TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/22 S12 401486-1/2008

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Veröffentlicht am 22.09.2008
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Spruch

S12 401.486/2008/3E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Maurer-Kober als Einzelrichterin über die Beschwerde des A.S., geb. 00.00.1950, StA. Russische Föderation, p.A. European Homecare, Thalham 80, Hauptgebäude 1, 4880 Thalham, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 27.08.2008, FZ. 08 06.124-EAST West, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1.1 Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, hat sein Heimatland am 12.07.2008 legal mit seinem eigenen russischen Auslandsreisepass mit dem Zug verlassen, ist illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am 15.07.2008 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

 

1.2. Bei der Erstbefragung am Tag der Antragstellung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen, in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Russisch, gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei von seiner Heimatadresse in Inguschetien nach Moskau und von dort aus am 12.07.2008 mit dem Zug legal mit seinem eigenen russischen Auslandsreisepass über Weißrussland nach Polen gereist, wo er von den polnischen Behörden aufgegriffen worden sei und um Asyl angesucht habe. Er habe jedoch von Anfang an nach Österreich gewollt. Die polnischen Behörden hätten ihn dann nach Dembak ins Flüchtlingslager geschickt, wo er allerdings nicht hingefahren sei, sondern mit einem Taxi nach Warschau. Dort habe er bei Tschetschenen übernachtet und sei am nächsten Tag mit einem PKW über die Slowakei in die Nähe von Traiskirchen gebracht worden. Er sei in Polen gezwungen worden, um Asyl anzusuchen und hätte in ein Flüchtlingslager fahren sollen. Dies habe er nicht gewollt und sei daher weiter nach Österreich gefahren. In Polen würden Asylwerber schlecht behandelt, und es gebe nur schlechte medizinische Versorgung. Sein Heimatland habe er verlassen, da er Europäer werden wolle. Sonst habe er keinen Fluchtgrund. Er wolle auch die Staatsbürgerschaft bekommen. Sein Haus habe er verloren und die russische Regierung hätte ihm nur ca. ein Zehntel des Verlustes ersetzt. Daher sei er nach Österreich geflüchtet. Bei einer Rückkehr in seine Heimat befürchte er, dass er seinen Besitz nicht zurückbekommen und wie ein Fremder behandelt werden würde. Familienangehörige in Österreich oder im Bereich der Europäischen Union habe er nicht.

 

Eine Eurodac-Abfrage vom selben Tag ergab, dass der Beschwerdeführer bereits am 13.07.2008 in Lublin (Polen) einen Asylantrag gestellt hatte.

 

1.3. Am 18.07.2008 richtete das Bundesasylamt ein Wiederaufnahmeersuchen an die zuständige polnische Behörde.

 

1.4. Am 22.07.2008 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 AsylG mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen (§§ 4, 5, 68 Abs. 1 AVG) (§29 Abs.3 Z 4 AsylG), da Dublin Konsultationen mit Polen seit dem18.07.2008 geführt werden (vgl. AS 75f).

 

1.5. Mit Schreiben vom 21.07.2008 (eingelangt beim Bundesasylamt am 22.07.2008) erklärte sich Polen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrag zuständig ist (in der Folge: Dublin II-VO), für die Wiederaufnahme des Asylwerbers für zuständig.

 

1.6. Am 06.08.2008 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle West, nach erfolgter Rechtsberatung in Anwesenheit eines Rechtsberaters sowie eines geeigneten Dolmetschers für die Sprache Russisch niederschriftlich einvernommen und gab dabei im Wesentlichen an, dass er körperlich und geistig in der Lage sei, die Einvernahme durchzuführen. Er leide seit ca. zehn Jahren an Herzproblemen und sei beim Amtsarzt gewesen. Medizinische Dokumente habe er nicht und pflegebedürftig sei er auch nicht. Er habe Schriftstücke, dass er in Grosny sein Vermögen verloren habe und versucht habe, gerichtlich eine Entschädigung zu erhalten. Seit zwölf Jahren habe er in seinem Heimatland kein Vermögen mehr und lebe in Inguschetien. Er habe nach Grosny zurückgewollt, habe allerdings nicht gedurft und daher sei er nach Europa gefahren. Sonst habe er keine Fluchtgründe. In Österreich habe er keine Verwandten und lebe auch nicht in einer Familiengemeinschaft oder in einer familienähnlichen Lebensgemeinschaft. Er habe auch keinen weiteren Bezug zu Österreich. Zur geplanten Vorgehensweise des Bundesasylamtes, ihn nach Polen zu überstellen, gab der Beschwerdeführer an, dass er nichts dazu sagen könne, wenn so das Gesetz sei. In Polen habe es keine Vorfälle gegeben. Er könne zu Polen auch überhaupt nichts sagen, da er sich in Polen nicht auskenne.

 

2. Mit Bescheid vom 27.08.2008, FZ. 08 06.124-EAST West, hat das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 15.07.2008 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutzes gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates Polen zuständig sei. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG zulässig sei.

 

3. Gegen den oben angeführten Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und behauptete im Wesentlichen die inhaltliche Rechtswidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie die unrichtige und fehlende Sachverhaltsfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, hat sein Heimatland am 12.07.2008 unter Verwendung seines eigenen russischen Auslandsreisepasses legal verlassen, ist illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und stellte am 15.07.2008 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

 

Der Beschwerdeführer hat bereits am 13.07.2008 in Lublin (Polen) einen Asylantrag gestellt.

 

Der Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen stehen weder psychische noch physische Störungen bzw. Krankheiten des Beschwerdeführers entgegen.

 

Der Beschwerdeführer hat in Österreich sowie im Bereich der Europäischen Union keine Verwandten und lebt auch mit niemandem in einer Familien- bzw. familienähnlichen Lebensgemeinschaft. Eine sonstige Beziehung zu Österreich hat er ebenfalls nicht.

 

Polen hat sich mit Schreiben vom 21.07.2008 (eingelangt am 22.07.2008) gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin II-VO ausdrücklich für die Wiederaufnahme des Asylwerbers für zuständig erklärt.

 

1.2. Die in § 28 Abs. 2 AsylG festgelegte zwanzigtägige Frist zur Erlassung eines zurückweisenden Bescheides nach § 5 AsylG gilt nicht, weil dem Beschwerdeführer das Führen von Konsultationen gemäß der Dublin II-VO binnen Frist mitgeteilt wurde, weshalb kein Übergang der Zuständigkeit an Österreich wegen Fristüberschreitung eingetreten ist.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt gründet sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Die oben angeführten Feststellungen ergeben sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt, insbesondere aus den Angaben des Beschwerdeführers bei der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 15.07.2008, aus der niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers vom 06.08.2008 sowie aus der Zuständigkeitserklärung Polens vom 21.07.2008 und der Eurodac-Abfrage vom 15.07.2008.

 

3. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

3.1. Gemäß §§ 73 Abs. 1 und 75 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 (in der Folge AsylG) iVm § 1 AsylG ist das oben angeführte Gesetz auf Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden, die ab dem 01.01.2006 gestellt wurden. Daraus folgt, dass für das gegenständliche Verfahren das AsylG 2005 anzuwenden war.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde tritt.

 

3.2. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin II-VO zur Prüfung des Antrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 5 Abs. 3 AsylG ist, sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.

 

Die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der Dublin II-VO ist als negative Prozessvoraussetzung hinsichtlich des Asylverfahrens in Österreich konstruiert. Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist somit die Frage der Zurückweisung des Asylantrages wegen Zuständigkeit eines anderen Staates.

 

Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO wird ein Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt, von jenem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III (Dublin II-VO) als zuständiger Staat bestimmt wird. Kapitel III enthält in den Artikeln 6 bis 13 Dublin II-VO die Zuständigkeitskriterien, die nach Art. 5 Abs. 1 Dublin II-VO "in der in diesem Kapitel genannten Reihenfolge" Anwendung finden.

 

3.3. Gemäß Art. 16 Abs. 1 lit c Dublin II-VO ist der Mitgliedstaat, der nach der Dublin II-VO zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist, gehalten, einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrages unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG sind Ausweisungen nach Abs. 1 unzulässig, wenn 1. dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder 2. diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ist, wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, gleichzeitig mit der Ausweisung auszusprechen, dass die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben ist. Gemäß § 10 Abs. 4 AsylG gilt eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs. 1 Z 1 verbunden ist, stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.

 

Gemäß § 28 Abs. 2 AsylG ist der Antrag zuzulassen, wenn das Bundesasylamt nicht binnen zwanzig Tagen nach seiner Einbringung entscheidet, dass er zurückzuweisen ist, es sei denn, es werden Konsultationen gemäß der Dublin II-VO oder einem entsprechenden Vertrag geführt. Dass solche Verhandlungen geführt werden, ist dem Asylwerber innerhalb der 20-Tages-Frist mitzuteilen.

 

3.4. Im gegenständlichen Fall ist das Bundesasylamt ausgehend davon, dass der Beschwerdeführer bereits in Polen einen Asylantrag gestellt hat und, dass Polen einer Übernahme des Beschwerdeführers auf Grundlage des Art. 16 (1) c Dublin II-VO am 21.07.2008 zustimmte, zu Recht von einer Zuständigkeit Polens zur Prüfung des Asylantrages ausgegangen.

