RS Vfgh 2004/3/13 G279/02 ua

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Veröffentlicht am 13.03.2004
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art18 Abs1
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsgegenstand
B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag
B-VG Art140 Abs4
B-VG Art140 Abs5 / Fristsetzung
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
ASVG §32a
ASVG §416
ASVG §447a Abs1, Abs3, Abs5
ASVG §447b Abs2
ASVG §447c
ASVG §600 Abs10, Abs11
VfGG §65a

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit der Neuorganisation der Krankenkassenfinanzierung; Gleichheitswidrigkeit der Einbeziehung der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, der Bauern, der öffentlich Bediensteten und der österreichischen Eisenbahnen in den Ausgleichsfonds; Unzulässigkeit einer "Quersubventionierung"; bloßes Bestehen eines Überschusses keine sachliche Rechtfertigung für die Bildung einer trägerübergreifenden Riskengemeinschaft; Unsachlichkeit der angeordneten Bedachtnahme auf die Kassenlage bei Verteilung von Strukturausgleichs-Zuschüssen; mangelnde Bestimmtheit des für die Beurteilung von Strukturnachteilen weiters heranzuziehenden Kriteriums "Großstadtfaktor"; Unbestimmtheit sowohl der Rechtsform als auch des möglichen Inhaltes der sogenannten "Zielvereinbarungen"; Unsachlichkeit der Bestimmungen über "Zielerreichungs-Zuschüsse", die Erhöhung der Beitragspflicht für die Jahre 2003 und 2004 und die Verpflichtung einzelner Krankenversicherungsträger zur Gewährung von Darlehen an den Ausgleichsfonds

Rechtssatz

Teilweise Zulässigkeit des Antrags der Vorarlberger Landesregierung, eines Drittelantrags von Nationalratsabgeordneten sowie der Anträge einiger Krankenversicherungsträger auf Aufhebung der Regelungen der 60. ASVG-Novelle, BGBl I 140/2002, betreffend den "Krankenkassen-Finanzausgleich".

Wie sich aus Art140 Abs4 B-VG ergibt, ist ein Antrag einer Landesregierung als Fall einer abstrakten Normenkontrolle nur gegen bei Fällung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes noch geltende, nicht aber gegen in diesem Zeitpunkt bereits außer Kraft getretene Normen zulässig (zB VfSlg 14802/1997).

Mit Art73 BudgetbegleitG 2003, BGBl I 71/2003, ist ua §32a ASVG in seinem Abs3 - rückwirkend mit 01.05.03 - neu erlassen worden. Der Antrag der Vorarlberger Landesregierung, (auch) §32a Abs3 ASVG idF der 60. Novelle zum ASVG aufzuheben, richtet sich somit insoweit gegen eine nicht mehr in Kraft stehende Bestimmung und war daher zurückzuweisen.

Dass einige der angefochtenen Bestimmungen erst nach Antragstellung in Kraft getreten sind, ändert nichts an der Zulässigkeit der Anträge der Landesregierung und der Abgeordneten zum Nationalrat.

Teilweise Zurückweisung der Anträge der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (BVA).

Der in der Beitragsverpflichtung (§447a Abs3 ASVG und §600 Abs10 ASVG) liegende Eingriff ist nicht ziffernmäßig bestimmt, sondern abhängig von den Beitragseinnahmen der BVA, sodass es im Einzelfall erst der näheren Konkretisierung des Eingriffes bedarf, wofür im Streitfall auch das Verfahren gemäß §416 ASVG offensteht (vgl VfSlg 16406/2001). Da somit der - behauptete - Eingriff nach Art und Umfang ohne Durchführung des dafür vorgesehenen Verfahrens nicht eindeutig bestimmt ist, mangelt es der antragstellenden BVA schon deshalb an der Antragslegitimation.

Soweit sich die BVA gegen ihre Einbeziehung in den Kreis der dem Ausgleichsfonds angeschlossenen Krankenversicherungsträger wendet, könnte sie diese Frage im Wege des Verfahrens gemäß §416 ASVG an den Verfassungsgerichtshof herantragen, sodass ihr insoweit ein anderer zumutbarer Weg offenstünde.

