TE Vfgh Erkenntnis 2023/2/27 E1672/2022 ua

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Veröffentlicht am 27.02.2023
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden. 

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.400,80 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die erstbeschwerdeführende und die zweitbeschwerdeführende Partei sind verheiratet und die Eltern der dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien. Sie alle sind Staatsangehörige Afghanistans und stellten in Österreich Anträge auf internationalen Schutz. Begründend wurde von der erstbeschwerdeführenden und der zweitbeschwerdeführenden Partei vorgebracht, dass ihren Töchtern, der drittbeschwerdeführenden und der viertbeschwerdeführenden Partei, eine Zwangsverheiratung mit Männern der Familie des Onkels der zweitbeschwerdeführenden Partei väterlicherseits drohe. Als die erstbeschwerdeführende Partei sich gegen eine Heirat ihrer Töchter ausgesprochen habe, sei sie angegriffen worden. Daraufhin sei die Familie geflüchtet.

2. Mit Bescheiden vom 7. August 2020 und 31. Mai 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der beschwerdeführenden Parteien auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (jeweils Spruchpunkt I.), erkannte jeweils den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (jeweils Spruchpunkt II.) und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung (jeweils Spruchpunkt III.).

1. Die von den beschwerdeführenden Parteien jeweils ausschließlich gegen Spruchpunkt I. erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 30. Mai 2022 als unbegründet ab, wobei die Entscheidung durch einen Richter männlichen Geschlechts erfolgte.

2. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

3. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Rechtslage

1. §20 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 68/2013 lautet:

"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung

§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §25 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I Nr 33/2013."

2. Die maßgeblichen Bestimmungen der Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes für das Geschäftsverteilungsjahr vom 1. Februar 2022 bis 31. Jänner 2023 (im Folgenden: GV 2022) lauten auszugsweise:

"1. TEIL:

ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN

[…]

2. Abschnitt: Richterinnen und Richter des Bundesverwaltungsgerichtes

[…]

§6. Unzuständigkeit

(1) Eine Richterin oder ein Richter ist im Sinne dieser Geschäftsverteilung unzuständig, wenn

1. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache auf Grund gesetzlicher Bestimmungen nicht zugewiesen hätte werden dürfen;

2. sie oder er als Einzelrichter/-in oder als Vorsitzende/Vorsitzender in der betreffenden Rechtssache nach §6 VwGVG iVm. §7 AVG befangen ist; in diesem Fall hat sich die Richterin oder der Richter unter Anzeige an den Präsidenten und bei Richterinnen und Richtern einer Außenstelle (§§16 bis 18) bei gleichzeitiger Mitteilung an die Leiterin oder den Leiter der Außenstelle in der betreffenden Rechtssache der weiteren Ausübung des Amtes zu enthalten (§27);

3. ihr/ihm zwei oder mehrere Rechtssachen zwar ursprünglich zu Recht zugewiesen worden sind, sich nachträglich aber durch die Zuweisung einer weiteren Rechtssache ergibt, dass sie im Sinne des §34 Abs4 AsylG 2005 mit dieser weiteren Rechtssache unter einem zu führen sind;

4. sie oder er wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 für die betreffende Rechtssache nicht zuständig ist;

5. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache nach den Bestimmungen der jeweils bei der Zuweisung geltenden Geschäftsverteilung nicht zugewiesen hätte werden dürfen (zB wegen Annexität).

(2) Ist eine Richterin oder ein Richter als Einzelrichter/-in oder als Vorsitzende/Vorsitzender eines Senates in einer Rechtssache wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 unzuständig und wird aus diesem Grund diese Rechtssache erneut zugewiesen, so verliert sie oder er damit gleichzeitig auch die Zuständigkeit für alle Rechtssachen, die zu dieser Rechtssache annex sind oder zu denen diese Rechtssache annex ist.

(3) Die Wahrnehmung der Unzuständigkeit der Richterinnen und Richter und das weitere Verfahren richten sich nach den diesbezüglichen Bestimmungen der Geschäftsordnung des Bundesverwaltungsgerichtes.

[…]

3. TEIL: ZUWEISUNG UND ABNAHME VON RECHTSSACHEN

1. Abschnitt: Zuweisung von Rechtssachen

[…]

§24. Zuweisung von Annexsachen

(1) Annexsachen werden ohne Bedachtnahme auf die allgemeine Zuweisung einzeln den dafür jeweils zuständigen Gerichtsabteilungen zugewiesen.

(2) Annexsachen sind Rechtssachen derselben Zuweisungsgruppe, die nach Maßgabe der Bestimmungen der folgenden Absätze zu einer oder mehreren anderen, früher zugewiesenen Rechtssachen im Verhältnis der Annexität stehen.

