Kommentar zum § 4 SanG

Dr. Marlon POSSARD am 24.11.2025

Allgemeine Pflichten von Sanitäter:innen gem § 4 SanG unter besonderer Berücksichtigung der OGH-Entscheidung zu 7 Ob 114/25b vom 22.10.2025

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I. Normzweck und systematische Stellung

§ 4 Abs 1 SanG normiert die grundlegenden Berufspflichten aller Sanitäter:innen (Rettungs- und Notfallsanitäter:innen) und stellt das zentrale Leitbild der sanitätshilfsdienstlichen Tätigkeit dar. Die Vorschrift konkretisiert (ähnlich wie ärztliche Berufspflichten nach dem ÄrzteG) eine Sorgfalts- und Schutzpflicht zugunsten von Patient:innen, jedoch in Anpassung an das eingeschränkte berufliche Kompetenzprofil von Sanitäter:innen.

Sanitäter:innen sind de jure weder Diagnostiker:innen noch Heilbehandler:innen im ärztlichen Sinn. Sie agieren primär im Rahmen standardisierter und nicht-ärztlicher Hilfsmaßnahmen (Sichtung, Basismonitoring, Erste Hilfe, Transportvorbereitung, etc). Gleichwohl verlangt § 4 Abs 1 SanG eine eigenständige fachliche Bewertung der Lage bzw. der Situation vor Ort, da Sanitäter:innen das Patient:innenwohl „nach Maßgabe der fachlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse“ zu wahren haben. Daraus folgt aus juristischer Sicht eine Pflicht zur aktiven Entscheidungsfindung und nicht lediglich zur Ausführung von Weisungen.

II. Inhaltliche Schwerpunkte der Sorgfaltspflichten

a) Gewissenhafte Ausübung der Tätigkeit

Die „Gewissenhaftigkeit“ verweist auf den objektiven Sorgfaltsmaßstab von durchschnittlichen und entsprechend ausgebildeten und erfahrenen Sanitäter:innen, dh auf einen Standard von (Berufs-)Sanitäter:innen. Dazu zählen va die strukturierte Erhebung der relevanten Befunde (Vitalparameter, Bewusstseinslage, Anamnese), die Einschätzung des Gefährdungsgrades (Assessment), die Ableitung geeigneter Hilfsmaßnahmen, die Dokumentation und ggf die Eskalation (iVm der Anforderung von Ärzt:innen). Der Maßstab per se ist dynamisch und entwickelt sich mit dem Stand der rettungsmedizinischen Erkenntnisse laufend weiter. Etwaige Leitlinien (zB ERC, nationale Algorithmen) konkretisieren ihn zudem.

b) Wahrung des Patient:innenwohls

§ 4 Abs 1 2. Satz SanG verpflichtet Sanitäter:innen dazu, das Wohl der Patient:innen aktiv zu fördern und Gefahren abzuwenden, soweit dies im eigenen Kompetenzrahmen möglich und fachlich geboten ist. Dies umfasst die Pflicht: (1) Medizinisch indizierte Hilfsmaßnahmen nach den einschlägigen Ausbildungs- und Standardvorgaben durchzuführen, (2) Gefahren einer unterlassenen fachgerechten Abklärung zu erkennen, (3) Bei Verdacht auf gravierende Erkrankungen (bspw ACS, Schlaganfall, Sepsis) die Transportdringlichkeit zu beurteilen und (4) bei unklaren oder potenziell lebensbedrohlichen Symptomen ärztliche Unterstützung anzufordern.

III. Informations- bzw Aufklärungspflichten nach § 4 Abs 1 SanG

Die zentrale Frage, insb in Bezug auf die Entscheidung OGH 7 Ob 114/25b vom 22.10.2025, betrifft das Bestehen einer eigenständigen Aufklärungspflicht von Sanitäter:innen.

a) Keine ärztliche Aufklärungspflicht

Sanitäter:innen sind nicht verpflichtet, medizinische Diagnosen zu stellen oder Aufklärungen zu erteilen, die einer ärztlichen Behandlungsentscheidung vorgelagert sind (zB Risiken oder Erfolgsaussichten medizinischer Eingriffe). Dies würde ihre berufsrechtliche Kompetenz jedenfalls überschreiten.

b) Aber: Informationspflicht aus § 4 Abs 1 SanG

Trotz des Fehlens einer ärztlichen Aufklärungspflicht besteht eine eigenständige Informationspflicht, die unmittelbar aus dem zweiten Satz des § 4 Abs 1 SanG abgeleitet wird. Sanitäter:innen müssen Patient:innen allgemein darüber informieren, aus welchen Umständen und fachlichen Erwägungen heraus sie eine bestimmte Hilfsmaßnahme (dies betrifft etwa Maßnahmen iRv Transport, Monitoring oder ärztlicher Abklärung) für erforderlich halten. Dies ist insofern eine patient:innenrechtlich begründete Pflicht, weil sie zwei wesentliche Funktionen erfüllen soll: (1) Schutzfunktion (= Patient:innen sollen die Tragweite der Entscheidung erkennen können) und (2) Selbstbestimmungsfunktion (= Patient:innen können nur dann wirksam ablehnen, wenn sie über die Bedeutung der Maßnahme auch tatsächlich orientiert sind).

3. Umfang der Informationspflicht

Folgt man der höchstgerichtlichen Entscheidung OGH 7 Ob 114/25b vom 22.10.2025, so umfasst die Pflicht zur Information im Speziellen: (1) Mitteilung der konkret festgestellten Symptome, die aus fachlicher Sicht Handlungsbedarf begründen, (2) Allgemeine Darstellung der Gefahren einer unterlassenen Hilfsmaßnahme (ohne diagnostische Festlegung), (3) Erklärung, weshalb die empfohlene Maßnahme im konkreten Fall erforderlich erscheint und (4) den Hinweis, wenn die Symptome nicht sicher beurteilbar sind und daher eine ärztliche Abklärung geboten ist. Eine solche Information muss patient:innenorientiert und -angepasst sein, dh verständlich, lai:innengerecht und der jeweiligen Situation entsprechend.

IV. Ablehnung von Maßnahmen durch Patient:innen

Mit Blick auf die gegenständliche Entscheidung des OGH (7 Ob 114/25b) kann festgehalten werden, dass, sollten Patient:innen eine empfohlene Hilfsmaßnahme ablehnen (bspw Transport in ein Krankenhaus, Monitoring), Sanitäter:innen in diesen Fällen eine sog verstärkte Orientierungspflicht trifft. Eine solche Orientierungspflicht umfasst etwa: (1) Nennung von Gründen, warum die Maßnahme fachlich geboten ist, (2) Hinweis auf mögliche Risiken, jedoch ohne ärztliche Diagnosen zu behaupten, (3) Exakte und detaillierte Dokumentation der Ablehnung und der erfolgten Information, (4) Bewertung der Einwilligungsfähigkeit (zB Bewusstseinslage, Verwirrtheit, Demenz) und (5) bei Zweifeln an der Entscheidungsfähigkeit ggf Hinzuziehung von Ärzt:innen iRd verstärkten Schutzpflicht.

Der OGH betont idZ nunmehr ausdrücklich, dass allein die Unterschrift eines „Revers“ nicht enthaftend wirkt, wenn die zugrunde liegende Information unzureichend war.

V. Informations- und Schutzpflichten bei pandemiebedingten Befürchtungen (COVID-19-Kontext)

Der gegenständliche OGH-Sachverhalt zeigt, dass Patient:innenentscheidungen durch externe Umstände (bspw Angst vor Infektion) beeinflusst sein können. Auch in solchen Fällen müssen Sanitäter:innen iSd höchstgerichtlichen Entscheidung verdeutlichen, dass (dringende) medizinische Indikationen Vorrang vor abstrakten Infektionsrisiken haben, erklären, welche Schutzmaßnahmen im Rettungsdienst bestehen und hervorheben, dass unterlassene Abklärung akute Lebensgefahren bergen kann. Auch hier gilt wieder: Es handelt sich nicht um eine medizinische Differenzialdiagnose, sondern es werden seitens der Sanitäter:innen Hinweise auf Gefahren aufgrund vorliegender Symptomatiken eingefordert.

VI. Anforderungspflicht von Ärzt:innen bzw Beiziehung von Notärzt:innen

§ 4 Abs 1 3. Satz SanG verpflichtet Sanitäter:innen zudem, nötigenfalls den:die Notärzt:in bzw sonstige Ärzt:innen anzufordern, sofern der Patient:innenzustand potenziell vital bedrohlich ist, die eigene Befundkompetenz nicht ausreicht und/oder der:die Patient:in Maßnahmen ablehnt, deren Notwendigkeit aus Sicht des:der Sanitäters:in nicht ausreichend kommuniziert werden kann oder die Ablehnung medizinisch unvertretbar erscheint.

Die gegenständliche OGH-Entscheidung verdeutlicht jedenfalls, dass die Anforderungspflicht von Ärzt:innen funktional die Informationspflicht ergänzt. Demgemäß gilt: Können Sanitäter:innen die Situation nicht ausreichend überblicken oder Patient:innen nicht zu einer medizinischen Abklärung (etwa im Krankenhaus) überzeugen, so ist ärztliche Unterstützung unabdingbar.  

VII. Praktische Konsequenzen aus der OGH-Entscheidung 7 Ob 114/25b vom 22.10.2025

Der OGH konnte mangels erstinstanzlicher Feststellungen im gegenständliche Fall nicht beurteilen, ob die Informationspflicht der Sanitäter:innen vollumfänglich eingehalten wurde. Die Rechtssache wurde daher für weitere Sachverhaltsermittlung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die Entscheidung des OGH präzisiert jedoch erstmals explizit die Reichweite der sanitäter:innenrechtlichen Informationspflicht und ist daher dogmatisch bedeutsam, weil der OGH nunmehr eine eigenständige Informationspflicht von (Rettungs-)Sanitäter:innen einführt, die weder im SanG ausdrücklich geregelt noch aus ärztlichen Aufklärungsregeln ableitbar ist. Die Pflicht zur Information liegt demnach zwischen reiner Gefahrenhinweispflicht und ärztlicher Aufklärungspflicht. Daraus resultieren praktische Konsequenzen für Rettungsdienstorganisationen, da diese ihre Schulungen anpassen (Kommunikation, Rechte der Patient:innen, Dokumentation) müssen (insb in Bezug auf die Wirksamkeit von sog „Revers-Prozessen“ bei nachweislich ausreichender Information). Zudem erfordert die OGH-Entscheidung fortan verstärkte Anforderungen an die Dokumentation des situativen Entscheidungsprozesses. Darüber hinaus wurde durch den OGH folglich geklärt, dass Sanitäter:innen (bei ernsthaften Symptomen) nicht passiv bleiben dürfen, auch wenn Patient:innen nicht transportiert werden möchten.

Unterlassene Information kann – wie der OGH nun urteilte – zu einer Haftung führen, auch wenn der:die Sanitäter:in grundsätzlich korrekt gehandelt hat (Stichwort: „Revers“). Die Verknüpfung mit dem Selbstbestimmungsrecht von Patient:innen bedeutet, dass diese nur dann wirksam eine  Hilfsmaßnahme ablehnen, wenn sie tatsächlich auch ausreichend orientiert wurden. Mittels der OGH-Entscheidung werden Sanitäter:innen weiter in die Pflicht genommen. Das Unterschreiben eines bloßen „Revers“ durch Patient:innen genügt demnach nicht, um die Sanitäter:innen (gänzlich) von einer etwaigen Haftung zu befreien.


§ 4 SanG | 1. Version | 75 Aufrufe | 24.11.25
Informationen zum Autor/zur Autorin dieses Fachkommentars: Dr. Marlon POSSARD
Zitiervorschlag: Dr. Marlon POSSARD in jusline.at, SanG, § 4, 24.11.2025
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