Soweit die Antragstellerin die Verfassungswidrigkeit des §416 ASVG idF BGBl 764/1996 behauptet, bekämpft sie eine Bestimmung in einer nicht mehr in Geltung stehenden Fassung; sie hat auch nach Erlassung der Novelle des §416 ASVG (BGBl I 71/2003) keine Begründung dafür nachgereicht, weshalb sie - ungeachtet der materiellen Derogation der angefochtenen Bestimmung - durch diese Norm in ihrer bisherigen Fassung (weiterhin) aktuell betroffen sei.

Die Antragstellerin hat weder dargetan, dass die von ihr weiters angefochtenen Bestimmungen über die Verwaltungskörper des Hauptverbandes überhaupt in ihre Rechtssphäre eingriffen, noch, dass diese Normen für sie unmittelbar wirksam geworden wären. Der Antrag leidet somit insoweit an einem inhaltlichen, einer Verbesserung nicht zugänglichen Mangel.

Es ist wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz unzulässig, Beitragseinnahmen, und seien es auch Überschüsse oder Rücklagen, einer Versichertengemeinschaft an eine andere Versichertengemeinschaft zu übertragen, sofern zwischen diesen beiden Versichertengemeinschaften kein persönlicher und sachlicher Zusammenhang besteht.

Es ist aber aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht schlechthin unzulässig, besondere Nachteile, die einem Versicherungsträger (einer Versichertengemeinschaft) auf Grund einer bestimmten Gestaltung des Gesamtsystems, insbesondere also durch Bestimmungen entstehen, die Wirkungen (wie etwa die "Wanderversicherungsverluste") erzeugen, welche die Grenzen der in Selbstverwaltung organisierten Versichertengemeinschaften überschreiten, durch Zahlungen zwischen den Versicherungsträgern auszugleichen.

Eine die einzelnen Versichertengemeinschaften übergreifende "Quersubventionierung" ist grundsätzlich als unzulässig zu qualifizieren.

Der Umstand, dass der Gesetzgeber in der sozialen Krankenversicherung nicht zwischen "guten" und "schlechten" Risken unterscheiden und daran etwa beitragsrechtliche Konsequenzen knüpfen darf (vgl VfSlg 3721/1960, 15859/2000), kann dazu führen, dass manche Krankenversicherungsträger in Abhängigkeit von der Wirtschaftsentwicklung, aber auch von strukturellen Umständen in der Schichtung der Versichertengemeinschaft, von solchen nicht steuerbaren Risken stärker betroffen sind als andere, sodass die einen - insoweit "ungerechtfertigte" - Nachteile erleiden, während anderen ebensolche "Vorteile" entstehen.

Wenn der Gesetzgeber solche systembedingten Strukturprobleme zum Anlass nimmt, trägerübergreifende Ausgleichsmaßnahmen zu setzen, ist jedoch das bloße Bestehen eines "Überschusses" bei einem Versicherungsträger allein nicht geeignet, die Bildung einer "trägerübergreifenden Riskengemeinschaft" sachlich zu rechtfertigen.

Aufhebung von Wortfolgen in §447a Abs1 und Abs3 ASVG idF der 60. ASVG-Novelle, BGBl I 140/2002, betreffend die Einbeziehung der SVA der gewerblichen Wirtschaft, der Bauern, der BVA und der VA der Eisenbahnen in den Ausgleichsfonds der Krankenversicherungsträger.

Auch im Falle der Bildung einer Solidargemeinschaft aller Krankenversicherungsträger vermag nicht schon der Umstand, dass ein Versicherungsträger Überschüsse besitzt, während ein anderer Versicherungsträger defizitär ist, Mittelüberweisungen sachlich zu rechtfertigen.

Auch ist es unzulässig, dass schon durch die (unbestrittenen und zum Teil beträchtlichen) Unterschiede im Beitragsrecht oder Leistungsrecht (unter Einschluss der unterschiedlichen Honorierung leistungserbringender Dritter) solche Vor- oder Nachteile entstehen können, welche den Mitteltransfer mit beeinflussen.

Die unterschiedlich hohen Beitragssätze in der Krankenversicherung wirken sich zum einen zwangsläufig bei der Beitragslast aus, zumal diese an das nominelle Beitragsaufkommen anknüpft (vgl §447a Abs3 ASVG); zum anderen kommen sie aber auch beim Strukturausgleich in den Beurteilungskriterien für das Vorliegen der Strukturmerkmale "Beitragseinnahmen je pflichtversicherter Person" sowie "Kassenlage" zum Tragen und benachteiligen dort (ein weiteres Mal) tendenziell die mit höheren Beitragsleistungen belasteten Versichertengemeinschaften. Ähnliche Auswirkungen auf die Kassenlage ergeben sich auch aus zusätzlichen Eigenleistungen der Versicherten wie den bei einzelnen Krankenversicherungsträgern vorgesehenen, von den Versicherten bei Inanspruchnahme eines Vertragspartners zu leistenden Behandlungsbeiträgen ("Selbstbehalten").

Auch hat der Gesetzgeber in keiner Weise berücksichtigt, dass jene Krankenversicherungsträger, deren Einbeziehung in den Ausgleichsfonds in diesem Verfahren zu beurteilen ist, regional nicht gegliedert, sondern bundesweit tätig sind, sodass Strukturnachteile, die sich aus der regionalen Gliederung ergeben, innerhalb der in diesen Krankenversicherungsträgern verkörperten Riskengemeinschaften bereits zum Ausgleich gebracht worden sind.

Die Einbeziehung der SVA der Bauern - unter gleichzeitiger Streichung des in §31 Abs1 BSVG vorgesehenen Bundeszuschusses - hat zur Konsequenz, dass dieser (der Sache nach einer Subvention gleichkommende) Beitrag zu einer ausgeglichenen Gebarung der SVA der Bauern nunmehr im Ergebnis von allen anderen Versichertengemeinschaften zu tragen ist.

Die Neuregelung des Ausgleichsfonds der Krankenversicherungsträger führt daher zu systemimmanenten Benachteiligungen von Krankenversicherungsträgern auf der einen und ebensolchen Begünstigungen auf der anderen Seite und verstößt daher insoweit gegen den Gleichheitssatz.

Aufhebung der Wortfolgen "und ein Großstadtfaktor" und "sowie die Kassenlage" in §447b Abs2 erster Satz ASVG idF der 60. ASVG-Novelle.

§447b Abs2 ASVG zählt die für die Verteilung der Mittel des Ausgleichsfonds zu veranschlagenden Strukturnachteile demonstrativ auf. Von einem den Anforderungen des Gleichheitssatzes genügenden Begriffsverständnis eines Strukturnachteils ausgehend, kann der Verfassungsgerichtshof nicht finden, dass es unsachlich wäre, die Verpflichtung zum Betrieb einer allgemeinen Krankenanstalt als ein Element des Strukturausgleichs vorzusehen. (Insoweit Abweisung des Antrags der Vlbg Landesregierung).

Hingegen erweist sich die gesetzlich angeordnete Bedachtnahme auf die "Kassenlage" des Krankenversicherungsträgers im Zusammenhalt mit den übrigen Kriterien der Mittelaufbringung und -verteilung als unsachlich.

Die Verwendung des Begriffs "Großstadtfaktor" ist insoweit zu unbestimmt, als er nicht hinreichend zum Ausdruck bringt, welche konkreten Strukturnachteile zulässigerweise Grundlage von Ausgleichszahlungen sein dürfen und in welchem Ausmaß ein "Großstadtfaktor" - im Verhältnis zu anderen Strukturnachteilen - die Höhe der Ausgleichszahlungen beeinflusst.

Aufhebung des §32a Abs1 und Abs2 ASVG idF der 60. ASVG-Novelle betreffend Zielvereinbarungen.

§32a ASVG verschafft keine Klarheit darüber, welche Rechtsnatur den "Zielvereinbarungen" beizumessen ist und unter Mitwirkung welcher Institutionen sie zustande kommen.

Diese Regelung lässt einerseits offen, in welchem Verhältnis die vom Verwaltungsrat beschlossenen "Ziele" zu den "Zielvereinbarungen" stehen. Andererseits bleibt unklar, ob eine "Zielvereinbarung" - wie ihre Bezeichnung nahelegt - dennoch als privatrechtlicher Vertrag anzusehen ist, der im Einvernehmen zwischen dem Hauptverband (vertreten durch den Verwaltungsrat) und den einzelnen Krankenversicherungsträgern geschlossen wird, oder aber ob es sich um eine vom Verwaltungsrat des Hauptverbandes ohne Mitwirkung der Krankenversicherungsträger erlassene Zielvorgabe handelt, die insoweit den in §31 ASVG vorgesehenen "Richtlinien" des Hauptverbandes entspräche und - so wie diese - als Verordnung zu qualifizieren wäre.

Der Inhalt verschiedener Vorgaben mag zwar durchaus unter Verwendung von im Wirtschaftsleben etablierten Techniken erarbeitet werden, die verbindliche Anordnung selbst muss jedoch in der Form eines bundesverfassungsgesetzlich vorgesehenen Gestaltungsmittels getroffen werden.

Aufhebung des §447c ASVG idF der 60. ASVG-Novelle betreffend Zielerreichungs-Zuschüsse.

Es ist unsachlich, Beitragsleistungen einer Versichertengemeinschaft zu einem anderen Krankenversicherungsträger ausschließlich im Hinblick darauf umzuschichten, dass dieser andere Krankenversicherungsträger Zielvorgaben eingehalten hat. Die "Zielerreichung" durch einen Versicherungsträger steht mit den Beitragseinnahmen eines anderen Versicherungsträgers in keinem Sachzusammenhang, der unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten jedoch erforderlich wäre.

Aufhebung von Wortfolgen in §447a Abs5 erster Satz sowie des §600 Abs10 erster Satz ASVG idF der 60. ASVG-Novelle.

Gemäß §447a Abs5 erster Satz ASVG sind die Einnahmen des Fonds "nach Abs2 Z1" (das sind die Beiträge der Krankenversicherungsträger) zu 45 vH zum Ausgleich von Strukturproblemen, hingegen "die restlichen Einnahmen" für "Zielerreichungs-Zuschüsse" zu verwenden. Daraus ergibt sich, dass ein Betrag, der jedenfalls die Beitragserhöhung für die Geschäftsjahre 2003 und 2004 übersteigt, nach dem Willen des Gesetzgebers als "Zielerreichungs-Zuschüsse" zu verteilen gewesen wäre.

Die Erhöhung der Beitragspflicht für die Jahre 2003 und 2004 entbehrt auf Grund der Aufhebung der Bestimmungen über die Zielvereinbarungen und über die Zielerreichungs-Zuschüsse nunmehr jedenfalls einer sachlichen Rechtfertigung.

Die in §600 Abs11 ASVG normierte Verpflichtung einzelner Krankenversicherungsträger zur Gewährung eines Darlehens an den Ausgleichsfonds der Krankenversicherungsträger entbehrt ebenfalls einer sachlichen Rechtfertigung. Die Regelung kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass eine Verzinsung des Darlehens bis zur Rückzahlung vorgesehen ist. Für ein "Sonderopfer" ist der von der Bundesregierung ins Treffen geführte Gesichtspunkt der "Riskengemeinschaft" nicht tragfähig.

Keine Fristsetzung für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Bestimmungen, da die Bundesregierung nicht dartun konnte, dass eine zeitlich unmittelbar anschließende Neuregelung erforderlich ist, und eine Fristsetzung die als verfassungswidrig erkannte Zahlungsverpflichtung der Krankenversicherungsträger weiter bestehen ließe.

Ausdehnung der Anlassfallwirkung.

Der Verfassungsgerichtshof sah sich aber aus den zuletzt genannten Gründen veranlasst, - den Anregungen der BVA und der Abgeordneten zum Nationalrat folgend - gemäß Art140 Abs7 zweiter Satz B-VG auszusprechen, dass die aufgehobenen Bestimmungen auch auf vor der Aufhebung verwirklichte Tatbestände nicht mehr anzuwenden sind.

Kostenzuspruch an die SVA der gewerblichen Wirtschaft und die BVA gemäß §65a VfGG.

Da die BVA zu G294/02 keinen Kostenersatz beantragt, zu G23/03 jedoch nur mit einem (geringen) Teil ihres Aufhebungsbegehrens obsiegt hat, war ihr nur ein Viertel des Pauschalsatzes zuzusprechen.

(Quasi-Anlassfälle B686/03, B959/03, beide E v 13.03.04, Aufhebung der angefochtenen Bescheide).

Entscheidungstexte

  • G 279/02 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 13.03.2004 G 279/02 ua

Schlagworte

Sozialversicherung, Krankenversicherung, Verordnungsbegriff, VfGH / Anlaßverfahren, VfGH / Formerfordernisse, VfGH / Fristsetzung, VfGH / Individualantrag, VfGH / Kosten, VfGH / Prüfungsgegenstand, Determinierungsgebot, Geltungsbereich (zeitlicher) eines Gesetzes

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2004:G279.2002

Dokumentnummer

JFR_09959687_02G00279_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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