(3) Annexität liegt in folgenden Fällen vor:

1. […]

2. wenn sich eine Rechtssache nach dem AsylG 2005, dem BFA-VG, dem FPG oder dem GVG-B 2005 (Zuweisungsgruppen AFR, VIS, DUB oder SCH) auf ein Familienmitglied einer Person bezieht, auf die sich ein anderes anhängiges Verfahren nach dem AsylG 2005, dem BFA-VG (in diesen Fällen einschließlich §22a BFA-VG), dem FPG oder dem GVG-B 2005 (Zuweisungsgruppen AFR, VIS, DUB oder SCH) bezieht (Bezugsperson); Familienmitglieder in diesem Sinne sind:

a) der Ehegatte oder der eingetragene Partner der Bezugsperson oder eine Person, die mit der Bezugsperson im Sinne des Art8 EMRK ein Familienleben in Form einer Lebensgemeinschaft führt, sowie die Geschwister, Eltern und Kinder des Ehegatten oder des eingetragenen Partners oder des Lebensgefährten;

b) Vorfahren und Nachkommen der Bezugsperson sowie die Ehegatten, eingetragenen Partner und Lebensgefährten dieser Vorfahren und Nachkommen und die Geschwister und Kinder dieser Ehegatten, eingetragenen Partner und Lebensgefährten;

c) Geschwister der Bezugsperson sowie die Ehegatten, eingetragenen Partner, Lebensgefährten und Kinder dieser Geschwister;

[…]"

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen.

2.1. Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, normiert §20 AsylG 2005 in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch Organwalter desselben Geschlechts vor der Verwaltungsbehörde und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Bundesverwaltungsgericht durch Richter desselben Geschlechts. Davon kann nur abgegangen werden, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt, und zwar vor der Behörde erster Instanz die Einvernahme durch einen Organwalter des anderen Geschlechts und spätestens zum Zeitpunkt der Beschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht die Führung der Verhandlung durch Richter des anderen Geschlechts (vgl VfSlg 20.260/2018 und bereits VfGH 25.11.2013, U1121/2012 ua). Dabei begründen sowohl Behauptungen eines bereits erfolgten als auch eines drohenden Eingriffes die Pflicht zur Einvernahme bzw zur Verhandlung und Entscheidung durch Organwalter desselben Geschlechts (VfSlg 20.260/2018; VfGH 2.12.2020, E1414/2020; siehe auch VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007; 22.10.2020, Ro 2020/14/0003).

2.2. Die beschwerdeführenden Parteien brachten in der Erstbefragung sowie vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vor, dass der Dritt- und der Viertbeschwerdeführerin eine Zwangsheirat drohe, und wiederholten dieses Vorbringen auch in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

2.3. Da die Zuständigkeit durch die entsprechende Behauptung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bzw in der Beschwerde begründet wird, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit zu erfolgen hat oder ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen herzustellen ist (vgl VfSlg 20.260/2018; VfGH 2.12.2020, E1414/2020; VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007), kommt dem Umstand keine Bedeutung zu, dass der erkennende Richter des Bundesverwaltungsgerichtes dieses Vorbringen als unglaubwürdig gewertet hat.

2.4. Es ist den Akten nicht zu entnehmen, dass spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde die Vernehmung durch einen männlichen Richter gemäß §20 Abs2 iVm Abs1 AsylG 2005 verlangt worden wäre. Daraus ergibt sich, dass in dieser Sache eine weibliche Richterin verhandeln hätte müssen (§20 Abs2 AsylG 2005; vgl VfSlg 19.739/2013). Daran ändert auch nichts, dass die erst- und zweitbeschwerdeführende Partei sowie der Vertreter der beschwerdeführenden Parteien in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht auf Nachfrage des Richters angegeben haben, mit der Verhandlungsführung durch einen männlichen Richter einverstanden zu sein (vgl VfGH 15.12.2021, E3248/2020).

2.5. Indem das Bundesverwaltungsgericht über die Beschwerde der Dritt- und der Viertbeschwerdeführerin hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten durch einen Richter männlichen Geschlechts entschieden hat, obgleich §20 Abs2 AsylG 2005 im vorliegenden Fall anzuwenden war und die Dritt- und Viertbeschwerdeführerin ein Abgehen von der sich daraus ergebenden Zuständigkeit einer Richterin nicht verlangt haben, hat es die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt (VfSlg 19.671/2012, 20.260/2018).

2.6. Da die Entscheidung betreffend die Dritt- und Viertbeschwerdeführerin durch einen unrichtig zusammengesetzten Spruchkörper getroffen wurde, schlägt dieser Mangel gemäß §6 Abs1 Z4 und 5 sowie Abs3 GV 2022 iVm §24 Abs1, 2 und Abs3 Z2 GV 2022 auf die Entscheidung betreffend die erst-, zweit-, viert- und sechstbeschwerdeführende Partei durch (vgl zB VfSlg 20.260/2018; VfGH 26.2.2019, E2425/2018 ua). Auch hinsichtlich dieser liegt daher insoweit jeweils eine Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter vor.

2.7. Das Erkenntnis ist daher bereits aus diesem Grund aufzuheben.

IV. Ergebnis

1. Die beschwerdeführenden Parteien sind somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 654,– und Umsatzsteuer in der Höhe von € 566,80 enthalten. Da die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag, zuzusprechen.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2023:E1672.2022

Zuletzt aktualisiert am

16.03.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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