TE OGH 2011/3/1 10ObS166/10z

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Veröffentlicht am 01.03.2011
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Irene Kienzl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei N*****, vertreten durch Achammer & Mennel Rechtsanwälte OG in Feldkirch, gegen die beklagte Partei Vorarlberger Gebietskrankenkasse, 6850 Dornbirn, Jahngasse 4, wegen Kostenübernahme, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. September 2010, GZ 25 Rs 57/10h-59, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. November 2010, GZ 33 Cgs 235/07x-52, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Text

Begründung:

Der Kläger stellte am 23. 8. 2007 bei der Beklagten den Antrag auf Kostenübernahme einer Krankenbehandlung im Ausland. Im Hinblick auf sein transsexuelles Syndrom begehrte er die Kostenübernahme für eine geschlechtsumwandelnde Operation von Frau zu Mann bei Dr. S***** in München. Mit Bescheid der Beklagten vom 17. 9. 2007 wurde dieser Antrag im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, dass diese Operation auch in österreichischen Behandlungsstellen (im AKH Wien oder in der Universitätsklinik Graz) möglich sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage, deren Hauptbegehren auf Genehmigung der geschlechtsumwandelnden Operation von Frau zu Mann in München durch Dr. S***** und Ausfolgung des vollständig verfassten Formulars E 112 gerichtet ist. Unmittelbar vor Schluss der Verhandlung am 13. 11. 2009 erhob der Kläger ein Eventualbegehren auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Übernahme der Kosten dieser Operation.

Fest steht, dass der Kläger noch vor Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz mehrere Operationen zur Phalloplastik sowie zur Beherrschung zweier aufgetretener Komplikationen bei Dr. S***** in München vornehmen ließ, und zwar am 15. 10. 2007, 9. 4. 2008, 30. 4. 2008 sowie am 14. 5. 2008. Wenn auch vorerst anders geplant, wurde die Operationsmethode der Gewebeentnahme aus dem Unterschenkel mit Knochen angewandt. Eine Eregierbarkeit ist bei dieser Methode nicht erreichbar. Diese Operation wäre auch in Österreich ohne feststellbar erhöhtes Risiko möglich gewesen. Im Zuge einer Komplikation musste der Knochen wieder zu einem Großteil operativ entfernt werden.

Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:

1. Zur anzuwendenden Rechtslage ist vorerst festzuhalten, dass die VO (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (im Folgenden: VO 883/2004) am 1. 5. 2010 in Kraft getreten ist und die VO (EWG) 1408/71 („WanderarbeiterVO“) abgelöst hat. Für den Zeitraum vor dem Beginn ihrer Anwendung begründet die VO 883/2004 keine Ansprüche (Art 87 Abs 1). Nicht erfasst sind somit solche in der Vergangenheit liegende Ereignisse, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Rechts bereits abgeschlossen sind (Bokeloh in ZESAR, Die Übergangsregelungen in den Verordnungen [EG] Nr 883/04 und 987/09, 1/11, 18 ff). Dies trifft auf den zu beurteilenden Antrag auf Kostenübernahme für die noch vor dem 1. 5. 2010 am Kläger vorgenommenen Operationen zu, sodass die VO (EWG) 1408/71 weiterhin anzuwenden ist.

2. Mit seinem Hauptklagebegehren zielt der Kläger darauf ab, gemäß Art 22 Abs 1 lit c Z i VO 1408/71 im Rahmen der sogenannten Sachausleistungshilfe durch Ausstellen des Formblatts E 112 die von ihm beantragten Sachleistungen für Rechnung der beklagten Partei vom deutschen Versicherungsträger so gewährt zu erhalten, als ob er dort versichert wäre. Diese Klage ist in der Regel auf die Erteilung einer Genehmigung zu einer erst durchzuführenden Krankenbehandlung gerichtet. Bereits in der Entscheidung 10 ObS 119/08k wurde ausgeführt, dass eine solche Genehmigung vom Gericht - insbesondere in einem vom Kläger geltend gemachten Notfall, aber auch nachträglich - erteilt werden kann (vgl die Schlussanträge des Generalanwalts Saggio vom 18. 5. 2000, C-368/98, Vanbraekel, Slg 2001, I-5363 Rdnr 12). In diesem Sinn hat nach der Rechtsprechung des EuGH der Versicherte, dessen Genehmigungsantrag durch den zuständigen Träger nach dem Ergebnis des Gerichtsverfahrens unbegründet abgelehnt wurde, einen unmittelbaren Anspruch auf Kostenerstattung gegen den zuständigen Träger in der Höhe, wie sie der Träger des Aufenthaltsorts zu erbringen gehabt hätte, wenn die Genehmigung von Anfang an ordnungsgemäß erteilt worden wäre (EuGH 12. 7. 2001, C-368/98, Rs Vanbraekel, Rn 34).

2. Nach der Rechtsprechung des EuGH steht Art 22 Abs 1 lit c Z i VO 1408/71 im Einklang mit den Art 49 und 50 EGV über den freien Dienstleistungsverkehr (Art 56 und 57 AEUV), indem diese Regelung den Sozialversicherten eines Mitgliedstaats, die über eine Genehmigung verfügen, einen Zugang zur Behandlung in den anderen Mitgliedstaaten unter der Voraussetzung der Kostenübernahme garantiert, die ebenso günstig ist wie für die unter die Rechtsvorschriften der letztgenannten Staaten fallenden Sozialversicherten. Art 22 Abs 1 lit c Z i der VO 1408/71 trägt dadurch dazu bei, die Freizügigkeit der Sozialversicherten zu fördern und die Erbringung von grenzüberschreitenden medizinischen Dienstleistungen zu erleichtern (EuGH, 23. 10. 2003, C-56/01, Inizan, Rn 21 ff). Der EuGH akzeptiert, dass eine besondere Genehmigung der Behandlung in Krankenhäusern, mit denen kein Versorgungsvertrag besteht, für die Vermeidung von Verschwendung und Beherrschung der Kosten notwendig ist, da für Krankenhäuser langfristige und kostspielige Investitionen getätigt werden müssen (EuGH C-385/99 Rs Müller-Faure, Rn 72 ff, 76 ff). Eine Gemeinschaftswidrigkeit infolge einer „Inländerdiskriminierung“, die darin gelegen sein soll, dass ein in Österreich Sozialversicherter, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaft ist, sich in einer dortigen Krankenanstalt einer Krankenbehandlung „unter gänzlicher Kostenerstattung ohne Vorlage einer saldierten Rechnung“ unterziehen könne, ist demnach nicht erkennbar.

3. Voraussetzung für die Bewilligung der Kostenübernahme für eine Krankenbehandlung im Ausland ist nach der VO 1408/71 immer, dass eine ausreichende und zweckmäßige Behandlung im Inland nicht oder in Anbetracht des Gesundheitszustands und voraussichtlichen Verlaufs der Krankheit nicht in medizinisch vertretbarer Zeit gewährt werden kann. Diese Voraussetzung ist im zu beurteilenden Fall nach den - den Obersten Gerichtshof bindenden - Tatsachenfeststellungen nicht gegeben, da die am Kläger in der BRD vorgenommene Operation einer „Phalloplastik mit Gewebeentnahme aus dem Unterschenkel mit Knochenanteil“ auch in Österreich ohne feststellbar erhöhtes Risiko durchgeführt wird. Solange der Krankenversicherungsträger im Inland eine zweckmäßige und ausreichende Krankenbehandlung zur Verfügung stellt, hat er seiner Verpflichtung zur Sachleistungsvorsorge entsprochen und es besteht kein Anspruch auf Ersatz der tatsächlichen Kosten einer medizinisch gleichwertigen, allenfalls auch aufwendigeren Therapie im Ausland (RIS-Justiz RS0106772). Ein Rechtsanspruch auf die jeweils weltbeste medizinische Versorgung besteht nicht (RIS-Justiz RS0073059).

4. Der Kläger bringt in der Revision vor, sein an die beklagte Partei gerichteter Antrag auf Vornahme einer geschlechtsumwandelnden Operation in München sei „unter der Prämisse“ gestanden, dass die von ihm gewünschte und in Aussicht genommene Phalloplastik mittels Gewebeentnahme aus dem Unterschenkel ohne Knochenanteil erfolge. Diese Operationsmethode werde in Österreich aber nicht durchgeführt; es würden nur Gewebeentnahmen aus dem Unterschenkel mit Knochenanteil angeboten. Bei diesem Vorbringen übersieht der Kläger, dass nach Art 22 Abs 1 lit c der VO 1408/71 die vom zuständigen Träger im Rahmen der Sachleistungsaushilfe zu erteilende Genehmigung sich darauf bezieht, dass der Versicherte sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats begeben kann, um dort jene „seinem Zustand angemessene Behandlung“ zu erhalten, die er in Anbetracht seines Gesundheitszustands nicht innerhalb des Wohnmitgliedstaats in medizinisch vertretbarer Zeit erlangen könnte. Die ursprünglich gewünschte Operationsmethode ohne Knochenanteil war aber - wie der Kläger selbst einräumt - an ihm aus medizinischen Gründen gar nicht durchführbar, weshalb sie keine „seinem Zustand angemessene“ Behandlung iSd Art 22 Abs 1 lit c Z i der VO 1408/71 darstellt; diese Voraussetzung für eine Kostenübernahme trifft ausschließlich auf die Operationsmethode der Phalloplastik aus dem Unterschenkel mit Knochenanteil zu, welche in Österreich angeboten wird.

5. Weiters bringt der Kläger vor, die Undurchführbarkeit der in Aussicht genommenen Operationsmethode (ohne Knochenanteil) habe sich erst nach Antragstellung herausgestellt. Die Vorinstanzen hätten deshalb mittels einer „ex-ante Beurteilung“ ausschließlich auf den Zeitpunkt der Antragstellung und die zu diesem Zeitpunkt noch in Aussicht genommene Operationsmethode abzustellen gehabt. Dem ist entgegen zu halten, dass das Gericht den durch die Klage geltend gemachten Anspruch selbständig und unabhängig vom Verfahren vor dem Versicherungsträger auf Basis der Sach- und Rechtslage bei Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz zu prüfen hat (RIS-Justiz RS0085839 [T2]). Zudem ist die Operationsmethode ohne Knochenanteil weder im an die Beklagte gerichteten Antrag erwähnt, noch im Bescheid oder der Klage.

6. War die Entnahme eines Hautlappens und eines Knochenanteils aus dem Unterarm beim Kläger nach den Feststellungen aufgrund anatomischer Gegebenheiten nicht zielführend einsetzbar, ist nicht entscheidungsrelevant, ob diese Methode mit jener gleichwertig ist, bei der eine Gewebetransplantation aus dem Unterschenkel (mit oder ohne Knochenanteil) vorgenommen wird. Dies trifft auch auf die Frage zu, ob die „Unterarm-Operationsmethode“ in Österreich angeboten wird und welche Partei dafür sowie für die Gleichwertigkeit mit der „Unterschenkel-Operationsmethode“ die Beweislast trifft.

7. Wenn der Versicherte sein ursprüngliches Begehren auf Genehmigung einer Krankenbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat iSd Art 22 Abs 1 lit c Z i VO 1408/71 bzw nunmehr Art 20 der VO 883/2004 (Sachleistungsaushilfe) nicht weiter verfolgen möchte, sondern statt dessen eine Kostenerstattung (wegen unberechtigter Verweigerung der Sachleistungsaushilfe) anstrebt, hat er die Möglichkeit, den Bescheid des Sozialversicherungsträgers über das Nichtbestehen eines Anspruchs des Versicherten auf Krankenbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat mittels Feststellungsklage zu bekämpfen (RIS-Justiz RS0124349). Wäre ein derartiges Feststellungsbegehren erfolgreich, führte dies zur rechtskräftigen und damit für einen allfälligen Nachfolgeprozess wegen Kostenerstattung zwischen den Parteien bindenden Feststellung, dass die Voraussetzungen für eine Krankenbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat gemäß Art 22 Abs 1 lit c Z i der VO 1408/71 vorliegen (10 ObS 119/08k). Das in diesem Sinn vom Kläger erhobenen Eventualbegehren könnte aber - ebenso wie sein Hauptbegehren - nur zum Erfolg führen, wenn die dem Zustand des Klägers angemessene Operationsmethode in Österreich nicht oder nicht in medizinisch vertretbarer Zeit erbracht wird. Gerade dies steht jedoch nicht fest. Es liegt deshalb kein Begründungsmangel darin, dass das Berufungsgericht zur Abweisung des Eventualbegehrens keine weiteren Ausführungen getätigt hat.

8. Von der Sachleistungsaushilfe nach Art 22 Abs 1 lit c Z i VO 1408/71 ist das System der „schlichten Kostenerstattung“ einer Behandlung im Ausland wegen fehlender Vertragsbeziehungen im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit zu unterscheiden (Art 49 EGV). Versicherte können grundsätzlich wählen, ob sie auf das in Art 22 Abs 1 lit c Z i VO 1408/71 geregelte Verfahren zurückgreifen, oder sich innerhalb der durch die Rechtsprechung des EuGH gesetzten Grenzen auf Art 49 EGV (Art 56 AEUV) berufen. Ging das Berufungsgericht davon aus, der Kläger habe eine derartige „schlichte“ Kostenerstattung nach Art 49 EGV im vorliegenden Verfahren nicht angestrebt, sondern sein Haupt- und Eventualbegehren auf Übernahme bzw Feststellung der Übernahme der Kosten der Auslandskrankenbehandlung nach Art 22 Abs 1 lit c Z i VO 1408/71 gerichtet, stimmt dies mit der Aktenlage überein. Die vom Kläger vermeinte Aktenwidrigkeit wäre im Übrigen nur dann gegeben, wenn Feststellungen auf aktenwidriger Grundlage getroffen werden, das heißt, wenn der Inhalt einer Urkunde, eines Protokolls oder eines sonstigen Aktenstücks unrichtig wiedergegeben und infolge dessen ein fehlerhaftes Sachverhaltsbild der rechtlichen Beurteilung unterzogen wurde (RIS-Justiz RS0043347). In einem - wie der Kläger vermeint - unrichtig bzw unvollständig wiedergegebenen Vorbringen, kann hingegen nie eine Aktenwidrigkeit liegen (Kodek in Rechberger, ZPO3 § 471 Rz 7). Außerdem übersieht der Kläger, dass es ihm nach dem Grundsatz der sukkzessiven Kompetenz verwehrt wäre, gegen einen Bescheid des Krankenversicherungsträgers, mit dem ein Antrag auf Krankenbehandlung im Ausland im Rahmen der Sachleistungsaushilfe abgewiesen wurde, eine auf Kostenerstattung gerichtete Klage einzubringen, weil es sich bei der Sachleistungsaushilfe und Kostenerstattung um Leistungsansprüche verschiedener Art handelt, welche in einem Verfahren nicht gegeneinander ausgetauscht werden können, sodass es für ein solches Begehren an einer „darüber“ ergangenen Entscheidung des Versicherungsträgers mangeln würde (RIS-Justiz RS0124349).

9. War allein die Sachleistungsaushilfe (und nicht die Kostenerstattung) Gegenstand des Verfahrens, besteht mangels Präjudizialität weder Anlass zur vom Kläger angeregten Überprüfung der „österreichischen Regelung hinsichtlich Kostenerstattung nur unter Vorlage von saldierten Rechnungen“ im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, noch besteht Anlass, den Verfassungsgerichtshof mit dieser Frage zu befassen.

Mangels einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision zurückzuweisen.

Schlagworte

12 Sozialrechtssachen,Europarecht

Textnummer

E96732

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:010OBS00166.10Z.0301.000

Im RIS seit

06.04.2011

Zuletzt aktualisiert am

24.01.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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