 

3.5. Zu prüfen bleibt daher, ob Österreich im gegenständlichen Fall verpflichtet wäre, im Hinblick auf Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen.

 

3.5.1. Der Verfassungsgerichtshof sprach in seinem Erkenntnis vom 08.03.2001, G 117/00 u.a. VfSlg 16.122, aus, dass § 5 AsylG nicht isoliert zu sehen sei; das im Dubliner Übereinkommen festgelegte Selbsteintrittsrecht Österreichs verpflichte - als Teil der österreichischen Rechtsordnung - die Asylbehörde unter bestimmten Voraussetzungen zur Sachentscheidung in der Asylsache und damit mittelbar dazu, keine Zuständigkeitsbestimmung im Sinne des § 5 vorzunehmen. Eine strikte, zu einer Grundrechtswidrigkeit führende Auslegung (und somit Handhabung) des § 5 Abs. 1 AsylG sei durch die Heranziehung des Selbsteintrittsrechtes zu vermeiden. Dieser Rechtsansicht schloss sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23.01.2003, Zl. 2000/01/0498, an.

 

Hatte der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 15.10.2005, G 237/03 u.a. ausgesprochen, dass jene zum Dubliner Übereinkommen angestellten Überlegungen auch für das Selbsteintrittsrecht des Art. 3 Abs. 2 Dublin-VO zutreffen, ergänzte er in seinem Erkenntnis vom 17.06.2005, B 336/05-11, dies dahingehend, dass die Mitgliedstaaten nicht nachzuprüfen haben, ob ein bestimmter Mitgliedstaat generell sicher sei, da die entsprechende Vergewisserung durch den Rat erfolgt sei; eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung eines Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat im Einzelfall sei jedoch gemeinschaftsrechtlich zulässig. Sollte diese Überprüfung ergeben, dass Grundrechte des betreffenden Asylwerbers etwa durch eine Kettenabschiebung bedroht sind, sei aus verfassungsrechtlichen Gründen das Eintrittsrecht zwingend auszuüben.

 

In seinem Erkenntnis vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582 (dem ein - die Zuständigkeit Italiens nach dem Dubliner Übereinkommen betreffender - Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates zugrunde lag) sowie in dem (bereits die Dublin-VO betreffenden) Erkenntnis vom 31.05.2005, Zl. 2005/20/0095-9, führte der Verwaltungsgerichtshof aus, dass in Verfahren wie dem gegenständlichen eine Gefahrenprognose zu treffen ist, ob ein - über die bloße Möglichkeit hinausgehendes - ausreichend substantiiertes "real risk" besteht, dass ein aufgrund der Dublin-VO in den zuständigen Mitgliedstaat ausgewiesener Asylwerber trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens, also auch im Falle der Glaubhaftmachung des von ihm behaupteten Bedrohungsbildes, im Zielstaat der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt ist, wobei insbesondere zu prüfen sei, ob der Zielstaat rechtliche Sonderpositionen vertritt, nach denen auch bei der Zugrundelegung der Behauptungen des Asylwerbers eine Schutzverweigerung zu erwarten wäre. Weiters wird ausgesprochen, dass geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat für sich allein genommen keine ausreichende Grundlage dafür sind, um vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

 

3.5.2. Im gegenständlichen Fall kann nun nicht gesagt werden, dass der Beschwerdeführer ausreichend substantiiert und glaubhaft dargelegt hätte, dass ihm durch eine Rückverbringung nach Polen die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

Während des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens hat der Beschwerdeführer kein Vorbringen dahingehend erstattet, aus welchen Gründen er nicht nach Polen überstellt werden könne, um dort sein Asylverfahren zu Ende zu führen. Im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 06.08.2008 gab er sogar an, dass es in Polen keine Vorfälle gegeben habe, und er auch keine weiteren Angaben zu Polen machen könne, weil er sich dort nicht auskenne. Zur geplanten Vorgehensweise des Bundesasylamtes, ihn nach Polen zu überstellen, gab er lediglich an: "Was soll ich sagen, wenn das das Gesetz ist."

