TE Vfgh Erkenntnis 1991/2/28 WI-12/90

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Veröffentlicht am 28.02.1991
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Index

10 Verfassungsrecht
10/04 Wahlen

Norm

B-VG Art26 Abs1
B-VG Art141 Abs1 lita
NRWO 1971 §101
NRWO 1971 §102

Leitsatz

Abweisung der Anfechtung der Wahl zum Nationalrat vom 07.10.90 durch die Wählergruppe "Vereinte Grüne Österreichs - Das Umwelt-Bürgerforum (VGÖ)"; keine Bedenken gegen das Erfordernis eines Grundmandats für die Zuweisung von Restmandaten im zweiten Ermittlungsverfahren im Hinblick auf das verfassungsgesetzlich bestimmte Verhältniswahlsystem

Spruch

Der Wahlanfechtung wird nicht stattgegeben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Am 7. Oktober 1990 fand die mit Verordnung der Bundesregierung vom 10. Juli 1990, BGBl. 421/1990, ausgeschriebene Wahl zum Nationalrat statt.

1.2.1. Unter anderen hatte die Wählergruppe "Vereinte Grüne Österreichs-Das Umwelt-Bürgerforum (VGÖ)" in allen neun Wahlkreisen - von den zuständigen Kreiswahlbehörden gemäß §52 Nationalrats-Wahlordnung 1971 (NRWO) kundgemachte - Kreiswahlvorschläge sowie - nach §101 Abs4 NRWO überprüfte und gemäß Abs5 leg.cit. im "Amtsblatt zur Wiener Zeitung" verlautbarte - Verbandswahlvorschläge eingebracht.

1.2.2. Da der Wählergruppe VGÖ im ersten Ermittlungsverfahren im ganzen Bundesgebiet kein Mandat zugefallen war, blieb sie bei der den Verbandswahlbehörden gemäß §102 Abs1 NRWO obliegenden Zuweisung von Restmandaten unberücksichtigt.

1.2.3. Die Verbandswahlbehörden machten nachstehende (endgültige) Wahlergebnisse des zweiten Ermittlungsverfahrens kund:

Wahlkreisverband I

Sozialistische Partei Österreichs

41.645 Reststimmen (2 Restmandate)

Österreichische Volkspartei

43.768 Reststimmen (3 Restmandate)

Freiheitliche Partei Österreichs

42.704 Reststimmen (3 Restmandate)

Die Grüne Alternative

Grüne im Parlament

Grenzen Richtig Überwinden Natur Erhalten

25.310 Reststimmen (1 Restmandat)

(Kundmachung vom 15. Oktober 1990).

Wahlkreisverband II

Sozialistische Partei Österreichs

55.021 Reststimmen (3 Restmandate)

Österreichische Volkspartei

89.904 Reststimmen (4 Restmandate)

Freiheitliche Partei Österreichs

97.012 Reststimmen (5 Restmandate)

Die Grüne Alternative

Grüne im Parlament

74.452 Reststimmen (4 Restmandate).

(Kundmachung vom 16. Oktober 1990).

1.3.1.1. Mit ihrer am 9. November 1990 zur Post gegebenen und auf Art141 B-VG gestützten Wahlanfechtungsschrift begehrte die Wahlpartei "Vereinte Grüne Österreichs-Das Umwelt-Bürgerforum (VGÖ)" die (teilweise) Nichtigerklärung der Nationalratswahl 1990 wegen Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens, und zwar "im Wahlkreisverband I sowohl hinsichtlich der Überprüfung der Verbandswahlvorschläge (§101 Abs4 und 5 NRWO) als auch hinsichtlich der Ermittlung und Zuteilung der Restmandate (§102 ff NRWO); im Wahlkreisverband II nur hinsichtlich der Ermittlung und Zuteilung der Restmandate (§102 ff NRWO)."

1.3.1.2. Begründend wurde - sinngemäß zusammengefaßt - vorgebracht, daß das Wahlverfahren an einer zweifachen - auf das Wahlergebnis Einfluß übenden - Rechtswidrigkeit leide:

1.3.1.3.1. Zunächst wird gerügt, die NRWO (§§101, 102) sei verfassungswidrig, soweit sie die Zuweisung von Restmandaten im zweiten Ermittlungsverfahren von der Erreichung eines (Grund-)Mandats im ersten Ermittlungsverfahren abhängig mache.

1.3.1.3.2. Weiters habe der im Wahlkreisverband I eingebrachte Verbandswahlvorschlag "Die Grüne Alternative, Grüne im Parlament, Grenzen Richtig Überwinden Natur Erhalten" Bewerber aufgewiesen, "die auf dem Kreiswahlvorschlag der Wahlpartei 'Grüne Alternative, Grüne im Parlament' des Wahlkreises Burgenland, wie auch Bewerber, die auf dem Kreiswahlvorschlag der Wahlpartei 'Grüne Alternative, Grüne im Parlament' des Wahlkreises Niederösterreich, aber auch solche, die auf dem Kreiswahlvorschlag der Wahlpartei 'Grüne Alternative, Grüne im Parlament, Grenzen Richtig Überwinden Natur Erhalten' des Wahlkreises Wien angeführt (seien)." Die Verbandswahlbehörde habe diesen Verbandswahlvorschlag als vorschriftsmäßig iSd §101 Abs2 und 3 NRWO angesehen. Demgemäß seien diese unterschiedlich bezeichneten Gruppierungen im zweiten Ermittlungsverfahren als eine einzige Wahlpartei betrachtet (§103 Abs2 lita NRWO) und durch Zuteilung eines Restmandates berücksichtigt worden. Sollte diese Vorgangsweise der Verbandswahlbehörde, wie die Anfechtungswerberin behaupte, rechtswidrig sein, ergäben sich im Wahlkreisverband I, und zwar (nur) bei Wegfall der Grundmandatshürde, zwei Restmandate für die VGÖ.

1.3.2. Die Hauptwahlbehörde beim Bundesministerium für Inneres legte die Wahlakten vor, verzichtete jedoch auf die Erstattung einer Gegenschrift.

1.4. Die §§101 und 102 des mit "Zweites Ermittlungsverfahren (Verbandswahlbehörde)" überschriebenen 3. Abschnitts der NRWO lauten (auszugsweise):

"§101. Einbringung der Verbandswahlvorschläge

(1) Wahlwerbenden Parteien, die Kreiswahlvorschläge eingebracht haben, steht nur dann ein Anspruch auf Zuweisung von Restmandaten im zweiten Ermittlungsverfahren zu, wenn sie einen Verbandswahlvorschlag eingebracht haben und gemäß §102 Abs1 nicht von der Zuweisung von Restmandaten ausgeschlossen sind.

(2) Der Verbandswahlvorschlag ist spätestens am achten Tage vor dem Wahltage bei der Verbandswahlbehörde einzubringen; er muß von wenigstens einer Person unterschrieben sein, die in einem Kreiswahlvorschlag eines Wahlkreises desselben Wahlkreisverbandes als zustellungsbevollmächtigter Vertreter einer Partei derselben Parteibezeichnung aufgenommen ist.

In den Verbandswahlvorschlag dürfen nur Personen aufgenommen werden, die als Bewerber dieser Partei in einem der Wahlkreise des Wahlkreisverbandes in einem Kreiswahlvorschlag angeführt sind.

. . .

(4) Die Verbandswahlbehörde hat die Verbandswahlvorschläge unverzüglich nach ihrem Einlangen zu überprüfen, ob sie den Vorschriften der Abs2 und 3 entsprechen. Verbandswahlvorschläge, die diesen Vorschriften nicht entsprechen, gelten als nicht eingebracht.

(5) Spätestens am siebenten Tage vor dem Wahltage hat die Verbandswahlbehörde die Verbandswahlvorschläge abzuschließen und im 'Amtsblatt zur Wiener Zeitung' zu verlautbaren.

§102. Ermittlung und Zuteilung der Restmandate

(1) Parteien, denen im ersten Ermittlungsverfahren im ganzen Bundesgebiet kein Mandat zugefallen ist, haben auch im zweiten Ermittlungsverfahren auf die Zuweisung von Restmandaten keinen Anspruch.

(2) Die Verbandswahlbehörde stellt zunächst auf Grund der ihr von den Kreiswahlbehörden gemäß §98 Abs5 übermittelten Gleichschriften der Niederschriften der Kreiswahlbehörden die Anzahl der innerhalb des Wahlkreisverbandes im zweiten Ermittlungsverfahren zu vergebenden Restmandate und die Summe der bei jeder gemäß Abs1 in Betracht kommenden Partei verbliebenen Reststimmen fest.

(3) Auf diese Parteien werden die im zweiten Ermittlungsverfahren zu vergebenden Restmandate mittels der Wahlzahl verteilt, die nach den Abs4 und 5 zu berechnen ist.

. . . "

2. Über die Wahlanfechtung wurde erwogen:

2.1.1. Gemäß Art141 Abs1 lita B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof ua. über Anfechtungen von Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern, so auch zum Nationalrat. Nach Art141 Abs1 Satz 2 B-VG kann eine solche Anfechtung auf die behauptete Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens gegründet werden.

2.1.2.1. Nach §68 Abs1 VerfGG 1953 muß die Wahlanfechtung binnen vier Wochen nach Beendigung des Wahlverfahrens, wenn aber in dem anzuwendenden Wahlgesetz ein Instanzenzug vorgesehen ist, binnen vier Wochen nach Zustellung des in letzter Instanz ergangenen Bescheids eingebracht werden.

Nun sieht zwar §105 Abs1 NRWO administrative Einsprüche an die Hauptwahlbehörde - iS eines Instanzenzugs nach §68 Abs1 VerfGG 1953 - vor, doch nur gegen die ziffernmäßigen Ermittlungen der Kreis- und Verbandswahlbehörden.

Zur Geltendmachung aller anderen (das sind alle nicht ziffernmäßige Ermittlungen betreffenden) Rechtswidrigkeiten des Wahlverfahrens steht - weil insoweit ein zunächst zu durchlaufender Instanzenzug iS des §68 Abs1 VerfGG 1953 nicht eingerichtet ist - die unmittelbare Anfechtung der Wahl beim Verfassungsgerichtshof binnen vier Wochen nach Beendigung des Wahlverfahrens (erster Teilsatz des §68 Abs1 VerfGG 1953) offen (VfSlg. 9940/1984).

2.1.2.2. Vorliegend strebt die Anfechtungswerberin in ihrer Anfechtungsschrift nicht die - nach dem Gesagten dem Einspruchsverfahren nach §105 NRWO vorbehaltene - Nachprüfung ziffernmäßiger Ermittlungen einer Wahlbehörde an (s. Punkt 1.3.1.2.); sie rügt vielmehr sonstige Rechtswidrigkeiten des Wahlverfahrens, wofür die sofortige Wahlanfechtung nach Art141 Abs1 lita B-VG eingeräumt ist.

Maßgebender Zeitpunkt für den Beginn des Laufs der vierwöchigen Anfechtungsfrist ist die Beendigung des Wahlverfahrens (s. VfSlg. 9085/1981, 9940/1984), das ist hier bei der Wahl zum Nationalrat - sofern es nicht um die Anfechtung ziffernmäßiger Ermittlungen geht - die der jeweiligen Verbandswahlbehörde obliegende Kundmachung (Verlautbarung) des Ergebnisses des zweiten Ermittlungsverfahrens durch Anschlag an der Amtstafel jenes Amtes, dem der Vorsitzende der jeweiligen (Verbands-)Wahlbehörde angehört (§103 NRWO; VfSlg. 9940/1984).

2.1.2.3. Aus den vorgelegten Wahlakten ergibt sich, daß die Verbandswahlbehörde des Wahlkreisverbands I (für die Wahlkreise Burgenland, Niederösterreich und Wien) das (Wahl-)Ergebnis iS des §103 NRWO am 15. Oktober 1990 an der Amtstafel des Magistrats der Stadt Wien, die Verbandswahlbehörde des Wahlkreisverbands II (für die übrigen Bundesländer) am 16. Oktober 1990 an der Amtstafel des Amts der Steiermärkischen Landesregierung anschlagen ließ.

2.1.3. Die am 9. November 1990 zur Post gegebene Wahlanfechtung ist daher rechtzeitig und, weil auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, insgesamt zulässig.

2.2. Die Anfechtung ist jedoch unbegründet:

2.2.1.1. §26 Abs1 B-VG bestimmt, daß der Nationalrat "nach den Grundsätzen der Verhältniswahl" zu wählen ist. Die Ausgestaltung des Verhältniswahlsystems im einzelnen überläßt das B-VG dem einfachen Gesetzgeber.

Das geltende Verhältniswahlrecht besteht darin, daß allen politischen Kräften von zahlenmäßig erheblicher Bedeutung eine Vertretung im Parlament nach Maßgabe ihrer Stärke gesichert wird (vgl. Koja, Verhältniswahl als Verfassungsgrundsatz, JBl 1978, S 303, zu Oberndorfer-Pernthaler-Winkler, Verhältniswahlrecht als Verfassungsgrundsatz, 1976; Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts6, 1988, S 115). Der Verfassungsgerichtshof sprach dazu in seinen Erkenntnissen VfSlg. 10178/1984 und 11256/1987 (mit Berufung auf seine Vorerkenntnisse VfSlg. 1381/1931, 1382/1931, 3653/1959 und 6087/1969) bereits (mit ausführlicher Begründung) aus, es sei für das Wesen des Verhältniswahlsystems charakteristisch, daß nach der Idee der Proportionalität möglichst allen politischen Parteien eine verhältnismäßige Vertretung gewährt werden soll, doch blieben davon jene kleinen Gruppierungen ausgenommen, die nicht einmal die Mindestzahl an Stimmen, die sogenannte Wahlzahl, erreichen, über die eine Partei verfügen muß, um wenigstens einen Abgeordneten zu stellen; diese Wahlzahl nämlich ist nach herrschender Auffassung mit dem Proportionalwahlsystem wesensnotwendig verknüpft. Insoweit erfährt das Verhältniswahlprinzip - durch die Einrichtung des sogenannten "Grundmandats" - eine der Verfassungsrechtslage gemäße notwendige Einschränkung: Nach §102 NRWO haben folglich Parteien, denen im ersten Ermittlungsverfahren im ganzen Bundesgebiet kein Mandat zugefallen ist, auch im zweiten Ermittlungsverfahren - das nicht isoliert, sondern nur in Verbindung mit dem ersten zu sehen ist - auf die Zuweisung von Restmandaten keinen Anspruch.

2.2.1.2. Der Verfassungsgerichtshof hält an dieser in ständiger Judikatur vertretenen Rechtsauffassung unverändert fest. Den weitgehend nach Art einer appellatorischen Kritik vorgetragenen Einwänden der anfechtenden Partei liegen insgesamt Argumente zugrunde, die im wesentlichen bereits in der bisherigen - gefestigten - Rechtsprechung (mit-)bedacht und berücksichtigt wurden.

Daraus folgt, daß - der Meinung der Anfechtungswerberin zuwider - Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der das Erfordernis eines sogenannten Grundmandats (für die Zuweisung von Restmandaten im zweiten Ermittlungsverfahren) regelnden Bestimmungen der NRWO (§§101, 102) - aus der Sicht dieser Rechtssache - nicht bestehen.

2.2.2. In Anbetracht dieser Rechtslage brauchte der Verfassungsgerichtshof auf die zweite geltend gemachte Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens nicht mehr einzugehen, weil sie den Umständen nach nur dann auf das Wahlergebnis von Einfluß sein (s. VfSlg. 7392/1974, 7784/1976, 7850/1976, 8853/1980, 10906/1986, 11021/1986) und der Anfechtungswerberin, die ja kein Grundmandat erlangt hatte, zum Nachteil gereichen könnte, wenn die Vorschriften der NRWO zum Grundmandatserfordernis als verfassungswidrig der Aufhebung verfallen würden, eine Voraussetzung, die nach den Ausführungen in Abschnitt 2.2.1. nicht zutrifft.

2.3. Die Wahlanfechtung war darum zur Gänze als unbegründet abzuweisen.

2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.

Schlagworte

Wahlen, Verhältniswahl, Ermittlungsverfahren (Wahlen), Grundmandat

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:WI12.1990

Dokumentnummer

JFT_10089772_90W0I012_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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