TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/4 I415 2235223-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.10.2021
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Entscheidungsdatum

04.10.2021

Norm

BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §66 Abs1
FPG §66 Abs2
FPG §70 Abs3
NAG §51 Abs1 Z1
NAG §55 Abs1
NAG §55 Abs3
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I415 2235223-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hannes LÄSSER als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Rumänien, vertreten durch RA Mag. Andreas STROBL, Hütteldorfer Straße 81b/1/DG/12, 1150 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX vom 18.08.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.08.2021 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Mit Schreiben des Amtes der Wiener Landesregierung, MA 35, vom 20.04.2020 wurde das Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) darüber informiert, dass die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF) am 08.11.2018 einen Antrag auf Ausstellung einer Anmeldebescheinigung eingebracht, jedoch trotz Aufforderung keinerlei Nachweise über die tatsächliche Ausübung der gewerblichen Tätigkeit vorgelegt habe, zudem auch keine Existenzmittel vorhanden seien, weswegen die Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 51 NAG nicht vorliegen würden.

2.       Der BF wurde mit Schreiben der belangten Behörde vom 27.05.2020 mitgeteilt, dass eine Beweisaufnahme hinsichtlich dem Nichtvorliegen der Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht – Befassung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl durch die Aufenthaltsbehörde (Amt der Wiener Landesregierung, MA 35) zwecks Abklärung der Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen stattgefunden hat. Ihr wurde eine Stellungnahmefrist von 14 Tagen ab Zustellung eingeräumt.

3.       Mit E-Mail vom 15.06.2020 erging seitens der Rechtsvertretung der BF das Ersuchen, die Frist hinsichtlich der Stellungnahme bis 30.06.2020 zu erstrecken, da erst Steuerbescheide besorgt werden müssten. Seitens der belangten Behörde wurde dem Ersuchen entsprochen.

4.       Mit E-Mail vom 07.07.2020 wurde seitens des Rechtsvertreters der BF mitgeteilt, dass die BF momentan Schwierigkeiten habe, sämtliche Unterlagen zu erhalten, weshalb neuerlich um Fristerstreckung, diesmal bis zum 20.07.2020, ersucht werde. Auch diese Fristerstreckung wurde seitens der belangten Behörde gewährt.

5.       Mit Bescheid der belangten Behörde, Zl. XXXX , vom 18.08.2020 wurde die BF aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen (Spruchpunkt I.) und der BF ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit der Entscheidung erteilt (Spruchpunkt II.). Grundlage der Entscheidung war, dass die BF zwar über eine Gewerbeberechtigung verfügt, jedoch keinen Nachweis über eine tatsächliche Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit vorgelegt und keine ausreichenden Existenzmittel nachgewiesen hatte. Der Bescheid wurde mittels Hinterlegung am 20.08.2020 zugestellt.

6.       Gegen diesen Bescheid erhob die BF durch ihre Rechtsvertretung mit Schriftsatz vom 14.09.2020, beim BFA per Fax eingelangt am 16.09.2020, rechtzeitig vollumfänglich Beschwerde. Dabei wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die BF über ausreichende Existenzmittel verfüge und eine Vorlage der Nachweise bislang u.a. an der Steuerberatung der BF gescheitert sei. Sie bezahle für ihre Gemeindewohnung in Wien monatlich EUR 200,-- und sei damit mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen in Höhe von EUR 1.282,50 (entsprechend dem Brutto-Netto-Rechner) allemal der vorgeschriebene Mindestsatz an Einkommen gesichert, sogar ohne Berücksichtigung der freien Station. Die BF stelle daher die Anträge, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung durchführen und in der Sache selbst erkennen und den angefochtenen Bescheid ersatzlos aufheben, in eventu den angefochtenen Bescheid aufheben und die Sache zur Verfahrensergänzung an die belangte Behörde zurückverweisen.

7.       Mit Schriftsatz vom 17.09.2020, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 21.09.2020, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

8.       Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 19.11.2020, rechtskräftig mit 19.11.2020, zu AZ XXXX , wurde die BF zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten, davon 6 Monaten bedingt, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt. Sie hat das das Vergehen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 3 SMG, sowie die Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG begangen.

9.       Am 20.08.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, zu der weder die BF noch ihr gewillkürter Rechtsvertreter erschienen sind. Ein Vertreter der belangten Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die volljährige, kinderlose, verwitwete BF ist rumänische Staatsangehörige, deren Identität feststeht. Sie schloss am XXXX mit F.F. die Ehe, welcher am XXXX verstarb.

