TE OGH 2021/12/15 7Ob194/21m

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Veröffentlicht am 15.12.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Bewohnerin G* S*, geboren am * 1936, *, vertreten durch den Verein VertretungsNetz Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, 5020 Salzburg, Rainerstraße 2/4. Stock, (Bewohnervertreterin Mag. C* K*, BSc), dieser vertreten durch Dr. Katharina Bleckmann, Rechtsanwältin in Salzburg, Einrichtungsleiter P* E*, wegen Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 20. Oktober 2021, GZ 22 R 278/21t-18, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1]            1.1. Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens wurde geprüft, liegt jedoch nicht vor (§ 71 Abs 3 Satz 3 AußStrG). Der Revisionsrekurswerber macht mit seinen Ausführungen nämlich in Wahrheit einen der Rechtsrüge zuzuordnenden sekundären Feststellungsmangel geltend, der jedoch nicht gegeben ist:

[2]            1.2. Der Verein beantragte unter anderem die Unzulässigerklärung der Vergabe von Quetiapin am 2. August 2021. Entgegen der Ansicht des Rekursgerichts ist dem Erstgericht hier kein offenkundiger Schreibfehler unterlaufen, sondern hat es zu diesem Vorfall keine Feststellungen getroffen. Allerdings können die relevanten Feststellungen der unstrittigen Pflegedokumentation entnommen werden (vgl RS0121557 [T3]). Daraus ergibt sich, dass die Bewohnerin am 2. August 2021 sehr getrieben wirkte, aus dem Pflegerollstuhl aufstehen wollte und durch das Pflegepersonal wieder zurückgehoben wurde. Weiters wurden beruhigende Gespräche geführt und der Bewohnerin ein Stück Quetiapin G.L. ret. 50 mg verabreicht.

[3]       2. Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird.

[4]            2.1. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele ergeben können (RS0121227). Die Beurteilung, ob unter diesem Gesichtspunkt eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert nicht nur Feststellungen darüber, ob das Medikament zum Einsatz kam, sondern auch, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente, insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination, dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RS0123875). Dient der primäre Zweck des Medikamenteneinsatzes hingegen der Unterbindung von Unruhezuständen, des Bewegungsdrangs und der Beruhigung, also zur „Ruhigstellung“ (gegen Aggression, Enthemmung, Unruhe, etc), dann ist die medikamentöse Therapie als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren (7 Ob 59/20g mwN; 7 Ob 183/20t).

[5]            2.2. Die Frage, ob eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel auch dann vorliegt, wenn über den therapeutischen Zweck hinaus auch eine Bewegungsdämpfung intendiert wird, stellt sich hier nicht:

[6]            Tatsächlich steht nämlich nicht fest, dass die der Bewohnerin verabreichte Einzelfallmedikation (Psychopax Dominal, Quetiapin und Quetialan) auch mit dem Zweck verabreicht wurde, den Bewegungsdrang der Bewohnerin zu unterbinden. Aus dem Gesamtzusammenhang der erstgerichtlichen Feststellungen ergibt sich vielmehr, dass diese Medikamente zwar einen sedierenden Anteil besitzen, jedoch im Vordergrund die Minderung der Unruhe- und Angstzustände infolge der Grunderkrankung der Bewohnerin (subkortikale vaskuläre Demenz, generalisierte Angststörung und somatisierte Depression) steht. Entgegen der Ansicht des Revisionsrekurswerbers führt auch die vom Erstgericht getroffene Feststellung, wonach die sedierende Wirkung dieser Medikamente auch dazu dient, einen gestörten Tag- Nacht-Rhythmus zu verhindern, sowie Aufstehversuche hintanzuhalten und den Nachtschlaf zu verbessern, zu keiner abweichenden Beurteilung. Diese Feststellung besagt nämlich nur, welche weiteren Effekte die sedierende Wirkung haben soll, nicht jedoch, dass die medikamentöse Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckte.

[7]            2.3. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, wonach durch die verabreichte Einzelfallmedikation eine Freiheitsbeschränkung gemäß § 3 Abs 1 HeimAufG nicht vorliegt, ist daher nicht korrekturbedürftig.

[8]       3. Dieser Beschluss bedarf keiner weiteren Begründung (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Textnummer

E134036

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0070OB00194.21M.1215.000

Im RIS seit

24.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.03.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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