TE OGH 2022/3/29 10ObS8/22g

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Veröffentlicht am 29.03.2022
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Arno Sauberer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei DI W*, vertreten durch die Strohmayer Heihs Strohmayer Rechtsanwälte OG in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. November 2021, GZ 7 Rs 101/21f-28, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1]            Der 1963 geborene Kläger hat einen Universitätsabschluss für Maschinenbau und war ab dem Jahr 1996 bei einem großen metallverarbeitenden Unternehmen tätig. Dort hatte er zuletzt die Position „Leitung Produkt- und Verfahrenstechnik“ inne und war nach seinem Dienstvertrag in der Beschäftigungsgruppe I des Kollektivvertrags für Industrieangestellte (früher Verwendungsgruppe V) eingestuft („ArbeitnehmerInnen, die selbständig sehr schwierige und besonders verantwortungsvolle Tätigkeiten mit hohem Entscheidungsspielraum verrichten oder bei vergleichbarer Aufgabenstellung Ergebnisverantwortung für ihren Bereich tragen“). Dieses Dienstverhältnis wurde mit 31. August 2018 einvernehmlich beendet; im Anschluss daran bezog der Kläger Arbeitslosengeld und geht seither keiner Beschäftigung nach. Am 23. Dezember 2019 stellte er einen Antrag auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension.

[2]       Aufgrund der mehr als 12-monatigen Beschäftigungslosigkeit ist beim Kläger ein „Dequalifizierungseffekt“ eingetreten, sodass er (schon zum Stichtag) nur noch in der Beschäftigungsgruppe H des Kollektivvertrags (früher Verwendungsgruppe IVa) einzustufen ist. Dieser Effekt geht darauf zurück, dass eine solche Dauer der Absenz vom Arbeitsmarkt faktisch zu einem Ausschluss von gehobenen Positionen führt.

[3]            Angesichts seiner gesundheitlichen Einschränkungen ist der Kläger in der Lage, technische Angestelltenberufe in der Beschäftigungsgruppe G des Kollektivvertrags (früher Verwendungsgruppe IV) auszuüben.

[4]            Die Vorinstanzen wiesen das Begehren des Klägers, ihm ab 1. Mai 2021 eine Berufsunfähigkeitspension zu gewähren, ab. Da der soziale Wert der von ihm zuletzt ausgeübten Tätigkeit nur mehr eine Einstufung in die Beschäftigungsgruppe H des Kollektivvertrags rechtfertige, sei mit der Verweisung auf Tätigkeiten der nächstfolgenden Beschäftigungsgruppe G kein unzumutbarer sozialer Abstieg verbunden. Berufsunfähigkeit liege daher nicht vor.

[5]            In seiner außerordentlichen Revision argumentiert der Kläger primär, dass die Ansicht der Vorinstanzen Versicherte diskriminiere, die nicht sofort einen Pensionsantrag stellen, sondern zunächst versuchen würden, ihren Gesundheitszustand zu bessern, um wieder in das Berufsleben zurückzukehren. Denn die Antragstellung erst nach erfolgloser Nutzung anderer sozialer Hilfen führe dazu, dass sie wegen des dann eingetreten Dequalifizierungseffekts auf Tätigkeiten einer niedrigeren Beschäftigungsgruppe verwiesen werden können als bei sofortiger Antragstellung. Es bedürfe daher einer „neutralen“ Mindestzeit, während der eine berufliche Absenz bei Beurteilung der Zumutbarkeit eines sozialen Abstiegs unberücksichtigt bleibe.

Rechtliche Beurteilung

[6]            Damit zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung (§ 502 Abs 1 ZPO) auf.

[7]       1.1. Versicherte dürfen nicht auf Berufe verwiesen werden, die mit einem für sie unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden wären (10 ObS 79/19v mwN). Für diese Einschätzung kommt es auf den sozialen Wert an, den die Ausbildung sowie die Kenntnisse und Fähigkeiten, die in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit von Bedeutung waren, unter den Verhältnissen zur Zeit des Stichtags haben (RIS-Justiz RS0084890). Die Einstufung einer Tätigkeit in einem Kollektivvertrag kann ein Indiz für diese Einschätzung sein und daher zur Beurteilung des sozialen Abstiegs herangezogen werden (RS0084861 [T3]; RS0084890 [T3] ua). Nicht relevant ist hingegen die Einstufung einer Tätigkeit im Dienstvertrag (RS0064705).

[8]       1.2. Der Kläger stellt nicht in Abrede, dass die Rechtsprechung die Verweisung eines Angestellten auf Tätigkeiten, die einer Beschäftigungsgruppe entsprechen, die der bisherigen unmittelbar nachgeordnet ist, in der Regel als zulässig ansieht (RS0085599 [T6, T7, T32]; 10 ObS 40/21m ua) und er im Rahmen der Verweisung gewisse Einbußen an Entlohnung und sozialem Prestige hinnehmen muss (RS0085599 [T5, T14]; RS0084890 [T9]).