Die BF wurde in XXXX , in Rumänien geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat insgesamt 11 Jahre die Schule besucht und war dann Hausfrau.

Bereits im Zeitraum vom 30.11.2004 bis zum 22.05.2005, vom 02.06.2005 bis zum 20.02.2006 und vom 04.07.2008 bis zum 04.02.2010 war die BF um Bundesgebiet melderechtlich mit Hauptwohnsitz erfasst. Seit 24.05.2011 ist sie durchgehend in Österreich aufrecht gemeldet, wobei sie sich im Zeitraum vom 27.08.2020 bis zum 27.10.2020 in der Justizanstalt Wien-Josefstadt befunden hat.

Die BF ist gesund und arbeitsfähig. Seit 23.10.2018 bezieht die BF seitens der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen eine Witwenpension in Höhe von EUR 682,70 brutto. Ihr erwachsen monatliche Mietkosten in Höhe von EUR 200,--.

Mit 31.01.2019 hat die BF ein Gewerbe in Wien angemeldet. Aus der Einnahmen- und Ausgabenrechnung 2019 geht im Ergebnis ein Saldo von € 16.853,88 hervor. Die BF war zuletzt zudem bei der Firma R. GmbH als geringfügig beschäftigte Arbeiterin tätig. Sie bezog für die Zeit von 01.11.2020 bis 31.07.2021 ein Bruttogehalt von insgesamt € 1850,00. Es kann daraus festgestellt werden, dass die BF arbeitswillig ist. Aus dem bisherigen Beschäftigungsverlauf der BF, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass sie zwei Tätigkeiten gleichzeitig ausgeübt hat, ist ihre Arbeitswilligkeit offensichtlich und gibt es weiterhin keinen Grund an dem Weiterbestehen der Arbeitswilligkeit zu zweifeln.

Im Bundesgebiet lebt die Tochter des verstorbenen Gatten des BF, XXXX , geb. XXXX , welche melderechtlich seit 04.09.2018 [erneut] an der Adresse XXXX , 1200 Wien bei XXXX erfasst ist. Die BF verfügt im Bundesgebiet über keine familiären Anknüpfungspunkte und auch keine maßgeblichen privaten Beziehungen.

Im Strafregister der Republik scheint zum Entscheidungszeitpunkt folgende Verurteilung der BF auf:

01) LG F.STRAFS.WIEN XXXX vom 19.11.2020 RK 19.11.2020

§§ 28a (1) 5. Fall, 28a (3) SMG

§§ 27 (1) Z 1 1. Fall, 27 (1) Z 1 2. Fall, 27 (2) SMG

Datum der (letzten) Tat 25.08.2020

Freiheitsstrafe 8 Monate, davon Freiheitsstrafe 6 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Vollzugsdatum 19.11.2020

Mit besagtem Urteil wurde die BF für schuldig befunden, in Wien vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich Kokain, enthaltend zumindest 20% Cocain,

I./ zumindest seit dem 03.04.2020 bis 25.08.2020 eine hinsichtlich Kokain die Grenzmenge (§ 28b SMG) jedenfalls übersteigende Menge, teilweise durch gewinnbringenden Verkauf zum Preis von zwischen EUR 80,- und EUR 100,- pro Gramm anderen überlassen, wobei sie jedoch an Suchtmittel gewöhnt war und die Tat vorwiegend deshalb beging, um sich Suchtmittel für ihren persönlichen Gebrauch oder Mittel für deren Erwerb zu verschaffen, und zwar

a./ in der Zeit von 03.04.2020 bis zum 10.04.2020 in drei Angriffen Kokain von ca. 0,3 Gramm brutto an die minderjährige C. F.;

b./ Anfang April 2020 in einem Angriff Kokain von ca. 0,1 Gramm brutto an die Minderjährige N. I. S.;

c./ Anfang April 2020 in zwei Angriffen Kokain von ca. 0,2 Gramm brutto an die minderjährige N. B.;

d./ R. M. in einem Angriff 50 Gramm für EUR 2.250 und in mehreren Angriffen 48 Gramm Kokain für ca. EUR 80,- pro Gramm;

e./ M. B. fünf Gramm brutto Kokain für EUR 100,- pro Gramm;

f./ P. Y. zwei Gramm brutto Kokain für den Tausch von 30 Gramm Cananbiskraut;

g./ J. N. ca. zwei Gramm brutto Kokain;

h./ V. B. fünf Gramm brutto Kokain;

i./ L. M. ca. ein Gramm brutto Kokain;

j./ B. M. zwei Gramm brutto Kokain für EUR 50,- pro Gramm;

II./ ab Februar 2018 bis 25.08.2020 ausschließlich zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen, und zwar in einer Menge von zumindest 600 Gramm Kokain und zumindest 30 Gramm Cannabiskraut (enthaltend den Wirkstoff Delta-9-THC und THCA).