 

Betreffend das unsubstantiierte Vorbringen im Rahmen der Erstbefragung vom 15.07.2008, in Polen würden Asylwerber schlecht behandelt und es gebe nur schlechte medizinische Versorgung, in Zusammenhang mit dem Vorbringen bei der Einvernahme am 06.08.2008, er leide seit zehn Jahren an Herzproblemen - was allerdings weder durch medizinische Unterlagen noch durch Bestätigungen von Arztbesuchen untermauert werden konnte - ist darauf zu verweisen, dass gemäß den unbedenklichen und in der Beschwerde unwidersprochen gebliebenen Länderfeststellungen zu Polen im Bescheid des Bundesasylamtes jedem Asylwerber, der nicht in der Lage ist, für seinen Aufenthalt in Polen selbst aufzukommen, umfassende Versorgung gewährt wird. Dazu gehören medizinische Versorgung, Unterkunft und ausreichende Verpflegung. Eine umfassende Versorgung ist für Asylwerber kostenlos. Ferner werden in polnischen Aufnahmezentren alle, auch weniger schwerwiegende Krankheiten von Asylsuchenden behandelt.

 

Lediglich der Vollständigkeit halber wird diesbezüglich zusätzlich auf die relevante Judikatur des EGMR verwiesen:

 

Abschiebungen trotz Krankheitszuständen können sowohl in den Schutzbereich des Artikel 3 EMRK als auch jenen des Artikel 8 EMRK (psychiatrische Integrität als Teil des Rechts auf Persönlichkeitsentfaltung) fallen. Nach dem EGMR (vgl. auch VwGH 28.06.2005, Zl. 2005/01/0080) hat sich die Prüfung der Zulässigkeit der Abschiebung auf die allgemeine Situation im Zielland als auch auf die persönlichen Umstände des Antragstellers zu erstrecken. Für die Prüfung der allgemeinen Situation wurden Berichte anerkannter Organisationen (z.B. der WHO), aus denen jedenfalls eine medizinische erreichbare Grundversorgung, wenn auch nicht kostenfrei, hervorgeht, als ausreichend angesehen. Der Umstand, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland schlechter sind als im Aufenthaltsland, und eventuell "erhebliche Kosten" verursachen, ist nicht ausschlaggebend. Dass sich der Gesundheitszustand durch die Abschiebung verschlechtert ("mentaler Stress" ist nicht entscheidend; Selbstmordgefahr kann ausschlaggebend sein, wenn Person in psychiatrischer Spitalsbehandlung; vgl. KALDIK v Deutschland, 22.09.2005, Rs 28526/05; Einzelfallprüfung erforderlich), ist vom Antragsteller konkret nachzuweisen; bloße Spekulationen über die Möglichkeit sind nicht ausreichend. Auch Selbstmordabsichten hindern eine Abschiebung für sich genommen nicht. In der Beschwerdesache OVDIENKO v Finnland vom 31.05.2005, Nr. 1383/04, wurde die Abschiebung des Beschwerdeführers, der seit 2002 in psychiatrischer Behandlung war und der selbstmordgefährdet ist, für zulässig erklärt; mentaler Stress durch eine Abschiebungsdrohung in die Ukraine ist kein ausreichendes ¿real risk'. Im psychiatrischen Bereich kann als Leitentscheidung weiterhin Bensaid v. the United Kingdom, no. 44599/98, § 38, ECHR 2001-I, angesehen werden, in dem die Abschiebung einer an Schizophrenie leidenden Person nach Algerien mehrheitlich für zulässig erklärt wurde.

 

Im Lichte dieser Rechtsprechung des EGMR ist sohin zusammenfassend festzuhalten, dass es nicht erforderlich ist, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten in Polen denselben Standard haben müssen wie etwa in Deutschland bzw. Österreich. Durch eine Abschiebung des Beschwerdeführers wird Artikel 3 EMRK nicht verletzt und reicht es jedenfalls aus, wenn medizinische Behandlungsmöglichkeiten im Land der Abschiebung verfügbar sind, was in Polen jedenfalls der Fall ist.

 

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die gesundheitliche Situation des Beschwerdeführers nicht jene besondere Schwere aufweist, um eine Überstellung nach Polen als im Widerspruch zu Art. 3 EMRK stehend zu werten.

 

Der Beschwerdeführer hat damit kein Vorbringen erstattet, welches die Annahme rechtfertigen könnte, dass ihm in Polen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

Ein konkretes Vorbringen, das geeignet wäre, anzunehmen, dass Polen in Hinblick auf tschetschenische Asylwerber unzumutbare rechtliche Sonderpositionen vertreten würde, ist nicht erstattet worden. In diesem Zusammenhang ist lediglich der Vollständigkeit halber noch anzuführen, dass von Seiten Polens keine systemwidrigen Verletzungen der Verpflichtungen aus der Dublin II-VO bekannt sind. Auch geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat sind für sich genommen keine ausreichende Grundlage dafür, dass die österreichischen Asylbehörden vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen müssten (vgl. u.a. VwGH vom 31.05.2008, Zl. 2005/20/0095). Im Übrigen erhalten Antragsteller aus Tschetschenien in Polen zumindest tolerierten Aufenthalt bzw. subsidiären Schutz.

