweichende Beurteilung (II/a) bloß eine Abweichung von geringerer Relevanz darstelle. Diesfalls sei bei Ausführung des Nichtigkeitsgrundes „das Belehrungserfordernis (wenigstens einigermaßen) plausibel zu machen“. Der Angeklagte hätte, führte das Oberlandesgericht aus, eine Verletzung seiner aus Art 6 Abs 3 lit a oder lit b MRK garantierten Verteidigungsrechte behaupten müssen, zumal nicht einmal eine andere strafbare Handlung, also eine andere rechtliche Kategorie vorliege. Da der Angeklagte ohnehin ausgeschlossen habe, sich auch nur in irgendeiner Täterschaftsform an den Diebstählen beteiligt zu haben, habe er eine „Änderung seiner Verteidigungsstrategie bei entsprechender Information durch das Erstgericht nicht darzulegen“ vermocht (S 8 f der Berufungsentscheidung).

Rechtliche Beurteilung

Die Urteile des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 30. Juni 2009 sowie des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 19. April 2010 stehen, wie die Generalprokuratur in der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt der Schutzzweck des Art 6 Abs 3 lit a und lit b MRK gerade darin, die Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten. Geleitet von dieser Zielsetzung können auch Abweichungen in der rechtlichen Beurteilung des von der Anklage erfassten Sachverhalts bei Nichtbeachtung des § 262 StPO aus Z 8 des § 281 Abs 1 StPO releviert werden (RIS-Justiz RS0121419, RS0113755). Stets dann, wenn plausibel gemacht wird, dass mit Blick auf den veränderten rechtlichen Gesichtspunkt die Verteidigung eine andere gewesen wäre, ist das Urteil ohne entsprechende vorherige Information in der Verhandlung wegen Anklageüberschreitung nichtig. Ein solches Vorbringen ist unnötig, wenn der Angeklagte - wenngleich ohne Abgehen vom Prozessgegenstand, der Tat im prozessualen Sinn - einer gegenüber der Anklage anderen Tat im materiellen Sinn schuldig erkannt wird, deren äußere Tatseiten sich nicht überdecken. Eine entsprechende Information ist - in analoger Anwendung des § 262 StPO - auch bei jeder Änderung der Beteiligungsform der Tat erforderlich, obwohl hier nicht einmal eine andere strafbare Handlung - also nicht bloß kein anderes historisches Geschehen, sondern auch keine andere rechtliche Kategorie - vorliegt (11 Os 106/09m, EvBl 2010/6, 42 = RZ 2010/14, 120; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 545; EGMR E 24. 4. 2007, Juha Nuutinen gg Finnland, Nr 45830/99; vgl Lewisch, WK-StPO § 262 Rz 101).

Im vorliegenden Fall war den Angeklagten Frederic Z***** und Charles T***** im Strafantrag vorgeworfen worden, sie hätten Gewahrsamsträgern eines Großmarkts bestimmte Gegenstände mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz weggenommen (ON 17).

Das Erstgericht gelangte abweichend davon zur Überzeugung, Frederic Z***** habe aus Furcht vor Entdeckung wie in der Folge auch Charles T***** manche Gegenstände nicht selbst weggenommen, sondern jeweils eine „Bestellung“ aufgegeben, damit andere Angeklagte sie den Gewahrsamsträgern wegnehmen, und sich die Sachen dann vom Erstangeklagten abgeholt (US 13).

Demnach hätte die Einzelrichterin des Landesgerichts Wiener Neustadt die Angeklagten Frederic Z***** (vgl I/3/a und b des Strafantrags) und Charles T***** (I/3/b) in der Hauptverhandlung über die in Aussicht genommene Abweichung von der im Strafantrag enthaltenen rechtlichen Beurteilung in Betreff der Beteiligungsform (nämlich Bestimmung statt unmittelbarer Täterschaft) informieren müssen, um ihnen die Möglichkeit zu entsprechender Verteidigung zu geben (Art 6 Abs 3 lit a und lit b MRK).

Indem das Erstgericht die Schuldsprüche des Frederic Z***** und des Charles T***** zu Punkt II des Urteils ohne vorherige Information über die in Aussicht genommene von der Anklage abweichende rechtliche Beurteilung fällte, verletzte es das Gesetz in der (bei Änderung der Beteiligungsform analog anzuwendenden, 11 Os 106/09m; vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 545) Bestimmung des § 262 erster Satz StPO.

Das Oberlandesgericht Wien hätte - weil mangels Überdeckung der im Strafantrag inkriminierten und der im Urteil festgestellten Tathandlungen die Plausibilität einer (möglichen) anderen Verteidigungsstrategie für das Rechtsmittelgericht auch ohne näheres Vorbringen dazu auf der Hand lag - das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt in Stattgebung der dagegen vom Angeklagten Z***** erhobenen Berufung wegen Nichtigkeit (§§ 489 Abs 1, 281 Abs 1 Z 8, 262 StPO) im diesen Angeklagten betreffenden Schuldspruch II/a (und demzufolge in der zu I/7 und 8 sowie II/a gemäß § 29 StGB gebildeten Subsumtionseinheit) sowie aus Anlass dieser Berufung von Amts wegen (§§ 489 Abs 1, 471, 290 Abs 1 zweiter Satz zweiter Fall StPO) im den Angeklagten Charles T***** betreffenden Schuldspruch II/b (und demzufolge in der zu I/7 und II/b gemäß § 29 StGB gebildeten Subsumtionseinheit) und in den diese beiden Angeklagten betreffenden Strafaussprüchen aufheben und die Sache an das Landesgericht Wiener Neustadt zurückweisen müssen (§§ 489 Abs 1, 470 Z 3 StPO).

Zudem sind dem Urteil der Einzelrichterin des Landesgerichts Wiener Neustadt in Ansehung des - die Angeklagten Marcell H***** und Michael M***** betreffenden - Schuldspruchs I/4 entgegen § 270 Abs 2 Z 5 StPO keinerlei Feststellungen zu entnehmen. Solcherart haftet dem Urteil ein Rechtsfehler mangels Feststellungen (vgl Ratz in WK-StPO § 281 Rz 605 ff) an, der vom Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht von Amts wegen hätte wahrgenommen werden müssen (§§ 489 Abs 1, 471, 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall, 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO).

Weil die aufgezeigten Gesetzesverletzungen geeignet sind, zum Nachteil der genannten Angeklagten zu wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, der Feststellung konkrete Wirkung zuzuerkennen (§ 292 letzter Satz StPO).

Der Angeklagte Frederic Z***** war mit seinem gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 19. April 2010, AZ 19 Bs 18/10a, gerichteten Erneuerungsantrag auf diese Entscheidung zu verweisen.

Schlagworte

Strafrecht

Textnummer

E95885

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0110OS00056.10K.1116.000

Im RIS seit

12.01.2011

Zuletzt aktualisiert am

09.03.2012
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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