Als mildernd wurden dabei die geständige Verantwortung und die bisherige Unbescholtenheit gewertet, als erschwerend hingegen die Weitergabe auch an Minderjährige, die wiederholte Tatbegehung, sowie das Zusammentreffen von zwei Vergehen.

Es wird festgestellt, dass die BF die genannten Straftaten begangen und die beschriebenen Handlungsweisen gesetzt hat.

2. Beweiswürdigung:

Der erkennende Einzelrichter des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:

2.1. Zum Verfahrensgang

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichts. Dieser wird als Sachverhalt festgestellt.

2.2. Zum Sachverhalt:

Die Feststellungen basieren ebenfalls auf dem unbestrittenen Akteninhalt, den Angaben der BF in der Beschwerde und den Informationen aufgrund von Abfragen im Zentralen Melderegister, dem Strafregister sowie einem Sozialversicherungsdatenauszug.

Aus dem als authentisch klassifizierten rumänischen Personalausweis, Nr. XXXX sowie dem ebenfalls als authentisch klassifizierten rumänischen Reisepass, Nr. XXXX , welche vor der Meldebehörde in Vorlage gebracht wurden, geht die Identität der BF, ihr Geburtsdatum sowie ihre rumänische Staatsangehörigkeit hervor. Der Umstand, dass die BF verwitwet ist, ergibt sich aus einem Schreiben der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen vom 01.09.2020 (AS 115) sowie dem von der BF im Zuge der Beschwerde vorgelegten Bescheid der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen vom 06.02.2020, (AS 143). Aus der vorgelegten Einkommenssteuererklärung 2019 ergibt sich mangels Geltendmachung von etwaigen Absatzbeträgen die Feststellung zur Kinderlosigkeit der BF (AS 150).

Dass die BF mit XXXX verheiratet war, ergibt sich aus dem Schreiben der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen vom 01.09.2020, aus welchem auch der Todeszeitpunkt desselben hervorgeht (AS 115). Der Zeitpunkt der Eheschließung ist sowohl einem Auszug aus dem Zentralen Melderegister, als auch einem Auszug aus dem Zentralen Fremdenregister zur Person der BF zu entnehmen.

Die Feststellungen zur melderechtlichen Erfassung im Bundegebiet beruhen auf einem Auszug aus dem Zentralen Melderegister zur Person der BF, aus welchem auch ihr Aufenthalt in der Justizanstalt Wien-Josefstadt hervorgeht.

Aus dem amtswegig eingeholten Auszug des Gewerbeinformationssystems wird ersichtlich, dass die BF im Bundesgebiet ein aufrecht gemeldetes Gewerbe mit der Bezeichnung „ XXXX “ innehat. Aus dem zum Beschwerdeschriftsatz beigefügten Einnahmen- und Ausgabenrechnung für 2019 geht ein Saldo von € 16.853,88 hervor. Die unselbständige Erwerbstätigkeit der BF als geringfügig beschäftigte Arbeiterin seit 19.11.2020 bis 31.07.2021 bei der R. GmbH ergeben sich aus einer Abfrage im Hauptverband österreichischer Sozialversicherungsträger.

Hinsichtlich der Feststellungen zum Zeitraum der gewerblich selbständigen Tätigkeit gilt es, auf den Sozialversicherungsdatenauszug zur Person der BF zu verweisen. Auch ergibt sich aus diesem, dass die BF seit 23.10.2018 eine Witwenpension bezieht. Ein Schreiben der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen vom 01.09.2020 (AS 115) und der von der BF im Zuge der Beschwerde vorgelegte Bescheid der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen vom 06.02.2020 (AS 143) haben darüber hinaus auch die Höhe der Witwenpension zum Inhalt. Dass der BF monatlich EUR 200,-- an Mietkosten erwachsen, ist dem Beschwerdevorbringen zu entnehmen (AS 136). Der Umstand, dass die BF nicht selbsterhaltungsfähig ist, ergibt sich daraus, dass dieser seit September 2020 ausschließlich ihre Witwenpension zur Verfügung steht, wovon bereits EUR 200,-- zur Deckung ihrer Wohnungsmiete benötigt werden.

