TE Vfgh Erkenntnis 2007/3/17 V75/06

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Veröffentlicht am 17.03.2007
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Index

90 Straßenverkehrsrecht, Kraftfahrrecht
90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

B-VG Art18 Abs2
GeschwindigkeitsbeschränkungsV der Stadtgemeinde Wörgl vom 17.11.94
StVO 1960 §94f

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit der Erlassung einer Geschwindigkeitsbeschränkung inWörgl wegen Unterlassung der gesetzlich gebotenen Anhörung derbetroffenen gesetzlichen Interessenvertretungen

Spruch

I. Punkt 1) der Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Wörgl vom 17. November 1994, Z640-629-94/Pol., mit dem eine generelle Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h verordnet wurde, war gesetzwidrig.

II. Die Tiroler Landesregierung ist zur Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Gemeinderat der Stadtgemeinde Wörgl hat am 17. November 1994, Z640-629-94/Pol., eine Verordnung folgenden

Inhalts erlassen:

"Der Gemeinderat der Stadtgemeinde Wörgl hat in seiner

Sitzung vom 17.11.1994 die nachstehend angeführten Beschlüsse gefaßt:

1) Generelle Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h:

Für das Stadtgebiet innerhalb des Bereiches der Ortstafeln, ausgenommen Wörgl-Boden und die Bundes- und Landesstraßen wurde eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h erlassen. Eine wichtige Ausnahme ist der Abschnitt Abzweigung Salzburger Straße - alte Bundesstraße und das Straßenstück Grattenbrücke bis Einmündung in die Bundesstraße (Brixentalerstraße), Gießenweg ab dem Anwesen 'Nagele' bis Umspannwerk. Die Geschwindigkeitsbeschränkungen 30 km/h außerhalb der Ortstafeln bleiben aufrecht (Bodensiedlung, Stögersiedlung, Winkel und Wörglerboden). Die 30 km/h-Beschränkung wird generell nur bei den Ortstafeln für das gesamte Stadtgebiet angekündigt.

2) - 5) ...

Die Verkehrsmaßnahmen treten mit der Aufstellung der Verkehrszeichen in Kraft.

Tag des Aushanges: 01. Dez. 1994

Tag der Abnahme:   20. Dez. 1994

                                                 ...

                                        Bürgermeister"

2. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B3230/05 eine Beschwerde gemäß Art144 B-VG gegen einen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates in Tirol vom 12. Juli 2005 anhängig, mit dem die Berufung der Beschwerdeführerin gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom 16. März 2005 abgewiesen wurde. Mit dem Straferkenntnis wurde über die Beschwerdeführerin eine Verwaltungsstrafe verhängt, weil sie als Lenkerin eines näher bezeichneten Pkw in 6300 Wörgl, 86 m östlich des Wohnhauses Ferdinand Raimund-Straße Nr. 11, in Fahrtrichtung Westen, die "durch Straßenverkehrszeichen in diesem Bereich kundgemachte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 17 km/h überschritten" habe.

3. Aus Anlass dieses Beschwerdeverfahrens sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit des Punktes 1) der oben zitierten Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Wörgl entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher mit Beschluss vom 4. Oktober 2006 gemäß Art139 Abs1 B-VG ein Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit dieses Teils der Verordnung eingeleitet.

Der Verfassungsgerichtshof begründete seine Bedenken wie folgt:

"2.4. Der Verfassungsgerichtshof hegt insofern Zweifel ob der Rechtmäßigkeit der Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Wörgl, als diese erlassen worden sein dürfte, obwohl die 'Erforderlichkeit' der Verkehrsbeschränkung nicht in einem ausreichenden Ermittlungsverfahren iSd. §43 Abs1 StVO 1960 festgestellt worden sein dürfte.

2.4.1. Gemäß §43 Abs1 litb StVO 1960 hat die Behörde für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung, wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert, dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote zu erlassen.

Bei Prüfung der Erforderlichkeit einer Verordnung nach §43 StVO 1960 sind die bei einer bestimmten Straße oder Straßenstrecke, für welche die Verordnung erlassen werden soll, anzutreffenden, für den spezifischen Inhalt der betreffenden Verordnung relevanten Umstände mit jenen Umständen zu vergleichen, die für eine nicht unbedeutende Anzahl anderer Straßen zutreffen (vgl. VfSlg. 8984/1980, 9721/1983, 13.371/1993, 14.051/1995).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes hat die Behörde vor Erlassung einer Verordnung nach §43 StVO 1960 die im einzelnen umschriebenen Interessen an der Verkehrsbeschränkung mit dem Interesse an der ungehinderten Benützung der Straße abzuwägen und dabei die (tatsächliche) Bedeutung des Straßenzuges zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 8086/1977, 9089/1981, 12.944/1991, 13.449/1993, 13.482/1993). Die sohin gebotene Interessenabwägung erfordert sowohl eine nähere sachverhaltsmäßige Klärung der Gefahren oder Belästigungen für Bevölkerung oder Umwelt, vor denen die Verkehrsbeschränkung schützen soll, als auch eine Untersuchung 'der Verkehrsbeziehungen und der Verkehrserfordernisse' durch ein entsprechendes Anhörungs- und Ermittlungsverfahren (vgl. VfSlg. 12.485/1990, 13.449/1993).

2.4.2. Im Dezember 1993 wurde ein 'Verkehrskonzept Wörgl 1 Analyse' erstellt, welches dem Verfassungsgerichtshof jedoch nur auszugsweise vorliegt. Gemäß dessen Punkt 10.2 'verkehrspolitische Leitlinien' wurde als Ergebnis der Problemanalyse ua. folgender allgemeiner Grundsatz für das zukünftige Verkehrssystem der Stadtgemeinde Wörgl erarbeitet: 'Flächenhafte Verkehrsberuhigung in einzelnen Ortsteilen ist durch Tempo 30 Zonen, Rückbau der Straßenquerschnitte und gestalterische Maßnahmen anzustreben. Die verkehrsberuhigte Zone Bahnhofstraße ist über den Bahnhofsplatz auszudehnen.'

Der Verfassungsgerichtshof bezweifelt insbesondere, dass der Gemeinderat der Stadtgemeinde Wörgl die für die Verordnung erforderliche Interessenabwägung vorgenommen hat bzw. dass er alle für die gebotene Interessenabwägung entscheidungsrelevanten Sachverhalte hinsichtlich der Gefahren oder Belästigungen, vor denen die Verordnung schützen sollte, und der sonst zu berücksichtigenden Verkehrsbeziehungen und Verkehrserfordernisse in einem entsprechenden Verfahren ausreichend ermittelt hat. Das im Dezember 1993 erstellte 'Verkehrskonzept Wörgl 1 Analyse' dürfte den Anforderungen des §43 Abs1 StVO 1960 nicht genügen, zumal darin lediglich pauschale Aussagen getroffen wurden.

2.5. Die verordnungserlassende Behörde dürfte darüber hinaus vor der Verordnungserlassung kein entsprechendes Anhörungsverfahren durchgeführt haben:

Gemäß §94f Abs1 litb Z2 StVO 1960 sind vor Erlassung einer Verordnung von der Gemeinde, wenn Interessen von Mitgliedern einer Berufsgruppe berührt werden, die gesetzliche Interessenvertretung dieser Berufsgruppe anzuhören.

Dem Verordnungsakt zufolge ersuchte die Stadtgemeinde Wörgl mit Schreiben vom 2. März 1995 - somit erst nach Verordnungserlassung - die Handelskammer Tirol (Bezirksstelle Kufstein), die Arbeiterkammer Tirol (Bezirksstelle Kufstein) sowie die Bezirkslandwirtschaftskammer Kufstein zur Abgabe einer Stellungnahme. Zumindest zu diesem Zeitpunkt scheint die verordnungserlassende Behörde davon ausgegangen zu sein, dass die Interessen der Berufsgruppen, die zur Stellungnahme aufgefordert wurden, berührt werden. Der Verfassungsgerichtshof hegt daher das Bedenken, dass das gesetzlich gebotene Anhörungsverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes vermag der Umstand, dass die verordnungserlassende Behörde nach Erlassung der Verordnung eine Art Anhörungsverfahren durchgeführt hat, den Mangel, dass vor Verordnungserlassung kein Anhörungsverfahren iSd. §94f StVO 1960 durchgeführt wurde, nicht zu sanieren (vgl. VfSlg. 15.643/1999, 16.805/2003)."

4. Die verordnungserlassende Behörde brachte zu den vom Verfassungsgerichtshof gehegten Bedenken im Wesentlichen vor:

"Da der Gemeinderat zur Erlassung eine(r) Geschwindigkeitsbeschränkung gemäß §43 in Verbindung mit §98 d Ziff. 4 StVO 1960 zuständig ist, wurde anläßlich der Gemeinderatssitzungen vom 28.06.1990 bis 19.12.1994 vom Gemeinderat die gegenständliche Verordnung beschlossen.

Vor Erlassung der angefochtenen Verordnung wurde ein umfassendes Ermittlungsverfahren durchgeführt. Man hat nicht nur im Verkehrsausschuss, sondern auch mit der Stadtpolizei Gespräche geführt. Auch wurde seitens des Amtes der Tiroler Landesregierung mitgeteilt, dass gegen den Inhalt der vorgelegten Verordnung keine Bedenken bestehen, sofern durch sie keine Bundes- und Landesstraßen berührt werden. Man ging daher davon aus, dass gegen eine Geschwindigkeitsbeschränkung keinerlei rechtlich(e) Bedenken bestehen. Zu diesem Zweck wurde auch Univ. Prof. Dr. DI S im Jahre 1993 und 1994 beauftragt, für Wörgl ein Verkehrskonzept zu erstatten, demnach in Wörgl Tempo 30 Zonen anzustreben sind. In Anlehnung an diese Verkehrskonzepte wurde sodann eine Geschwindigkeitsbeschränkung beschlossen.

Eine Interessenabwägung erfolgte in den Ausschusssitzungen bzw. Gemeinderatssitzungen und kam man dabei zum Schluss, dass eine Geschwindigkeitsbeschränkung im Interesse der Gemeindebürger zu verordnen ist. Es mag sein, dass dabei eine darüberhinausgehende Interessenabwägung außer Acht gelassen wurde, jedoch verlangte die Verkehrszunahme und die damit anhergehenden Gefahren eine Beschränkung der Geschwindigkeit.

Auch wurde, wenn auch nach der Erlassung der angefochtenen Verordnung, ein Anhörungsverfahren durchgeführt. Man war seinerzeit der Ansicht, dass sicherheitshalber die Handelskammer Tirol, die Arbeiterkammer Tirol, sowie die Bezirkslandwirtschaftskammer Kufstein zur Verordnung eine Stellungnahme abgeben sollen. Sofern seitens dieser Interessenvertreter berechtigte Bedenken gegen die Verordnung geäußert worden wären, hätte man entsprechend reagiert.

Der Gemeinderat der Stadtgemeinde Wörgl ist daher der Ansicht, seinerzeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und eine gesetzmäßige Verordnung erlassen zu haben."

5. Die Tiroler Landesregierung erstatte keine Äußerung.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Punkt 1) der in Prüfung gezogenen Verordnung bildet eine der Rechtsgrundlagen des angefochtenen - keinem weiteren Rechtszug unterliegenden - Berufungsbescheides; er wäre demnach auch bei Fällung des Erkenntnisses über die von der Beschwerdeführerin erhobene Beschwerde gemäß Art144 Abs1 B-VG anzuwenden und somit in dieser Beschwerdesache präjudiziell iSd Art139 Abs1 Satz 1 B-VG.

Da auch die sonstigen Prozessvoraussetzungen vorliegen, ist das Verordnungsprüfungsverfahren zulässig.

2. Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes ob der Rechtmäßigkeit des Verordnungserlassungsverfahrens konnten nicht entkräftet werden.

2.1. Die verordnungserlassende Behörde bringt selbst vor, dass keine der in Betracht kommenden gesetzlichen Interessenvertretungen vor Erlassung der angefochtenen Verordnung gehört wurde. Den gesetzlichen Interessenvertretungen wurde vielmehr erst nach der Verordnungserlassung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

Der Verfassungsgerichtshof bleibt iS seiner ständigen Judikatur bei seiner auch im Prüfungsbeschluss vertretenen Auffassung, dass die Durchführung eines Anhörungsverfahrens nach Erlassung der Verordnung den Mangel, dass vor Verordnungserlassung kein Anhörungsverfahren iSd §94f StVO 1960 durchgeführt wurde, nicht zu sanieren vermag (vgl. VfSlg. 15.643/1999, 16.805/2003).

2.2. Das Verordnungserlassungsverfahren entspricht daher nicht dem §94f Abs1 StVO 1960. Bei diesem Ergebnis war auf die weiteren im Prüfungsbeschluss erhobenen Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Verordnungsstelle nicht mehr einzugehen.

2.3. Da der in Prüfung gezogene Punkt 1) der Verordnung nicht mehr in Kraft ist, weil er mit Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Wörgl vom 21. September 2006, Z120-2-2320-499/2006/Pol., aufgehoben wurde, hat sich der Verfassungsgerichtshof auf den Ausspruch zu beschränken, dass die Verordnung in diesem Punkt gesetzwidrig war.

Die Verpflichtung zur Kundmachung dieser Feststellung stützt sich auf Art139 Abs5 B-VG.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Straßenpolizei, Geschwindigkeitsbeschränkung, Verordnungserlassung,Anhörungsrecht, Sanierung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2007:V75.2006

Zuletzt aktualisiert am

30.01.2009
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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