Kommentar zum § 879 ABGB

Rechtsanwalt Dr. Clemens Lintschinger; MSc am 28.10.2017

Wann ist ein Vertrag wegen "Wucher" anfechtbar?

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Wucher iS der Ziffer 4 von § 879 Abs.2 ABGB  liegt vor, wenn ein leicht erkennbares, auffallendes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht, der Bewucherte dieses wegen Leichtsinns, Zwangslage, Verstandesschwäche, Unerfahrenheit oder Gemütsaufregung nicht wahrnehmen kann und der Wucherer diese Lage des Bewucherten ausnützt.

Die Aufzählung der auf Seite des Benachteiligten erforderlichen Voraussetzungen für den Wucherbegriff ist nicht taxativ. Es kommen auch noch andere Umstände auf Seiten des Benachteiligten in Betracht, wie Unkenntnis des Wertes seiner eigenen Leistung, zu große Vertrauensseligkeit und dergleichen mehr.

Eine Zwangslage ist  nach Ansicht des OGH (OGH 14.6.2017, 7 Ob 89/17i) dann anzunehmen, wenn der Vertragsgegner vor die Wahl gestellt ist, in den Vertrag einzutreten oder einen Nachteil zu erleiden, der nach vernünftigem Ermessen schwerer wiegt, als der wirtschaftliche Verlust, den der Vertrag zur Folge hat.

Der Entgang der Chancen gewinnbringender Geschäfte kann nicht als Zwangslage gewertet werden.

Die Zwangslage, die eine Anfechtung wegen Wuchers rechtfertigt, kann auch nur vorübergehend, psychisch oder vermeintlich sein und in Befürchtungen bestehen.

Zum Wuchertatbestand gehört aber auch, dass die Zwangslage des Bewucherten von dem anderen Vertragspartner ausgebeutet worden ist. Das Tatbestandsmerkmal der Ausbeutung setzt voraus, dass der Wucherer zu seiner Bereicherung eine Lage benützt, die er nicht geschaffen haben muss, die ihm aber ebenso wie das Missverhältnis von Leistungen und Gegenleistungen bewusst ist oder hätte bewusst sein müssen. "Ausbeuten" kann somit auch fahrlässig erfolgen.

Zusammengefasst bedeutet dies, der Wucherer muss die Lage des Bewucherten und das grobe Missverhältnis der Leistungen gekannt haben oder sie zumindest erkennen müssen, nicht jedoch verursacht haben.

Wucher liegt daher dann nicht vor, wenn beide Vertragspartner von vornherein nicht auf ein bestimmtes Verhältnis von Leistung und Gegenleistung abstellen, sondern ein diesbezügliches Missverhältnis bewusst in Kauf nehmen, wie dies etwa bei einer Schenkung oder bäuerlichen Übergabeverträgen. Eine Zwangslage ist auch dann nicht anzunehmen, wenn durch das Nichtzustandekommen eines Vertrages kein anderer Nachteil eintritt, als dass der angestrebte Gegenstand des Vertrages nicht erreicht wird (vgl. OGH 27.01.1960, 1 Ob 15/60).


§ 879 ABGB | 1. Version | 4324 Aufrufe | 28.10.17
Informationen zum Autor/zur Autorin dieses Fachkommentars: Rechtsanwalt Dr. Clemens Lintschinger; MSc
Zitiervorschlag: Rechtsanwalt Dr. Clemens Lintschinger; MSc in jusline.at, ABGB, § 879, 28.10.2017
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