Die Feststellung zu ihrer Verurteilung ergibt sich aus dem eingeholten Strafurteil des Landesgerichtes Wien für Strafsachen, sowie aus dem aktuellen Auszug aus dem Strafregister der Republik Österreich.

Die Feststellungen zu XXXX beruhen auf einem Auszug aus dem Zentralen Melderegister zu ihrer Person. Ein entsprechendes Naheverhältnis zur BF wurde weder von dieser behauptet, noch ergibt sich ein solches aus dem Verwaltungsakt. Sonstige familiäre Anknüpfungspunkte bzw. private Beziehungen von maßgeblicher Bedeutung sind im Zuge des Verfahrens nicht hervorgekommen. Auch konnte zu keiner ihrer in Österreich Angehörigen ein finanzielles oder anderweitig geartetes Abhängigkeitsverhältnis festgestellt werden.

Dass die BF zu keinem Zeitpunkt über eine Anmeldebescheinigung gemäß § 53 NAG verfügte, ergibt sich aus einem Auszug aus dem Zentralen Fremdenregister zu ihrer Person.

Die umseits genannte Verurteilung der BF samt den näheren Ausführungen sowie die Feststellung, dass die BF die genannten Straftaten begangen und die beschriebenen Verhaltensweisen gesetzt hat, ergeben sich aus der eingeholten aktuellen Strafregisterabfrage.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Zu Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides:

Der mit „Ausweisung“ betitelte § 66 FPG lautet:

"§ 66. (1) EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.

(2) Soll ein EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigter Drittstaatsangehöriger ausgewiesen werden, hat das Bundesamt insbesondere die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Bundesgebiet und das Ausmaß seiner Bindung zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

(3) Die Erlassung einer Ausweisung gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, die Ausweisung wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist."

Gemäß § 55 Abs. 3 NAG hat die Behörde für den Fall, dass das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 nicht besteht, weil eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs. 2 oder § 54 Abs. 2 nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, hat die Behörde den Betroffenen hiervon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller, zu befassen. Dies gilt nicht in einem Fall gemäß § 54 Abs. 7. Während eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung ist der Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG gehemmt.“

§ 51 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) regelt in Umsetzung der Richtlinie 2004/38 Fälle der Freizügigkeit von EWR-Bürgern aus anderen EWR-Staaten, die ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen und sich länger als drei Monate in Österreich aufhalten.

Der mit "Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern für mehr als drei Monate" überschriebene § 51 NAG lautet:

„(1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1. in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;

2. für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen, oder

3. als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen.“

Fallbezogen ergibt sich daraus:

Mit Spruchpunkt I. des gegenständlich angefochtenen Bescheides wurde die BF gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen.

Gemäß § 2 Abs 4 Z 1 FPG gilt als Fremder, wer die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzt. Gemäß § 2 Abs 4 Z 8 FPG gilt ein Fremder, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) ist, als EWR-Bürger.

Die BF als Staatsangehörige von Rumänien ist EWR-Bürgerin und folglich Fremde iSd. soeben angeführten Bestimmung.

Der Tatbestand des § 51 Abs 1 Z 1 NAG ist aufgrund folgender Umstände erfüllt:

Eine kumulative Erfüllung der Z 1 und der Z 2 ist nicht erforderlich, dem stehen schon der eindeutige Wortlaut sowohl des § 51 Abs 1 NAG als auch des Art 7 Abs 1 lit. a und b der Freizügigkeitsrichtlinie (arg.: "oder") entgegen (siehe dazu etwa auch EuGH (Große Kammer) 11.11.2014, Dano, C- 333/13, Rn. 75, wo es heißt: "Die Richtlinie 2004/38 unterscheidet hinsichtlich der Voraussetzung, über ausreichende Existenzmittel zu verfügen, zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Personen. Der erstgenannten Gruppe von Unionsbürgern, die sich im Aufnahmemitgliedstaat befinden, steht nach Art 7 Abs 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 das Aufenthaltsrecht zu, ohne dass sie weitere Voraussetzungen erfüllen muss. Dagegen wird in Art 7 Abs 1 Buchst. b dieser Richtlinie von nicht erwerbstätigen Personen verlangt, dass sie über ausreichende eigene Existenzmittel verfügen.").

"Selbständige Erwerbstätigkeit umfasst nach der Rechtsprechung des EuGH jede wirtschaftliche, auf Entgelt ausgerichtete Tätigkeit, die weisungsfrei und auf eigene Rechnung und eigenes Risiko erfolgt. Es kann sich dabei sowohl um die Erbringung von Dienstleistungen als auch um die Herstellung von Waren handeln. Während die Höhe des Einkommens nicht relevant ist, muss nach der Rechtsprechung des EuGH eine tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit vorliegen (siehe Rechtsprechung bei Obwexer, Grundfreiheit Freizügigkeit, 314f). Gewerbliche Tätigkeiten in Industrie, Handel und Handwerk werden ebenso umfasst wie freiberufliche Tätigkeiten (vgl. Bröhmer in Calliess/Ruffer [Hrsg], EUV/AEUV4 [2011] Art 49, Rn10f). Jedenfalls ist der Begriff weit auszulegen." (Abermann, in Abermann/Czech/Kind/Peyrl, NAG- Kommentar [2016], § 51 Rn 11).

Wie dem Auszug aus dem Gewerbeinformationssystem, aber auch dem Datenbestand der Sozialversicherungsträger entnommen werden kann, hat die BF ein Gewerbe angemeldet, und verfügt über eine Sozialversicherung als selbständige Erwerbstätige. Nebstdem bezieht sie Bezüge aus einer Witwenpension. Weiters war die BF von November 2020 bis 31.07.2021 als geringfügig Beschäftigte zur Sozialversicherung gemeldet.

Unter Beachtung dieses Sachverhaltes, insbesondere die über eine bloße Gewerbeanmeldung hinausgehende - kostenpflichtige - Anmietung von Räumlichkeiten zur Vermittlung von Werk- und Dienstleistungsverträgen, ist mit Blick auf die oben zitierte Judikatur des EuGH, von einer - tatsächlichen - selbständigen Erwerbstätigkeit der BF auszugehen.

Demzufolge kommt der BF entsprechend § 51 Abs 1 Z 1 NAG ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu. Selbiges wird innerstaatlich nicht verliehen, sondern nur dokumentiert (VwGH, 09.08.2016, Ro 2015/10/0050). Es kommt daher auf die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung für den Rechtserwerb nicht an (VwGH, 26.01.2017, Ra 2016/21/0264).

Die BF ist seit Mai 2011 dauerhaft im Bundesgebiet und sohin über zehn Jahre aufhältig. In einem solchen Fall ist eine Ausweisung nur dann möglich, wenn der Aufenthalt der BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.

Selbst unter Berücksichtigung ihrer im Rahmen des Beschwerdeverfahrens erstmaligen Verurteilung zu einer teilbedingten Haftstrafe von acht Monaten ist im gegenständlichen Fall das Vorliegen der schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit zum Entscheidungszeitpunkt nach Ansicht des erkennenden Richters nicht gegeben, wobei es der belangten Behörde unbenommen bleibt, im Wiederholungsfall die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes zu prüfen und gegebenenfalls zu verhängen.

Soll ein EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigter Drittstaatsangehöriger ausgewiesen werden, hat das Bundesamt gemäß § 66 Abs. 3 FPG insbesondere die Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration und das Ausmaß seiner Bindung zum Herkunftssaat zu berücksichtigen.

Es ist daher nunmehr eine individuelle Abwägung der betroffenen Interessen vorzunehmen, um festzustellen, ob der Eingriff als verhältnismäßig – auch im Sinne des Artikel 8 EMRK – angesehen werden kann:

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihres Briefverkehrs.

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit ein Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob die aufenthaltsbeendende Maßnahme einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.

Die BF verfügt aufgrund ihrer selbstständigen Tätigkeit und der laufenden Witwenpension über ausreichende finanzielle Mittel, um sich ihren Lebensunterhalt im Bundesgebiet zu finanzieren.

Die Ausweisung der BF mit Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides erfolgte daher nicht zu Recht, was auch die Gegenstandslosigkeit des der BF mit Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gewährten Durchsetzungsaufschubes bedingt.

In Stattgabe der Beschwerde war der angefochtene Bescheid daher ersatzlos aufzuheben.

Zu Spruchteil B):

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf der oben in der rechtlichen Beurteilung angeführten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs.

Schlagworte

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European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:I415.2235223.1.00

Im RIS seit

19.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

19.01.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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