TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/27 D7 400600-1/2008

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.10.2008
beobachten
merken
Spruch

D7 400600-1/2008/5E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Stark als Vorsitzende und den Richter Mag. Kanhäuser als Beisitzer im Beisein der Schriftführerin Mag. Guggenbichler über die Beschwerde des B.I., geb. 00.00.1983, Staatsangehörigkeit Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 19.06.2008, Zahl 07 06.646-BAS, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, BGBl. Nr. 51/1991 (AVG) in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998, zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt I.1. Der (nunmehrige) Beschwerdeführer, dessen Identität feststeht, reiste unter Umgehung der Grenzkontrolle in das Bundesgebiet und brachte am 22.07.2007 beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz ein.

 

Am 22.07.2007 sollte eine Erstbefragung des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführt werden, die jedoch nicht abgehalten werden konnte, da der Beschwerdeführer nicht in der Lage war, einvernommen zu werden (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seiten 1 bis 9).

 

Am 27.07.2007 erfolgte eine "Gutachterliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren gemäß § 30 AsylG 2005", wonach beim Beschwerdeführer eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung nicht vorliege (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seiten 69 bis 77).

 

Am 07.08.2007 wurde der Beschwerdeführer beim Bundesasylamt niederschriftlich zu seiner Person und seinem Reiseweg befragt (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seiten 83 bis 105).

 

Am 05.11.2007 wurde dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigungskarte gemäß § 51 AsylG ausgehändigt und der Beschwerdeführer vor dem Bundesasylamt niederschriftlich zu seinen Fluchtgründen befragt (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seiten 129 bis 139).

 

Am 15.01.2008 erfolgte eine weitere niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt zu seinen Fluchtgründen durch die entscheidungsbefugte Organwalterin des Bundesasylamtes (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seiten 163 bis 171).

 

Der Antrag des Beschwerdeführer auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 19.06.2008, Zahl 07 06.646-BAS, in Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 idgF, abgewiesen und dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt. In Spruchpunkt II. des Bescheides wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 leg. cit. der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation nicht zuerkannt und in Spruchpunkt III. des Bescheides wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seiten 195 bis 267).

 

I.2. Gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 19.06.2008, Zahl 07 06.646-BAS, zugestellt am 03.07.2008, richtet sich gegenständliche fristgerecht am 16.07.2008 als Berufung bezeichnete Beschwerde (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seiten 283 bis 287).

 

II. Der Asylgerichtshof hat über die zulässige Beschwerde erwogen:

 

II.1. Gemäß § 28 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Asylgerichtshof (Asylgerichtshofgesetz - AsylGHG), Art. 1 Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz, BGBl. I Nr. 4/2008, tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Juli 2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I Nr. 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 100/2005, außer Kraft.

 

Gemäß § 22 Abs. 1 Asylgesetz 2005, Art. 2 Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005) in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008, ergehen Entscheidungen des Asylgerichtshofes in der Sache selbst in Form eines Erkenntnisses, alle anderen in Form eines Beschlusses. Die Entscheidungen des Bundesasylamtes und des Asylgerichtshofes haben den Spruch und die Rechtsmittelbelehrung auch in einer dem Asylwerber verständlichen Sprache zu enthalten.

 

Gemäß § 61 Abs. 1 AsylG 2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008, entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten oder, soweit dies in Abs. 3 vorgesehen ist, durch Einzelrichter über

 

Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und

 

Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.

 

Gemäß § 61 Abs. 3 AsylG 2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008, entscheidet der Asylgerichtshof durch Einzelrichter über Beschwerden gegen

 

zurückweisende Bescheide

 

wegen Drittstaatssicherheit gemäß § 4;

 

wegen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 5;

 

wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG und

 

die mit diesen Entscheidungen verbundene Ausweisung.

 

Im gegenständlichen Fall handelt es sich um ein Beschwerdeverfahren, das gemäß

 

§ 61 Abs. 1 AsylG 2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008, von dem nach der Geschäftsverteilung zuständigen Senat zu entscheiden ist.

 

II.2. Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 73 Abs. 1 AsylG 2005 tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Jänner 2006 in Kraft.

 

Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 1997 - AsylG), BGBl. I. Nr. 76/1997 tritt mit Ausnahme des § 42 Abs. 1 mit Ablauf des 31. Dezember 2005 außer Kraft

 

(§ 73 Abs. 2 AsylG 2005).

 

Gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz wurde am 22.07.2007 gestellt, weshalb dieses Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008, zu führen ist.

 

II.3. Der Asylgerichtshof geht von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:

 

Die Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers konnten vom Bundesasylamt festgestellt werden. Dem Bruder des Beschwerdeführers, I.B., wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 00.00.2005 Asyl gewährt.

 

II.4. Gemäß § 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 51/1991 (AVG), hat die Berufungsbehörde außer in dem in Abs. 2 erwähnten Fall, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung (§ 60) ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

Die Staatsangehörigkeit und Identität des Beschwerdeführers (II.3.) konnten nach Vorlage von Identitätsdokumenten vor dem Bundesasylamt festgestellt werden.

 

II.5.1. Gemäß § 66 Abs. 2 AVG, BGBl. Nr. 51/1991 in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998, kann die Berufungsbehörde, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen.

 

Gemäß § 66 Abs. 3 AVG, BGBl. Nr. 51/1991, kann die Berufungsbehörde jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiemit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist.

 

Auch der Unabhängige Bundesasylsenat war zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG berechtigt (VwGH E vom 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315 und Zl. 2002/20/0084). Eine kassatorische Entscheidung darf von der Berufungsbehörde nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann getroffen werden, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint. Die Berufungsbehörde hat dabei zunächst in rechtlicher Gebundenheit zu beurteilen, ob angesichts der Ergänzungsbedürftigkeit des ihr vorliegenden Sachverhaltes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als "unvermeidlich erscheint". Für die Frage der Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG ist es aber unerheblich, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder nur eine Vernehmung erforderlich ist (VwGH E vom 14.03.2001, Zl. 2000/08/0200; zum Begriff "mündliche Verhandlung" im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG VwGH E vom 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084).

 

Der VwGH im Erkenntnis vom 17.10.2006 (Zl. 2005/20/0459) betont, dass eine Behebung nach § 66 Abs 2 AVG nur zulässig ist, wenn eine weitere Verhandlung/Einvernahme erforderlich ist, was nicht der Fall wäre, wenn die Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens durch schriftliches Parteiengehör saniert hätten werden können.

 

Der Gesetzgeber hat in Asylsachen ein zweiinstanzliches Verfahren (mit nachgeordneter Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts) eingerichtet, wobei der belangten Behörde die Rolle einer "obersten Berufungsbehörde" zukommt (Art. 129c Abs. 1 B-VG). In diesem Verfahren hat bereits das Bundesasylamt den gesamten für die Entscheidung über den Asylantrag relevanten Sachverhalt zu ermitteln und es ist gemäß § 27 Abs. 1 AsylG grundsätzlich verpflichtet, den Asylwerber dazu persönlich zu vernehmen. Diese Anordnungen des Gesetzgebers würden aber unterlaufen, wenn es wegen des Unterbleibens eines Ermittlungsverfahrens in erster Instanz zu einer Verlagerung nahezu des gesamten Verfahrens vor die Berufungsbehörde käme und die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen damit zur bloßen Formsache würde. Es ist nicht im Sinne des Gesetzes, wenn die Berufungsbehörde, statt ihre (umfassende) Kontrollbefugnis wahrnehmen zu können, jene Behörde ist, die erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermittelt und einer Beurteilung unterzieht (VwGH E vom 21.11.2002, Zl. 2002/20/315).

 

Über die Unvollständigkeit der Einvernahme hinaus gehende Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens sprechen auch bei Bedachtnahme auf die mögliche Verlängerung des Gesamtverfahrens unter dem Gesichtspunkt, dass eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst bei der "obersten Berufungsbehörde" beginnen und zugleich - abgesehen von der im Sachverhalt beschränkten Kontrolle der letztinstanzlichen Entscheidung durch den Verwaltungsgerichtshof - bei derselben Behörde enden soll, für die mit der Amtsbeschwerde bekämpfte Entscheidung (VwGH E vom 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084).

 

II.5.2. Gemäß Art. 129c Z 1 B-VG, BGBl. I Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 2/2008, erkennt nunmehr der Asylgerichtshof statt dem Unabhängigen Bundesasylsenat als "oberste Berufungsbehörde" nach Erschöpfung des Instanzenzuges über Bescheide des Bundesasylamtes. Die bisherige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 66 Abs. 2 AVG in Verfahren, die beim Unabhängigen Bundesasylsenat waren, lässt sich auch auf Verfahren, die beim Asylgerichtshof anhängig sind, übertragen. Es ist nach wie vor ein zweiinstanzliches Asylverfahren vorgesehen. In Asylverfahren hat bereits das Bundesasylamt den gesamten für die Entscheidung über den Asylantrag oder Antrag auf internationalen Schutz relevanten Sachverhalt zu ermitteln. Unterbliebe ein umfassendes Ermittlungsverfahren in erster Instanz, würde nahezu das gesamte Verfahren vor die Beschwerdebehörde verlagert werden, sodass die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen zur bloßen Formsache würde. Es liegt nicht im Sinne des Gesetzes, dass der Asylgerichtshof erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermitteln und beurteilen muss und damit seine umfassende Kontrollbefugnis nicht wahrnehmen kann. Eine ernsthafte Prüfung des Antrages soll, abgesehen von der nachprüfenden Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof (Art. 144a B-VG), nicht erst bei der letzten Instanz beginnen und zugleich enden.