[9]       2. Strittig ist im Anlassfall, wie sich die längere Beschäftigungslosigkeit des Klägers und deren Folgen auf die Zumutbarkeit eines sozialen Abstiegs auswirken.

[10]     2.1. Bei dieser Beurteilung kann nach der ständigen Judikatur des Obersten Gerichtshofs nicht unberücksichtigt bleiben, dass Berufstätige, die ihren Beruf längere Zeit nicht ausgeübt haben, im Allgemeinen nur mehr in geringer eingestuften Berufstätigkeiten eingesetzt werden. Es wäre nämlich nicht gerechtfertigt, für den Pensionsanspruch jene Behandlung außer Betracht zu lassen, die dem Versicherten im Berufsleben tatsächlich zuteil würde (RS0084926). Auch in diesem Fall ist bei der Prüfung der Verweisbarkeit der soziale Wert wesentlich, den die Kenntnisse und Fähigkeiten, die bei der zuletzt ausgeübten Tätigkeit von Bedeutung waren, unter den Verhältnissen zur Zeit des Stichtags haben (10 ObS 79/12h SSV-NF 26/44 ua). Es kommt daher nicht darauf an, welche Kenntnisse und Fähigkeiten der Versicherte am Stichtag noch besitzt, sondern (abstrakt) darauf, welchen Wert die Allgemeinheit den Kenntnissen und Fähigkeiten noch beimisst. Auf diese Weise wird selbst im Fall einer krankheitshalber oder behinderungsbedingten Abwesenheit vom Arbeitsmarkt eine gleichheitswidrige Diskriminierung vermieden (10 Ob 112/18w; 10 ObS 137/14s SSV-NF 28/76).

[11]     3. Von diesen Grundsätzen sind die Vorinstanzen nicht abgewichen.

[12]     3.1. Der vom berufskundlichen Sachverständigen verwendete Begriff des „Dequalifizierungseffekts“ bringt zum Ausdruck, dass die für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit maßgeblichen Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers am Arbeitsmarkt aufgrund der mehr als zwölf Monate dauernden Beschäftigungslosigkeit nunmehr anders bewertet werden, ihr sozialer Wert nach allgemeiner Einschätzung zwischenzeitig also abgesunken ist. Die Folge ist, dass er auf dem Arbeitsmarkt nur mehr für geringer eingestufte Tätigkeiten eingesetzt würde.

[13]     3.2. Es gibt auch nicht den Ausschlag, dass sich das Leistungskalkül des Klägers seit seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt nicht verändert und er nicht sofort einen Pensionsantrag gestellt hat. Der Umstand, dass er nach Beendigung seines Dienstverhältnisses keine Beschäftigung mehr ausgeübt, sondern Arbeitslosengeld bezogen hat, kann ihn nämlich nicht besser stellen als Versicherte, die sich entschließen, trotz Eintritt der Berufsunfähigkeit weiterhin (im Rahmen einer geringer qualifizierten Tätigkeit) berufstätig zu bleiben (10 ObS 100/99z SSV-NF 13/112; vgl RS0084509 [insb T1 und T5]).

[14]     3.3. Für die Beurteilung der (Un-)Zumutbarkeit eines sozialen Abstiegs spielt der Zeitraum zwischen der Beendigung der beruflichen Tätigkeit und dem Pensionsantrag keine unmittelbare Rolle, weil es immer auf die Einschätzung der bei der Berufsausübung maßgeblichen Kenntnisse und Fähigkeiten zum Zeitpunkt des Stichtags ankommt. Es kann durchaus sein, dass sich deren sozialer Wert in schnelllebigen Branchen oder – wie hier – bei Ausübung höherer qualifizierter Tätigkeiten unter Umständen rascher verringert als bei weniger qualifizierten Tätigkeiten; dies ändert aber nichts an der Maßgeblichkeit der Verhältnisse am Stichtag.

[15]     4. Die grundsätzliche Verweisung des Klägers auf Tätigkeiten der der Beschäftigungsgruppe H unmittelbar nachgeordneten Beschäftigungsgruppe G des Kollektivertrags steht daher mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in Einklang. Besondere Umstände, die im Einzelfall die Beurteilung der Zumutbarkeit dieser Verweisung sprechen, sind nicht hervorgekommen.

[16]     Da sich die Beurteilung der Vorinstanzen im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hält, ist die außerordentliche Revision des Klägers zurückzuweisen.

Textnummer

E134700

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00008.22G.0329.000

Im RIS seit

11.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

11.05.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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