TE Vwgh Erkenntnis 2005/6/30 2002/20/0279

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.06.2005
beobachten
merken

Index

E000 EU- Recht allgemein;
E3R E19103000;
19/05 Menschenrechte;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/02 Staatsbürgerschaft Staatenlosigkeit;

Norm

32003R0343 Dublin-II Art15 Abs1 impl;
32003R1560 Dublin-II DV Art13 Abs4 impl;
AsylG 1997 §5 Abs1 idF 1999/I/004;
AsylG 1997 §5 idF 1999/I/004;
AsylG 1997 §5 idF 2003/I/101;
Dubliner Übk 1997 Art9;
EURallg impl;
MRK Art3;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des R in W, geboren 1963, vertreten durch Mag. Thomas Lechner, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wipplingerstraße 20, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 5. Februar 2002, Zl. 225.927/0- VIII/22/02, betreffend § 5 AsylG (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Ukraine, reiste am 9. August 2001 zusammen mit seiner Ehefrau und den beiden gemeinsamen Kindern (vgl. zu diesen das Erkenntnis vom heutigen Tag, Zlen. 2002/20/0276 bis 0278) von Ungarn kommend in das Bundesgebiet ein. Er verfügte über ein österreichisches, seine Ehefrau für sich und die Kinder über ein Visum der Bundesrepublik Deutschland.

Am 23. August 2001 beantragten der Beschwerdeführer und seine Ehefrau, Letztere auch namens der Kinder, in Österreich Asyl.

Bei der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am selben Tag gab der Beschwerdeführer zum Reiseweg u.a. Folgendes an:

"Meine Frau und meine Kinder fuhren mit einem Direktbus über Ungarn und Österreich nach München, weil es dort eine ukrainische Schule gibt. In München blieben sie drei oder vier Tage. Dann fuhren sie zu mir nach Budapest, um die Lage zu besprechen. Auf Grund eines Anrufes bei meiner Schwiegermutter entschlossen wir uns dann, nach Österreich zu fahren, weil Österreich ein demokratisches Land ist."

Die Ehefrau des Beschwerdeführers gab an, vor der Einreise nach Österreich hätten sie erfahren, dass es "Schwierigkeiten in der Ukraine" gebe.

Nach einer kurzen Einvernahme zu der befürchteten Verfolgung in der Ukraine nahm die Vernehmung des Beschwerdeführers folgenden Verlauf:

"Vorhalt: Das Bundesasylamt gelangt auf Grund des vorliegenden Sachverhaltes zur Ansicht, dass für die Prüfung Ihres in Österreich gestellten Asylantrages gemäß den Bestimmungen des völkerrechtlichen Vertrages über die Bestimmung des zuständigen Staates zur Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrages Deutschland zuständig ist. Ihre Frau und Ihre Kinder sind mittels eines Visum der Bundesrepublik Deutschland in das Schengengebiet eingereist. Auf Grund der Familieneinheit wird daher Deutschland auch Ihr Verfahren übernehmen.

Es ist daher die Einleitung eines Übernahmeverfahrens mit diesem Staat beabsichtigt. Mit Zustimmung Deutschlands wird Ihr Asylantrag in Österreich als unzulässig zurückgewiesen und Ihre Ausweisung nach Deutschland veranlasst. Diese Ausweisung gilt stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den bezeichneten Staat.

Es steht Ihnen im Rahmen des Parteiengehörs frei, sich jetzt mündlich oder binnen zwei Wochen schriftlich dazu zu äußern.

Antw.: Ich habe eigentlich keine Einwände gegen Deutschland. Das einzige ist, Wien ist so ähnlich wie Lviv und von der Mentalität her sind die Deutschen anders als die Österreicher."

Mit Bescheid vom 9. Jänner 2002 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück. Es stellte fest, für die Prüfung des Antrages sei gemäß Art. 9 des Dubliner Übereinkommens (DÜ) Deutschland zuständig, und wies den Beschwerdeführer nach Deutschland aus.

Begründend wurde dazu u.a. ausgeführt, der Beschwerdeführer sei "legal auf dem (gemeint: unter) Verwendung eines österreichischen Schengenvisums über Ungarn nach Österreich" eingereist und habe in Österreich Asyl beantragt. Im weiteren Text der Bescheidbegründung wurde zwar der wesentliche Inhalt des Art. 9 DÜ - unter Einschluss der Bezugnahme auf einen "Wunsch des Asylwerbers" - wiedergegeben, auf das zuletzt erwähnte Tatbestandselement aber im Übrigen nicht eingegangen. Erwähnt wurde, dass die Frist des Art. 11 Abs. 4 DÜ "ohne Antwortschreiben Griechenlands abgelaufen" sei (der Aktenlage nach hatte sich Deutschland - mit der Bitte um Nachsicht wegen versehentlicher Überschreitung der Antwortfrist - am 17. Dezember 2001 bereit erklärt, alle vier Asylwerber zu übernehmen).