 

II.5.2.1. Im vorliegenden Verfahren hat das Bundesasylamt in seinem Bescheid unter anderem folgende Feststellungen getroffen:

 

"... In Österreich lebt der Bruder des ASt. ...

 

... Der ASt. ist ein junger, arbeitsfähiger Mann.

 

Der ASt. leidet weder an einer psychischen noch physischen Erkrankung, deren Behandlung in Österreich unabdingbar wäre. ...

 

... Es konnte nicht festgestellt werden, dass der ASt. in seinem Herkunftsstaat in einem mit seiner Ausreise in Zusammenhang stehenden Zeitraum einer Bedrohung bzw. Verfolgung ausgesetzt war."

(erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seite 229 bzw. Bescheid Seite 18).

 

Das Bundesasylamt stellt somit in seinem Bescheid unter anderem fest, dass der Asylwerber weder an einer psychischen noch physischen Erkrankung leidet, deren Behandlung in Österreich unabdingbar wäre. Im gegenständlichen Verfahren wurde kein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt, obwohl sich im Laufe des Verfahrens vor dem Bundesasylamt zahlreiche Hinweise ergeben haben, wonach der Beschwerdeführer möglicherweise unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, die ihn an einer stringenten Darstellung seiner Fluchtgründe hindern könnten. Es wäre auf Grund vorliegender Indizien in der niederschriftlichen Erstbefragung am 22.07.2007 jedenfalls erforderlich gewesen abzuklären, ob die Ungereimtheiten im Vorbringen nicht auch durch die psychische Verfassung des Beschwerdeführers zu erklären sind:

 

" ...Der hier anwesende konnte nicht niederschriftlich einvernommen werden, da er aufgrund einer Minenexplosion sich in einer nicht einwandfreien geistigen Verfassung befindet (Traumatisiertem Zustand). Er konnte keine Antworten geben, da er offensichtlich unter Gedächtnisverlust leidet. Sowie an körperlicher Verstümmelung. Die hier mit ihm anwesende B.C. eine Frau die er kennt nahm in auf Ansuchen seiner Tante mit auf die Reise nach Österreich und versprach für ihn zu sorgen. Sie sucht für ihn ebenfalls um Asyl an. Sie bestätigte ebenfalls seinen nicht normalen Geisteszustand. ..."

(erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seite 3).

 

Anlässlich der niederschriftlichen Befragung beim Bundesasylamt am 07.08.2007 gab der Asylwerber an:

 

" ... Der AW hat Schwierigkeiten, die Zeit seiner Schulbildung in

Jahreszahlen anzugeben. ..." (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seite 89 oben).

 

" ... F: Was können Sie dazu angeben?

 

A: Wieso hätte ich nicht antworten können ich wollte antworten, aber mein Fuß schmerzte und mein Kopf war ganz durcheinander. Deshalb konnte ich nicht alles beantworten, es war jedoch keine Weigerung. ..." (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seite 89 unten).

 

"... F: Auf welchem Flughafen sind Sie gelandet?

 

A. Weiß ich auch nicht, habe ich vergessen. ..." (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seite 93).

 

" ... F: Woher wissen Sie, dass sie in Bratislava waren?

 

A: An einiges kann ich mich erinnern, an einiges nicht.

 

F: Warum können Sie sich nicht erinnern?

 

A: Ich habe eine Minenverletzung, dann zehn Operationen mit und ohne Narkose. Die Narkosen wirken auf Gedächtnis und Schlaf. ..."

(erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seite 97 unten).

 

"... F: Können sie sich Ereignisse, die nach diesen Operationen liegen, merken, besonders die Ereignisse der letzten Wochen?

 

A: Wenn sie wollen, können sie mich erschlagen, ich kann mich nicht erinnern. ..." (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seite 99).

 

Ebenso erfolgten in den weiteren Einvernahmen Hinweise, die die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens notwendig gemacht hätten. Die bloße Einholung einer Gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin ist im speziellen Fall des Beschwerdeführers auf Grund der konkreten Hinweise, wonach er psychische Probleme haben könnte, nicht ausreichend. Das Bundesasylamt wird im fortgesetzten Verfahren den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers umfassend sowohl hinsichtlich der Folgen der Operationen am Fuß als auch im Hinblick auf seine psychische Verfassung zu erheben haben, und festzustellen haben, welche Konsequenzen sich aus den Operationen ergeben, ob Medikamente einzunehmen sind, welche Behandlungen notwendig sind und ob eine entsprechende Behandlung in der Russischen Föderation sichergestellt ist. Das Bundesasylamt darf sich bezüglich der geltend gemachten Behinderung am Fuß nicht auf seine "laienhaften" Einschätzung durch die entscheidungsbefugte Organwalterin und die Angaben des Beschwerdeführers, wonach er derzeit keine ärztliche Behandlung benötige, verlassen, sondern wird seiner Begründung ein ärztliches Gutachten, das mit dem Beschwerdeführer zu erörtern sein wird, zugrunde zu legen haben. Nach dem bisherigen Ermittlungsverfahren gestalten sich die Ausführungen des Bundesasylamtes für den Asylgerichtshof als nicht nachvollziehbar und ermöglichen dem Asylgerichtshof nicht seine Funktion als Kontrollinstanz wahrzunehmen.

 

II.5.2.2. Dem Bundesasylamt ist in seiner Begründung, wonach nicht von systematischen weit verbreiteten Übergriffen gegen alle Personen tschetschenischer Ethnie gesprochen werden könne (erstinstanzlicher Verwaltungsakt, Seite 241 bzw. Bescheid Seite 24), beizupflichten, jedoch ist dem Bundesasylamt vorzuwerfen, dass es auf die Person des Bruders des Beschwerdeführers, dem in Österreich Asyl gewährt worden ist, im gegenständlichen Verfahren nicht näher eingegangen ist. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 19.12.2001, Zl. 98/20/0312, zur Gefahr einer "Sippenhaftung" ausführte, entspräche diese Form der "stellvertretenden" (oder - in anderen Fällen - zusätzlichen) Inanspruchnahme eines Familienmitgliedes dem Modell des - oft als "Sippenhaftung" bezeichneten - "Durchschlagens" der Verfolgung eines Angehörigen auf den Asylwerber, wobei in den hier in der Praxis im Vordergrund stehenden Fällen eine Verfolgung des Angehörigen wegen politischer Aktivitäten für die Asylrelevanz dieses "Durchschlagens" nicht gefordert wird, dass der potentielle Verfolger auch dem Asylwerber eine entsprechende politische Gesinnung unterstellt. Die Rechtsgrundlage für das Absehen vom Erfordernis einer dem Asylwerber selbst zumindest unterstellten politischen Gesinnung in den Fällen der "Sippenhaftung" ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes in der Anerkennung des Familienverbandes als "soziale Gruppe" gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK in Verbindung mit § 7 AsylG (nunmehr § 3 AsylG 2005) zu sehen. Das Bundesasylamt wird daher (weitere) Ermittlungen anstellen und Feststellungen treffen müssen, ob im Falle des Beschwerdeführers die Gefahr besteht, dass der Beschwerdeführer, der als Bruder in einer engen Verbindung zu einer Person, die der Rebellion beschuldigt wurde, steht, in Zukunft Übergriffen in der Russischen Föderation ausgesetzt ist. Im Übrigen könnte die Einvernahme des Bruders des Beschwerdeführers, der im selben Haus wie der Beschwerdeführer gelebt haben soll, für den Fall, dass der Beschwerdeführer aus gesundheitlichen Gründen dazu nicht in der Lage ist, weitere aufschlussreiche Informationen zur Situation der Familie des Beschwerdeführers bringen.

 

Die beiden dargelegten Umstände (II.5.2.1. und II.5.2.2.) müssen insgesamt jedenfalls als maßgeblicher Mangel angesehen werden, welcher einer weiteren Einvernahme des Beschwerdeführers, eventuell auch seines Bruders und der Einholung medizinischer Sachverständigengutachten bedarf. Das Bundesasylamt wird sich im fortgesetzten Verfahren mit den bereits dargestellten Fragen auseinanderzusetzen haben, entsprechende Ermittlungen zu führen und diese Ergebnisse mit dem Beschwerdeführer zu erörtern haben.

 

Im Ergebnis war spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
gesundheitliche Beeinträchtigung, Gutachten, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
31.12.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten