TE AsylGH Bescheid 2008/10/27 B11 311083-1/2008

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Veröffentlicht am 27.10.2008
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Spruch

B11 311.083-1/2008/6E

 

W.A.

 

geb. 00.00.1970, StA.: Afghanistan;

 

schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten

 

Bescheides des unabhängigen Bundesasylsenates

 

BESCHEID

 

SPRUCH

 

Der unabhängige Bundesasylsenat hat durch das Mitglied Dr. Moritz gemäß § 66 Abs. 4 AVG, BGBl. Nr. 51/1991 i.d.g.F., i.V.m. § 61 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, entschieden:

 

Der Berufung von W.A. vom 03.04.2007 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.03.2007, Zahl: 06 05.218-BAE, wird stattgegeben und W.A. gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.

 

Gemäß § 3 Abs. 5 leg. cit. wird festgestellt, dass W.A. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

BEGRÜNDUNG

 

I. Verfahrensgang

 

Mit o.g. Bescheid des Bundesasylamtes (im Folgenden auch: BAA) wurde der Antrag auf internationalen Schutz der berufenden Partei, Staatsangehörige von Afghanistan, gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I), ihr der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 iVm § 34 Absatz 3 AsylG zuerkannt (Spruchpunkt II) und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 07.03.2008 erteilt, wobei gegen Spruchpunkt I Berufung erhoben wurde. Am 14.03.2008 führte der unabhängige Bundesasylsenat (im Folgenden auch: UBAS) eine mündliche Verhandlung durch, nach deren Schluss sogleich der Berufungsbescheid mit dem o.a. Spruch beschlossen und öffentlich verkündet wurde.

 

II. Der unabhängige Bundesasylsenat hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird festgestellt:

 

Für den als maßgeblich festgestellten Sachverhalt wird der Inhalt folgender den Parteien dieses Verfahrens zugänglichen und auch im Rahmen der öffentlichen Verhandlung der erkennenden Behörde erörterten Aktenteile zum Inhalt des gegenständlichen Bescheides erklärt, nämlich

 

-) die Angaben der berufenden Partei zu ihrer Person im Wesentlichen in den Punkten 1. sowie 4. bis 9. in der Niederschrift des Bundesasylamtes vom 09.02.2007, s. BAA-Akt, S. 205 und 207;

 

-) die Angaben der berufenden Partei zu ihren Fluchtgründen in der Niederschrift des Bundesasylamtes vom 20.03.2007, Abschnitt "F:

Halten Sie Ihre bisherigen Angaben aufrecht?" samt Antwort, bis "F:

Die Einvernahme wird beendet. Haben Sie dem bereits Gesagten etwas hinzuzufügen?" samt Antwort (BAA-Akt, S. 261 - 267, s. auch BAA-Bescheid, S. 3 -7);

 

-) die Angaben in den Informationsunterlagen (s. ihre Anführung in der Niederschrift der Verhandlung des unabhängigen Bundesasylsenates vom 14.03.2007, S. 4), sowie

 

-) das in der o.a. Verhandlung mündlich erstattete Gutachten des im Berufungsverfahren beigezogenen Sachverständigen für Afghanistan, siehe die diesbezügliche Niederschrift, S. 5.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt beruht auf folgender Beweiswürdigung:

 

2.1. Die Feststellungen betreffend die berufende Partei beruhen im Wesentlichen auf ihrem Vorbringen im gesamten Verfahren einschließlich der im Akt befindlichen Dokumente, nämlich

 

-) Kopie der afghanischen Heiratsurkunde der berufenden Partei (s. BAA-Akt, S. 173),

 

-) afghanischer Personalausweis der berufenden Partei in Kopie (s. BAA-Akt, S. 181),

 

-) afghanischer Reisepass der berufenden Partei in Kopie (s. BAA-Akt, S. 185 ff.).

 

Für die Glaubwürdigkeit der Ausführungen der berufenden Partei im Lichte des oben festgestellten maßgeblichen Sachverhaltes (s. Pt. II.1.) sprach, dass diese im Wesentlichen widerspruchsfrei waren und auch durch die glaubwürdigen Ausführungen ihres Ehegatten gestützt wurden. Ihre Angaben waren so weit detailliert und konkret, dass die Annahme, dass sie wahr sind, zutreffend getroffen werden kann. Vor allem ihre Angaben zu ihrer Situation als Frau in Afghanistan erwiesen sich vor dem Hintergrund der o.a. mündlichen Stellungnahme des dem Berufungsverfahren beigezogenen Sachverständigen als nachvollziehbar und glaubwürdig. Dessen ungeachtet waren die Ausführungen der berufenden Partei flüssig bzw. antwortete sie konkret und bestimmt auf Fragen in der Verhandlung. Zudem lassen die dem unabhängigen Bundesasylsenat vorliegenden Informationen über die politische und Menschenrechtslage im Herkunftsstaat der berufenden Partei nicht den Schluss zu, dass dieses Vorbringen unwahr ist. Schließlich sprach auch die Authentizität der berufenden Partei für die Glaubwürdigkeit dieses Vorbringens, da sie nach ihrem Erscheinungsbild und der Art und Weise ihrer Ausführungen (vor allem deren Reaktion auf Fragen, Gestik, Mimik) einen stimmigen Eindruck auf das erkennende Mitglied hinterließ (zur Bedeutung des persönlichen Eindrucks, den das zur Entscheidung berufene Mitglied der Berufungsbehörde im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vom Berufungswerber gewinnt, s. für viele z.B. VwGH 20.05.1999, Zl. 98/20/0505, 24.06.1999, Zl. 98/20/0435). In Würdigung aller Umstände überwiegen im Ergebnis diejenigen, die für eine Heranziehung des angeführten Vorbringens der berufenden Partei als maßgeblichen Sachverhalt für die gegenständliche Entscheidung sprechen (vgl. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rz. 203, mit dem Hinweis, nach dem Grundsatz "im Zweifel für den Antragsteller" zu verfahren).

 

2.2. Der von der erkennenden Behörde festgestellte Sachverhalt hinsichtlich der politischen und Menschenrechtslage im Herkunftsstaat der berufenden Partei bzw. bezüglich ihrer Situation im Falle ihrer Rückkehr in diesen Staat beruht im Wesentlichen auf dem mündlich erteilten Gutachten des o.g. Sachverständigen in der Verhandlung des unabhängigen Bundesasylsenates vom 14.03.2008 (s. Pt. II.1.), sowie auf den stellvertretend für andere Informationsunterlagen in das Berufungsverfahren eingeführten und erörterten Berichten und Gutachten von als seriös und fachlich-kompetent anerkannten Quellen (s. Pt. II.1.; zu den in diesen Unterlagen angeführten und auch vom Bundesasylamt sowie vom unabhängigen Bundesasylsenat als speziell eingerichtete Bundesbehörden als notorisch anzusehenden und daher jedenfalls auch von Amts wegen zu berücksichtigenden Tatsachen vgl. die einschlägige Judikatur z.B. VwGH 12.05.1999, Zl. 98/01/0365, und VwGH 25.11.1999, Zl. 99/20/0465; zu den laufenden Ermittlungs- bzw. Informationspflichten der Asylbehörden VwGH 06.07.1999, Zl. 98/01/0602, u.v.a.).

 

Die den Feststellungen zugrunde liegenden Ausführungen sind mit weiteren Nachweisen substantiiert, schlüssig und nachvollziehbar. Auf eine Ausgewogenheit von sowohl amtlichen bzw. staatlichen als auch von nichtstaatlichen Quellen, die auch aus verschiedenen Staaten stammen, wurde Wert gelegt. Zudem wird die Seriosität und Aktualität der oben zitierten Ausführungen des im Berufungsverfahren beigezogenen Sachverständigen durch die ausführlichen und differenzierenden, auf die besonderen Umstände im Herkunftsstaat der berufenden Partei eingehenden Angaben bestätigt. Seine Fachkompetenz wurde bereits durch seine in einer Vielzahl von Verfahren vor dem unabhängigen Bundesasylsenat nicht nur beim erkennenden Mitglied erstatteten nachvollziehbaren und schlüssigen Gutachten über die aktuelle Lage im Herkunftsstaat der berufenden Partei unter Beweis gestellt - und wird auch durch seine berufliche Laufbahn und regelmäßigen Studienaufenthalte im Herkunftsstaat der berufenden Partei unterstrichen. Der Sachverständige ist in Afghanistan geboren und aufgewachsen, hat in Kabul das Gymnasium absolviert, in Wien Politikwissenschaft studiert und war in den 90er-Jahren an mehreren UN-Aktivitäten zur Befriedung Afghanistans beteiligt. Er verfügt nach wie vor über zahlreiche Kontakte in Afghanistan, ist mit den dortigen Gegebenheiten bestens vertraut und recherchiert selbst auch für die Berufungsbehörde immer wieder dort vor Ort. Er hat zur politischen Lage in Afghanistan publiziert und überdies im Auftrag anderer Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenats bereits zahlreiche nachvollziehbare und schlüssige Gutachten über die aktuelle Lage in Afghanistan erstattet.

 

Die Würdigung der Ausführungen des Sachverständigen erfolgte auch vor dem Hintergrund der Angaben der sonstigen dem unabhängigen Bundesasylsenat vorliegenden Informationen (s. u.a. auch die anderen in das Berufungsverfahren eingeführten o.a. Unterlagen). Ihre Aussagen ergeben zusammen mit den in diesen Dokumenten angeführten und mit weiteren Nachweisen versehenen Angaben sowie auch mit den sonstigen dem unabhängigen Bundesasylsenat vorliegenden Informationen insofern ein stimmiges Gesamtbild, als die vom Sachverständigen getroffenen Differenzierungen bei der Einschätzung der Verfolgungssituation bestimmter Personengruppen auch von diesen Quellen bestätigt werden (bzw. sich zumindest innerhalb des Spektrums der zu diesem Thema geäußerten Beurteilungen befinden).

 

Die herangezogenen Bescheinigungsmittel wurden im Hinblick sowohl auf ihre Anerkennung als seriöse und zuverlässige Quellen als auch auf ihre inhaltliche Richtigkeit von den Parteien dieses Verfahrens nicht bestritten bzw. sind diesbezüglich keine Zweifel hervorgekommen. Weiters wurden im Verfahren von den Parteien keine Umstände vorgebracht und haben sich bisher keine Anhaltspunkte ergeben, auf Grund derer sich die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat der berufenden Partei in nachvollziehbarer Weise als unrichtig erwiesen hätten.

 

3. Rechtlich ergibt sich:

 

Mit 01.07.2008 hat der Gesetzgeber den Asylgerichtshof als unabhängige Kontrollinstanz in Asylsachen eingerichtet. Die maßgeblichen verfassungsmäßigen Bestimmungen bezüglich der Einrichtung des Asylgerichtshofes befinden sich in den Art. 129c ff. B-VG. Gemäß Art. 151 Abs. 39 Z. 1 B-VG wird mit 01.07.2008 der bisherige unabhängige Bundesasylsenat zum Asylgerichtshof. Laut Z. 4 leg. cit. sind am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof weiterzuführen. Bereits aufgrund der genannten Bestimmungen und der in ihnen erkennbar vom Verfassungsgesetzgeber vorgesehenen Kontinuität ergibt sich, dass der Asylgerichtshof auch für die schriftliche Ausfertigung von mündlich verkündeten Bescheiden des unabhängigen Bundesasylsenates zuständig ist. Im vorliegenden Fall wurde der Berufungsbescheid mit o. a. Spruch am 14.03.2008 und damit vor Einrichtung des Asylgerichtshofes beschlossen und öffentlich verkündet.

 

Gemäß § 73 Abs. 1 und § 75 AsylG 2005 i.V.m. § 1 AsylG 2005 ist das Asylgesetz 2005 auf Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden, die ab dem 01.01.2006 gestellt wurden. Im gegenständlichen Verfahren findet daher das neue Asylgesetz Anwendung.

 

Gemäß § 61 AsylG entscheidet der unabhängige Bundesasylsenat über Rechtsmittel gegen Bescheide des Bundesasylamtes.

 

3.1. Gemäß § 3 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vom 28. 7. 1951, BGBl. Nr. 55/1955, i. V.m. Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. 1. 1967, BGBl. Nr. 78/1974, ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und sich nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obige Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentraler Aspekt der [...] in Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858, u.a.m., S.a. VfGH 16.12.1992, Zl. B 1035/92, Slg. 13314).

 

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG ist eine Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen auf Grund eines Antrages auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

3.2. Die o.a. Feststellungen (s. Pkt. II.1.) zugrundelegend kann hinreichend davon ausgegangen werden, dass der berufenden Partei im Falle ihrer Rückkehr in diesem Staat eine asylrelevante Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht (vgl. VwGH 23.09.1998, Zl. 98/01/0224). Diese Beurteilung ergibt sich auf Grund der Gesamtsituation aus objektiver Sicht (s. hierzu VwGH 12.05.1999, Zl. 98/01/0365), die nicht nur die individuelle Situation der berufenden Partei, sondern auch die generelle politische Lage in ihrem Herkunftsstaat sowie die Menschenrechtssituation derjenigen Personen bzw. Personengruppe berücksichtigt, deren Fluchtgründe mit ihren vergleichbar sind.

 

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße - möglicherweise vorübergehende - Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände mit sich brachte, die zur Ansehung des Asylwerbers als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK führten, nicht aus, um nicht mehr von der Flüchtlingseigenschaft des Asylwerbers zum Beurteilungszeitpunkt auszugehen (VwGH 03.05.2000, Zl. 99/01/0359 unter Bezugnahme auf VwGH 21.01.1999, Zl. 98/20/0399; vgl. auch VwGH 25.01.2001, Zl. 98/20/0549).

 

Aus dem oben festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass von einer grundlegenden Änderung der Situation der Frauen in Afghanistan im Sinne der eben zitierten Judikatur (noch) nicht ausgegangen werden kann. Die dargelegten massiven gesellschaftlichen Diskriminierungen, die Frauen in Afghanistan erfahren, belegen, dass diese weiterhin de facto einer Verletzung in grundlegenden Rechten ausgesetzt sind. Wie im mündlichen Gutachten des o.g. Sachverständigen ausgeführt, bestehen nach wie vor gesellschaftliche Normen dahingehend, dass Frauen sich nur bei Vorliegen bestimmter Gründe alleine in der Öffentlichkeit bewegen dürfen. Widrigenfalls haben Frauen mit Beschimpfungen und Bedrohungen zu rechnen bzw. sind der Gefahr willkürlicher Übergriffe ausgesetzt. Afghanischen Frauen ist es daher auch derzeit nicht möglich, sich ungehindert und sicher in der Öffentlichkeit zu bewegen. Neben diesen Einschränkungen ihrer Selbstbestimmung und ihrer Bewegungsfreiheit kommen massive gesellschaftliche Diskriminierungen u.a. beim Zugang zur Gesundheitsversorgung, bei Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten hinzu.

 

Zur Lage von Frauen unter dem Taliban-Regime vertrat der Verwaltungsgerichtshof die Ansicht, dass bei einer ganzheitlichen Würdigung der von den Taliban gegen die Frauen getroffenen Maßnahmen die asylrechtliche Intensität zu bejahen sei (s. VwGH 16.04.2002, Zl. 99/20/0483). Das Ermittlungsverfahren im vorliegenden Fall hat ergeben, dass noch keine gravierende Änderung der die afghanischen Frauen betreffenden Umstände im Vergleich zu der dem zitierten Erkenntnis zu Grunde liegenden Tatsachenlage stattgefunden, ja sich deren Situation in Afghanistan sogar verschlechtert hat. Diese Umstände waren nicht bloß auf die Politik der Taliban, sondern auf grundlegende traditionell-gesellschaftliche, den Status der afghanischen Frauen definierende Normen zurückzuführen, die von den Taliban lediglich in verschärfter Weise aufgegriffen worden sind. Aus dem Ende des Taliban-Regimes lässt sich daher eine wesentliche Änderung der die afghanischen Frauen betreffenden Umstände nicht ableiten. Die gegenwärtige Situation in Afghanistan geht somit in ihrer Gesamtheit und Vielgestaltigkeit nach wie vor über das Vorliegen einer bloßen (asylrechtlich nicht beachtlichen) Diskriminierung gegenüber Frauen hinaus.

 

Zwar stellen diese Umstände keine Eingriffe von "offizieller" Seite dar, d.h. sie sind von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet. Andererseits ist es der Zentralregierung auch nicht möglich, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Bevölkerungsgruppe der afghanischen Frauen Sorge zu tragen. Der afghanische Staat kommt damit seinen (positiven) Schutzpflichten hinsichtlich dieser Bevölkerungsgruppe nicht nach. Insofern, was das die berufende Partei treffende Sicherheitsrisiko und die Einschränkungen in ihren persönlichen Rechten von Privatpersonen (etwa Teilen der lokalen Bevölkerung) angeht, ist die sie betreffende Situation als nicht-staatliches Verfolgungsrisiko zu qualifizieren. Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kommt auch einer von privaten Personen oder Gruppierungen ausgehenden Verfolgung asylrechtliche Relevanz zu. Für die Beurteilung der asylrechtlichen Relevanz ist nicht auf die Qualifikation des Urhebers des Verfolgungsrisikos abzustellen, sondern lediglich auf die Möglichkeit, angesichts einer bestehenden Gefährdung ausreichenden Schutz im Herkunftsland in Anspruch zu nehmen. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil auf Grund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256, u.v.m.).

 

Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob es der berufenden Partei möglich ist, angesichts des sie betreffenden Sicherheitsrisikos ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat in Anspruch zu nehmen bzw. ob der Eintritt des zu befürchtenden Risikos - trotz Bestehens von Schutzmechanismen im Herkunftsstaat - wahrscheinlich ist. Eine solche Wahrscheinlichkeit ist deshalb zu bejahen, weil in Afghanistan derzeit weder ein funktionierender Polizei- oder Justizapparat besteht, noch überhaupt davon auszugehen ist, dass der tatsächliche Machtbereich der gegenwärtigen Regierung über die Grenzen der Hauptstadt reicht. Weiters ist nicht davon auszugehen, dass im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden; vielmehr liegt ein derartiges Vorgehen gegenüber Frauen teilweise ganz im Sinne der lokalen Machthaber. Für die ist damit nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie angesichts des sie als Frau betreffenden Risikos, Opfer von Übergriffen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann.

 

Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan wäre die berufende Partei daher mit einer für sie prekären Sicherheitslage konfrontiert. Das bedeutet, dass für sie in Afghanistan ein erhöhtes Risiko besteht, Eingriffen in ihre physische Integrität und Sicherheit ausgesetzt zu sein. Dieses Risiko ist sowohl als generelle, die afghanischen Frauen betreffende Gefährdung zu sehen (Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines sonstigen Übergriffs bzw. Verbrechens zu werden) als auch als spezifische Gefährdung, bei non-konformem Verhalten (d.h. bei Verstößen gegen gesellschaftliche Normen wie beispielsweise Bekleidungsvorschriften) Sanktionen ausgesetzt zu sein. Aus beiden Aspekten resultierend ist die berufende Partei im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit einer Situation konfrontiert, in der sie in der Ausübung grundlegender Menschenrechte beeinträchtigt ist. Für die berufende Partei wirkt sich die derzeitige Situation in Afghanistan daher so aus, dass sie im Fall einer Rückkehr einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbaren Einschränkungen und durch das Bestehen dieser Situation einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt ist.

 

Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft. Im Fall der berufenden Partei kann dieses oben dargestellte Verfolgungsrisiko bereits wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorliegen (zur Gruppe der afghanischen Frauen vgl. VwGH 16.04.2002, Zl. 99/20/0483; 20.06.2002, Zl. 99/20/0172; zum Begriff der sozialen Gruppe vgl. auch die Nachweise in UBAS 03.01.2003, Zl. 217.268/24-X/28/02), das in seiner Gesamtheit von asylrelevanter Intensität sein kann.

 

Im Ergebnis weist die der berufenden Partei drohende Verfolgungsgefahr ein Maß an Nachhaltigkeit und Intensität auf, die einen Verbleib der Betroffenen im Heimatland als unerträglich (vgl. z. B. VwGH 11.11.1998, Zl. 98/01/0312, 18.02.1999, Zl. 98/20/0468) oder die Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates als unzumutbar erscheinen lassen (vgl. dazu und zur asylerheblichen Intensität einer Verfolgungshandlung für viele z.B. VwGH 12.09.1996, Zl. 95/20/0288).

 

Im Hinblick auf die sehr bedenkliche Sicherheitslage in Afghanistan, ganz abgesehen von der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Situation in diesem Land, kann auch nicht von einer inländischen Fluchtalternative ausgegangen werden, die der berufenden Partei zur Verfügung stehen würde bzw. deren Inanspruchnahme für sie zumutbar wäre (vgl. u.a. z.B. VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503).

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
asylrechtlich relevante Repressionsmaßnahmen, Diskriminierung, Familienverfahren, gesamte Staatsgebiet, Schutzunfähigkeit, Sicherheitslage, soziale Gruppe
Zuletzt aktualisiert am
26.01.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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