In seiner Berufung gegen diese Entscheidung gab der Beschwerdeführer u.a. an, keine Gelegenheit gehabt zu haben, seinen "Befürchtungen hinsichtlich der Zurückschiebung nach Deutschland" Ausdruck zu verleihen, und bei seiner Tochter habe "die Nachricht von der möglichen Abschiebung nach Deutschland ... eine Retraumatisierung ausgelöst."

Mit dem angefochtenen, ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung erlassenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung ab. Sie stützte diese Entscheidung u.a. auf den - erstmals von ihr ins Treffen geführten - Umstand, dass der Beschwerdeführer in der Einvernahme beim Bundesasylamt "keine Einwände gegen Deutschland" artikuliert habe. Auf der Grundlage dieser Stelle in der erstinstanzlichen Niederschrift traf die belangte Behörde folgende Feststellung zum entscheidungsmaßgeblichen Sachverhalt:

"Festgestellt wird weiters, dass der Berufungswerber im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens einer Führung des Asylverfahrens in Deutschland zugestimmt hat."

In der rechtlichen Würdigung des Falles führte die belangte Behörde zu diesem Thema aus, der Beschwerdeführer habe bei Einräumung des Parteiengehörs durch das Bundesasylamt "ausdrücklich ausgeführt, dass er keine Einwände gegen Deutschland habe." Die erstinstanzliche Entscheidung habe "dem Schutz des Familienlebens bestmöglich Rechnung getragen. Im Übrigen steht einem Asylwerber nach dem Dubliner Übereinkommen kein subjektiv öffentliches Recht auf Durchführung eines Asylverfahrens in einem bestimmten Staat des Dubliner Übereinkommens zu (VwGH vom 22.03.2000, 99/01/0424)."

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

In dem zuletzt zitierten Satz hat sich die belangte Behörde auf die frühere Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend Rechtsfolgen der Unzuständigkeit Österreichs nach dem DÜ bezogen (vgl. dazu das Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23. Jänner 2003, Zl. 2000/01/0498). Hierauf braucht im vorliegenden Fall nicht näher eingegangen zu werden, weil die Unzuständigkeit Österreichs nicht gegeben war.

Art. 9 DÜ lautet:

"Auch wenn ein Mitgliedstaat in Anwendung der in diesem Übereinkommen definierten Kriterien nicht zuständig ist, kann dieser auf Ersuchen eines anderen Mitgliedstaats und unter der Voraussetzung, dass der Asylwerber dies wünscht, aus humanitären, insbesondere aus familiären oder kulturellen Gründen, einen Asylantrag prüfen.

Ist der ersuchte Mitgliedstaat bereit, den Asylantrag zu prüfen, so geht die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags auf ihn über."

Ohne den - im Übereinkommen ausdrücklich als "Voraussetzung" bezeichneten - Wunsch des Betroffenen kommt der Zuständigkeitsübergang nicht zustande (zutreffend Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum deutschen Asylverfahrensgesetz, Ergänzungslieferung August 2003, Rz 46 und 95 zu § 29; vgl. jetzt auch Art. 15 Abs. 1 letzter Satz der Dublin II-Verordnung und Art. 13 Abs. 4 der dazu ergangenen Durchführungsverordnung).

Im vorliegenden Fall wurde dem Beschwerdeführer - im Widerspruch zur tatsächlichen Rechtslage - vorgehalten, nach Ansicht des Bundesasylamtes sei "für die Prüfung Ihres in Österreich gestellten Asylantrages ... Deutschland zuständig". Vom Vorbehalt einer "Zustimmung" war dabei nur in Bezug auf Deutschland, aber nicht in Bezug auf den Beschwerdeführer die Rede. Dass es ihm - bei klarer Zuständigkeit Österreichs auf Grund des ihm erteilten Visums - nach dem DÜ offen stehe, durch die Äußerung eines darauf abzielenden Wunsches ein Ersuchen an Deutschland im Sinne des Art. 9 DÜ herbeizuführen, oder davon abzusehen, wurde ihm nicht mitgeteilt.

Die Antwort des Beschwerdeführers - er habe "eigentlich keine Einwände gegen Deutschland" - entspricht der erwartbaren Reaktion eines Asylwerbers, dem (im vorliegenden Fall: wahrheitswidrig) die Zuständigkeit eines anderen Vertragsstaates für seinen Asylantrag vorgehalten wird und der keine auf diesen Staat bezogenen Einwände unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK (insbesondere hinsichtlich der Gefahr einer Kettenabschiebung) vorzutragen hat. Ein "Wunsch" des Beschwerdeführers, nach Deutschland verbracht zu werden, kommt in seiner Antwort aber nicht einmal andeutungsweise zum Ausdruck.

Die belangte Behörde hat sich darüber hinweggesetzt, die Nichterfüllung der Voraussetzungen des Art. 9 DÜ in diesem Punkt verkannt und ihren Bescheid dadurch mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 30. Juni 2005

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2005:2002200279.X00

Im RIS seit

29.07.2005
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten