TE AsylGH Erkenntnis 2008/07/28 S12 400551-1/2008

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Veröffentlicht am 28.07.2008
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Spruch

S12 400.551-1/2008/3E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Maurer-Kober als Einzelrichterin über die Beschwerde des E. O., geb. 1991 alias 1982, StA. Nigeria, gesetzlich vertreten durch: Mag. Handler, 2514 Traiskirchen, Otto Glöckelstrasse 24, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 26.06.2008, FZ. 08 03.737-EAST-Ost, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1.1. Der Beschwerdeführer, ein nigerianischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Ikwere, hat sein Heimatland ohne Reisedokumente verlassen, ist am 27.04.2008 illegal mit dem Zug in das österreichische Bundesgebiet eingereist und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

 

1.2. Bei der Erstbefragung am 28.04.2008 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Englisch gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er habe Nigeria von P. aus illegal mit einem Schiff verlassen. 2008 sei ein Freund seines Vaters, namens K., in sein Haus gekommen und habe ihn zu einem Schiff im Hafen von P. gebracht und habe ihn während der Schiffsreise begleitet. Die Fahrt mit dem Schiff habe ca. 2 Wochen gedauert. Am 2008 seien sie an einem ihm unbekannten Ort angekommen und hätten ihre Reise mit einem Mercedes fortgesetzt. Die Farbe sowie das Kennzeichen des Mercedes wisse er nicht mehr. Der Fahrer des Mercedes sei K. gewesen. Er kenne weder den Nachnamen, noch den Geburtstag (auch nicht das Alter), noch die Adresse von K.; wisse nur, dass dieser keine Haare mehr gehabt hätte und ein alter weißer Mann gewesen sei. Die Fahrt mit dem Mercedes habe ca. 3 Stunden gedauert. Danach seien sie gemeinsam in einen Zug eingestiegen und nach Traiskirchen gefahren. Anschließend habe K. ihm den Weg in die Erstaufnahmestelle in Traiskirchen erklärt und habe ihn dann verlassen. Nigeria habe er verlassen, da Militante seine Mutter sowie drei seiner Schwestern erschossen hätten. Sein Vater habe eine Firma besessen, in welcher dieser mit K. zusammengearbeitet habe. Die Militanten hätten auch seinen Vater und ihn töten wollen. Auch K. hätten sie gesucht. Aus diesem Grund sei er geflüchtet.

 

1.3. Eine Eurodac-Abfrage vom 28.04.2008 ergab, dass der Beschwerdeführer bereits in der Bundesrepublik Deutschland am 17.09.2004 einen Asylantrag gestellt hatte.

 

1.4. Am 30.04.2008 richtete das Bundesasylamt ein Wiederaufnahmeersuchen an die zuständige deutsche Behörde.

 

1.5. Am 08.05.2008 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 AsylG mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen (§§ 4, 5, 68 Abs. 1 AVG, §29 Abs. 3 Z 4 AsylG), da Dublin Konsultationen mit der Bunderepublik Deutschland seit 30.04.2008 geführt werden (vgl. AS 35f).

 

1.6. Mit Schreiben vom 08.05.2008 erklärte sich die Bunderepublik Deutschland gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrages zuständig ist (in der Folge Dublin II-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens des Beschwerdeführers für zuständig.

 

1.7. Am 26.05.2008 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesasylamt nach erfolgter Rechtsberatung und in Anwesenheit des Rechtsberaters sowie eines geeigneten Dolmetschers für die Sprache Englisch niederschriftlich einvernommen und gab dabei im Wesentlichen an, dass er Deutschland im April 2008 mit einem Schiff von Hamburg aus mit Ziel Nigeria verlassen habe. Die Reise habe drei Wochen gedauert und er sei am 18.04.2008 in Nigeria angekommen. In Nigeria habe er seine Eltern besuchen wollen und habe dann gesehen, dass bis auf seinen Vater alle getötet worden seien. Sein Vater habe ihm gesagt, dass er die Siedlung wieder verlassen müsse, weil die Militanten bereits seine Mutter getötet hätten. Ein bis drei Tage später habe er Nigeria wieder verlassen und sei zwei Wochen später in Europa angekommen. Er wolle nicht nach Deutschland zurück, da sein Asylverfahren dort zu Ende und das Leben in Deutschland sehr schwer gewesen sei. Es gebe keine Menschenrechte in Deutschland, er habe keine ärztliche Versorgung im Spital erhalten, es habe nie genügend zu essen gegeben und er habe vom Leitungswasser Ausschlag bekommen.

 

2. Mit dem angefochtenen Bescheid hat das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 27.04.2008 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutzes gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates die Bundesrepublik Deutschland zuständig sei. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Bundesrepublik Deutschland gemäß § 10 Abs. 4 AsylG zulässig sei.

 

3. Gegen diesen Bescheid erhob der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass die Feststellungen der Behörde betreffend die Rechtsgrundlage der Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland sowie betreffend die Gegebenheiten im deutschen Asylverfahren mangelhaft seien.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Der Beschwerdeführer, ein nigerianischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Ikwere, hat sein Heimatland verlassen und stellte am 17.09.2004 in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag. Am 27.04.2008 reiste der Beschwerdeführer illegal mit dem Zug in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

 

In Österreich, im Bereich der EU, in Norwegen oder in Island hat der Beschwerdeführer keine Familienangehörigen oder Personen, mit denen er in einer familienähnlichen Gemeinschaft lebt.

 

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit Schreiben vom 08.05.2008 gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Beschwerdeführers für zuständig erklärt.

 

1.2. Die in § 28 Abs. 2 AsylG festgelegte zwanzigtätige Frist zur Erlassung eines zurückweisenden Bescheides nach § 5 AsylG gilt nicht, weil dem Beschwerdeführer das Führen von Konsultationen gemäß der Dublin II-VO am 08.05.2008 mitgeteilt wurde, weshalb kein Übergang der Zuständigkeit an Österreich wegen Fristüberschreitung eingetreten ist.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt gründet sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Die oben angeführten Feststellungen ergeben sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt, insbesondere aus den Angaben des Beschwerdeführers bei der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 28.04.2008, aus der niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers vom 26.05.2008 sowie aus der Zuständigkeitserklärung der Bundesrepublik Deutschland vom 08.05.2008.

 

3. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

3.1. Gemäß §§ 73 Abs. 1 und 75 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 (in der Folge AsylG) iVm § 1 AsylG ist das oben angeführte Gesetz auf Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden, die ab dem 01.01.2006 gestellt wurden. Daraus folgt, dass für das gegenständliche Verfahren das AsylG 2005 anzuwenden war.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde tritt.

 

3.2. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin II-VO zur Prüfung des Antrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 5 Abs. 3 AsylG ist, sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.

 

Die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der Dublin II-VO ist als negative Prozessvoraussetzung hinsichtlich des Asylverfahrens in Österreich konstruiert. Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist somit die Frage der Zurückweisung des Asylantrages wegen Zuständigkeit eines anderen Staates.

 

Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO wird ein Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt, von jenem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III (Dublin II-VO) als zuständiger Staat bestimmt wird. Kapitel III enthält in den Artikeln 6 bis 13 Dublin II-VO die Zuständigkeitskriterien, die nach Art. 5 Abs. 1 Dublin II-VO "in der in diesem Kapitel genannten Reihenfolge" Anwendung finden.

 

3.3. Der Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II-VO sieht vor, dass der Mitgliedstaat, der nach der vorliegenden Verordnung zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist, gehalten ist, einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrages unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Staates aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG sind Ausweisungen nach Abs. 1 unzulässig, wenn 1. dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder 2. diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ist, wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, gleichzeitig mit der Ausweisung auszusprechen, dass die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben ist. Gemäß § 10 Abs. 4 AsylG gilt eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs. 1 Z 1 verbunden ist, stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.

 

Gemäß § 28 Abs. 2 AsylG ist der Antrag zuzulassen, wenn das Bundesasylamt nicht binnen zwanzig Tagen nach seiner Einbringung entscheidet, dass er zurückzuweisen ist, es sei denn, es werden Konsultationen gemäß der Dublin II-VO oder einem entsprechenden Vertrag geführt. Dass solche Verhandlungen geführt werden, ist dem Asylwerber innerhalb der 20-Tages-Frist mitzuteilen.

 

3.4. Im gegenständlichen Fall ist das Bundesasylamt ausgehend davon, dass der Beschwerdeführer bereits in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat und, dass die Bundesrepublik Deutschland einer Übernahme des Beschwerdeführers auf Grundlage des Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin II-VO am 08.05.2008 zustimmte, zu Recht von einer Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland zur Prüfung des Asylantrages ausgegangen. Vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Angaben des Berufungswerbers hinsichtlich seines Reiseweges geht der Asylgerichtshof ebenso wie das Bundesasylamt nicht davon aus, dass der Beschwerdeführer nach seiner Asylantragstellung am 17.09.2004 in der Bundesrepublik Deutschland wieder nach Nigeria zurückgereist sei und von dort aus nach Österreich eingereist sei. Fest steht unbestritten, dass der Beschwerdeführer am 17.09.2004 in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat und dass angesichts der Übernahmeerklärung der Bundesrepublik Deutschland vom 08.05.2008 die Bundesrepublik sichtlich davon ausgeht, dass das Asylverfahren des Beschwerdeführers in Deutschland noch nicht beendet ist. Dieses Faktum vermag durch die bloße Behauptung des Beschwerdeführers, wonach sein Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland bereits beendet sei, vor dem Hintergrund der vielen widersprüchlichen Aussagen, welche er im Rahmen seines erstinstanzlichen Verfahrens zu seinem Reiseweg getätigt hat, nicht erschüttert zu werden.

 

Fest steht auch, dass das Bundesasylamt von der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ausgegangen ist und dies vom Beschwerdeführer auch nicht in Abrede gestellt worden ist.

 

3.5. Zu prüfen bleibt daher, ob Österreich im gegenständlichen Fall verpflichtet wäre, im Hinblick auf Art. 3 EMRK von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen.

 

3.5.1. Der Verfassungsgerichtshof sprach in seinem Erkenntnis vom 08.03.2001, G 117/00 u.a. VfSlg 16.122, aus, dass § 5 AsylG nicht isoliert zu sehen sei; das im Dubliner Übereinkommen festgelegte Selbsteintrittsrecht Österreichs verpflichte - als Teil der österreichischen Rechtsordnung - die Asylbehörde unter bestimmten Voraussetzungen zur Sachentscheidung in der Asylsache und damit mittelbar dazu, keine Zuständigkeitsbestimmung im Sinne des § 5 vorzunehmen. Eine strikte, zu einer Grundrechtswidrigkeit führende Auslegung (und somit Handhabung) des § 5 Abs. 1 AsylG sei durch die Heranziehung des Selbsteintrittsrechtes zu vermeiden. Dieser Rechtsansicht schloss sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23.01.2003, Zl. 2000/01/0498, an.

 

Hatte der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 15.10.2005, G 237/03 u.a. ausgesprochen, dass jene zum Dubliner Übereinkommen angestellten Überlegungen auch für das Selbsteintrittsrecht des Art. 3 Abs. 2 Dublin-VO zutreffen, ergänzte er in seinem Erkenntnis vom 17.06.2005, B 336/05-11, dies dahingehend, dass die Mitgliedstaaten nicht nachzuprüfen haben, ob ein bestimmter Mitgliedstaat generell sicher sei, da die entsprechende Vergewisserung durch den Rat erfolgt sei; eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung eines Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat im Einzelfall sei jedoch gemeinschaftsrechtlich zulässig. Sollte diese Überprüfung ergeben, dass Grundrechte des betreffenden Asylwerbers etwa durch eine Kettenabschiebung bedroht sind, sei aus verfassungsrechtlichen Gründen das Eintrittsrecht zwingend auszuüben.

 

In seinem Erkenntnis vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582 (dem ein - die Zuständigkeit Italiens nach dem Dubliner Übereinkommen betreffender - Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates zugrunde lag) sowie in dem (bereits die Dublin-VO betreffenden) Erkenntnis vom 31.05.2005, Zl. 2005/20/0095-9, führte der Verwaltungsgerichtshof aus, dass in Verfahren wie dem gegenständlichen eine Gefahrenprognose zu treffen ist, ob ein - über die bloße Möglichkeit hinausgehendes - ausreichend substantiiertes "real risk" besteht, dass ein aufgrund der Dublin-VO in den zuständigen Mitgliedstaat ausgewiesener Asylwerber trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens, also auch im Falle der Glaubhaftmachung des von ihm behaupteten Bedrohungsbildes, im Zielstaat der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt ist, wobei insbesondere zu prüfen sei, ob der Zielstaat rechtliche Sonderpositionen vertritt, nach denen auch bei der Zugrundelegung der Behauptungen des Asylwerbers eine Schutzverweigerung zu erwarten wäre. Weiters wird ausgesprochen, dass geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat für sich allein genommen keine ausreichende Grundlage dafür sind, um vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

 

3.5.2. Im gegenständlichen Fall kann nun nicht gesagt werden, dass der Beschwerdeführer ausreichend substantiiert und glaubhaft dargelegt hätte, dass ihm durch eine Rückverbringung in die Bundesrepublik Deutschland die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

Während des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens hat der Beschwerdeführer keine substantiierten Gründe vorgebracht, die gegen seine Rücküberstellung in die Bundesrepublik Deutschland sprechen, sondern er hat lediglich allgemein - ohne entsprechende Begründung bzw. detaillierte Schilderung - vorgebracht, dass es keine Menschenrechte in Deutschland gebe, er keine ärztliche Versorgung im Spital erhalten habe, es nie genügend zu Essen gegeben habe und er vom Leitungswasser Ausschlag bekommen habe.

 

Auch dem wiederum allgemein gehaltenen Vorbringen in der eingebrachten Beschwerde konnten insbesondere keine konkreten, individuell den Beschwerdeführer betreffenden, Bedrohungen entnommen werden, die die Annahme rechtfertigen würden, dass ihm in der Bundesrepublik Deutschland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

In Ermangelung individueller Gründe und eines konkreten Vorbringens des Beschwerdeführers erweisen sich daher in diesem Fall - da darüber hinaus auch keine notorischen Informationen darüber vorliegen, dass der rechtliche und faktische Standard des deutschen Asylverfahrens per se die Verletzung der EMRK im Fall der Effektuierung eines negativen Verfahrensausganges wahrscheinlich erscheinen ließe - die Feststellungen der Erstbehörde als ausreichend und die individuelle Beweiswürdigung (Seiten 8 und 9 des Erstbescheides) als zutreffend. Ein zwingender Grund zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts besteht daher in diesem Zusammenhang nicht.

 

Der Asylgerichtshof kam daher zu dem Schluss, dass dem Beschwerdeführer in der Bundesrepublik Deutschland die reale Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung nicht droht.

 

3.5.3. Ferner ist eine Überprüfung gemäß Art. 8 EMRK dahingehend vorzunehmen, ob der Beschwerdeführer über im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK relevante Verbindungen in Österreich verfügt.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Der EGMR bzw. die EKMR verlangen zum Vorliegen des Art. 8 EMRK das Erfordernis eines "effektiven Familienlebens", das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushaltes, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat (vgl. das Urteil Marckx [Ziffer 45] sowie Beschwerde Nr. 1240/86, V. Vereinigtes Königreich, DR 55, Seite 234; hierzu ausführlich: Kelin, "Die Bedeutung der EMRK für Asylsuchende und Flüchtlinge: Materialien und Hinweise", Mai 1997, Seite 46).

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311), und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1989, 761; Rosenmayer ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (vgl. EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

Im gegenständlichen Fall hat der Beschwerdeführer selbst angegeben, dass er keine Verwandten in Österreich sowie im Bereich der EU (einschließlich Norwegen und Island) hat, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis oder eine besondere Nahebeziehung bestehe. Folglich würde der Beschwerdeführer bei einer Überstellung in die Bundesrepublik Deutschland in seinem durch Art. 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt werden.

 

3.5.4. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass kein Anlass für einen Selbsteintritt Österreichs gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO aufgrund einer drohenden Verletzung von Art. 3 bzw. 8 EMRK besteht.

 

3.5.5. Festzuhalten ist auch, dass die in § 28 Abs. 2 AsylG normierte 20-tägige Frist im gegenständlichen Fall eingehalten worden ist.

 

3.5.6. Hinsichtlich Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides ist noch auszuführen, dass keine Hinweise für eine Unzulässigkeit der Ausweisung im Sinne des § 10 Abs. 2 AsylG ersichtlich sind, da weder ein nicht auf das AsylG gestütztes Aufenthaltsrecht aktenkundig ist, noch der Beschwerdeführer in Österreich über Angehörige im Sinne des Art. 8 EMRK verfügt. Darüber hinaus sind auch keine Gründe für einen Durchführungsaufschub gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ersichtlich. Was schließlich den seitens des Bundesasylamtes in dem Bescheidspruch aufgenommenen Ausspruch über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Berufungswerbers in die Bundesrepublik Deutschland anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass die getroffene Ausweisung, da diese mit einer Entscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG verbunden ist, gemäß § 10 Abs. 4 erster Satz AsylG schon von Gesetzes wegen als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat gilt.

 

3.5.7. Die Beschwerde erwies sich somit als nicht berechtigt und war daher spruchgemäß abzuweisen. Bei diesem Verfahrensergebnis erübrigte sich ein Abspruch über die Zuerkennung einer aufschiebenden Wirkung.

 

3.5.8. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG abgesehen werden.

Schlagworte
Ausweisung, Familienbegriff, real risk
Zuletzt aktualisiert am
20.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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