 

Soweit aus dem Vorbringen bzw. aus der Beschwerde herauszulesen ist, dass der Beschwerdeführer in Polen möglicherweise kein Asyl erhalten werde und in die russische Föderation abgeschoben werden könnte, ist ihm entgegenzuhalten, dass es nicht Aufgabe der österreichischen Asylbehörden sein kann "hypothetische Überlegungen über den möglichen Ausgang" eines von einem anderen Staat zu führenden Asylverfahrens anzustellen (vgl. u.a. VwGH vom 31.05.2008, Zl. 2005/20/0095).

 

Aus der Rechtsprechung des EGMR lässt sich ein systematische, notorische Verletzung fundamentaler Menschenrechte in Polen keinesfalls erkennen und gelten im Übrigen die Mitgliedstaaten der EU als sichere Staaten für Drittstaatsangehörige. Zudem war festzustellen, dass ein im besonderen Maße substantiiertes Vorbringen bzw. das Vorliegen besonderer von dem Beschwerdeführer bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, die die Gefahr einer Verletzung der EMRK im Falle einer Überstellung ernstlich möglich erscheinen ließen, im Verfahren nicht hervorgekommen sind. Konkret besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass etwa der Beschwerdeführer im Zuge einer so genannten "ungeprüften Kettenabschiebung" in sein Heimatland, also in die russische Föderation, zurückgeschoben werden könnte.

 

Der Asylgerichtshof kommt daher zu dem Schluss, dass dem Beschwerdeführer in Polen keine reale Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

3.5.3. Ferner ist eine Überprüfung gemäß Art. 8 EMRK dahingehend vorzunehmen, ob der Beschwerdeführer über im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK relevante Verbindungen in Österreich verfügt.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Der EGMR bzw. die EKMR verlangen zum Vorliegen des Art. 8 EMRK das Erfordernis eines "effektiven Familienlebens", das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushaltes, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat (vgl. das Urteil Marckx [Ziffer 45] sowie Beschwerde Nr. 1240/86, V. Vereinigtes Königreich, DR 55, Seite 234; hierzu ausführlich: Kälin, "Die Bedeutung der EMRK für Asylsuchende und Flüchtlinge: Materialien und Hinweise", Mai 1997, Seite 46).

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311), und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1989, 761; Rosenmayer ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (vgl. EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

Im gegenständlichen Fall gab der Beschwerdeführer an, dass er keine Familienangehörigen in Österreich bzw. im Bereich der Europäischen Union habe. Er lebe auch mit niemandem in einer Familien- oder familienähnlichen Lebensgemeinschaft und habe auch sonst keine weiteren Bindungen zu Österreich, weshalb der Beschwerdeführer bei einer Überstellung nach Polen in seinem durch Art. 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt werden würde.

 

3.5.4. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass kein Anlass für einen Selbsteintritt Österreichs gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO aufgrund einer drohenden Verletzung von Art. 3, Art. 8 EMRK besteht.

 

3.5.5. Festzuhalten ist auch, dass die in § 28 Abs. 2 AsylG normierte 20-tägige Frist im gegenständlichen Fall eingehalten worden ist.

 

3.5.6. Hinsichtlich Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides ist noch auszuführen, dass keine Hinweise für eine Unzulässigkeit der Ausweisung im Sinne des § 10 Abs. 2 AsylG ersichtlich sind, da weder ein nicht auf das AsylG gestütztes Aufenthaltsrecht aktenkundig ist noch der Beschwerdeführer in Österreich über Angehörige im Sinne des Art. 8 EMRK verfügt. Darüber hinaus sind auch keine Gründe für einen Durchführungsaufschub gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ersichtlich. Was schließlich den seitens des Bundesasylamtes im Bescheidspruch aufgenommenen Ausspruch über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Polen anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass die getroffene Ausweisung, da diese mit einer Entscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG verbunden ist, gemäß § 10 Abs. 4 erster Satz AsylG schon von Gesetzes wegen als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat gilt.

 

3.5.7. Die Beschwerde erwies sich somit als nicht berechtigt und war daher spruchgemäß abzuweisen.

 

3.5.8. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG abgesehen werden.

Schlagworte
Ausweisung, gesundheitliche Beeinträchtigung, Intensität, medizinische Versorgung, real risk, Überstellungsrisiko (ab 08.04.2008), Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
31.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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