TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/21 W272 2199711-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.10.2021
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Entscheidungsdatum

21.10.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §13 Abs2 Z1
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs3a
AsylG 2005 §9 Abs2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W272 2199711-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, vom 16.05.2018, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.10.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkte I., III. IV. und VI. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass er zu lauten hat:

„Gemäß § 8 Abs. 3 a AsylG 2005 iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 wird ihnen der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt“.

III. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt V. wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass er zu lauten hat:

Gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 und § 52 Abs. 9 FPG wird festgestellt, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan nicht zulässig ist.

IV. In Erledigung der Beschwerde wird der Spruchpunkt VII. behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 04.01.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG).

Im Rahmen der Erstbefragung, am 05.01.2016, gab er an, am XXXX in XXXX in der Islamischen Republik Iran geboren worden und ledig zu sein, der Volksgruppe der Hazara anzugehören und Moslem zu sein. Seine Muttersprache sei Farsi und habe er im Iran von 2005 bis 2014 die Schule besucht. Zuletzt habe er keinen Beruf ausgeübt. In XXXX lebte er etwa elf Jahre bevor er mit seiner Familie nach Teheran gezogen sei, wo er sich bis zu seiner Ausreise aufgehalten habe. Seine Eltern und zwei seiner Geschwister würden im Iran leben. Einer seiner Brüder halte sich seit etwa fünf Monaten in Österreich auf. Der BF sei gemeinsam mit seiner Cousine und deren Familie aus dem Iran ausgereist. Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er im Iran keine Zukunft habe. Er habe dort nicht weiter zur Schule gehen dürfen und auch keine Aussichten auf eine berufliche Ausbildung. Er habe auch Teheran nie verlassen können, weil seine Familie nur für dort ein Bleiberechte habe.

2. Am 15.06.2016 bevollmächtigte der Magistrat der Stadt Wels eine Rechtsberaterin der NOAH Sozialbetriebe gemeinnützige GmbH als rechtliche bzw. gesetzliche Vertretung des BF, aufgrund seiner Minderjährigkeit.

3. Am 27.02.2018 fand eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) statt. Der BF gab an, sein Geburtsdatum variiere um einen Monat, er sei eigentlich am XXXX geboren, am XXXX laut Dolmetscher. Er befinde sich nicht in ärztlicher Behandlung oder Therapie und nehme auch keine Medikamente ein. Sein Bauch tue immer weh, aber er sei deswegen nicht beim Arzt gewesen. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, aber im Iran geboren und habe er weniger als ein Jahr in Afghanistan verbracht. Er habe öfters gehört, aus XXXX zu stammen, wisse aber nicht, ob dies stimme. Er spreche Farsi und Dari, wobei er Dari weniger verstehe. Er werde in Afghanistan und dem Iran verfolgt. Er sei Schiit und Hazara, wobei er sei einiger Zeit ohne Religionsbekenntnis sei, nur er und sein Gott. Im Iran sei er fünf Jahre auf eine afghanische Schule und vier Jahre in eine iranische Schule gegangen. Er habe etwa ein Jahr in einem Pizza- und Sandwichladen gearbeitet und für zwei bis drei Monate gemeinsam mit seinem Vater auf der Baustelle. In den letzten drei Jahren vor seiner Ausreise habe er sich in Teheran, in XXXX aufgehalten. Im Iran würden sich noch seine Eltern, sein jüngerer Bruder, drei Tanten mütterlicherseits und eine Tante väterlicherseits befinden. In Afghanistan habe er, so glaube er, keine Verwandten. Im Herkunftsland sei er nicht vorbestraft, nie inhaftiert oder politisch tätig gewesen, habe nie Probleme mit Behörden oder Privatpersonen oder aufgrund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit gehabt. Zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, seine Familie sei vom Iran nach Afghanistan zurückgekehrt als er noch ein Kind gewesen sei. Die umliegenden Dörfer seien von Paschtunen besetzt gewesen und habe ihm sein Vater erklärt, dass die Taliban gegen Hazara seien. Deswegen seien sie zurück in den Iran. Dort hätte die Familie eine Berechtigungskarte gehabt, die nur auf den Namen des Vaters gelautet habe. In andere Städte habe der BF nicht reisen können und sei er auch immer wieder festgenommen worden. Einmal sei er auch in ein Camp gebracht worden um abgeschoben zu werden, bis sein Vater die Berechtigungskarte vorgelegt habe. Ab und zu sei er auch zur Polizeiwache gebracht worden und habe dort putzen und aufräumen müssen. Er habe dort nicht frei leben können. Nach Österreich sei er gekommen, weil er gewusst habe, dass Flüchtlinge hier gut behandelt würden. Seit er sehe wie die Christen in Österreich leben würden, habe er sich von seiner Religion abgewandt und sei ohne Bekenntnis. In Afghanistan würde er deswegen geköpft werden und wisse er auch nicht wie er dort überleben solle. Im Iran sei er Moslem gewesen, habe aber weder gebetet noch gefastet. Er sei von Iranern bedroht und geschlagen worden, wenn er Dinge gemacht habe, die ihnen nicht gefielen. Wenn er zB seinen Bruder von der Schule abgeholt habe, hätten die Iraner immer „Schau dir den Afghanen an“ gesagt. Seiner Familie im Iran würde es gut gehen. Seit einem Monat habe er eine Tätowierung, die bedeute, dass ihm seine Familie sehr wichtig sei. Täglich bis alle zwei Tage habe er Kontakt zu seiner Familie über WhatsApp. In Österreich lebe auch seine Cousine, er habe aber keinen Kontakt zu ihr. Zu seinem Leben in Österreich gab der BF an, er gehe keiner Arbeit nach und lebe von der Grundversorgung. Er habe 30 Freunde aus der Unterkunft, zwei österreichische Freunde und viele weibliche Kontakte. Er sei zweimal mit dem Gesetz in Konflikt geraten wegen Diebstahls. Es sei kurz vor Weihnachten gewesen und habe er gestohlen, weil er mit dem Geld nicht ausgekommen sei. Beim ersten Diebstahl sei er nur dabei gewesen.

Vorgelegt wurden: Schulbesuchsbestätigung NMS Vöcklabruck vom 23.11.2017;

Teilnahmebescheinigungen Deutschkurse vom 19.12.2016 und 12.05.2017;

Teilnahmebescheinigung Lehrgang „Bildung für junge Flüchtlinge“ vom 08.09.2017;

Berechtigungskarte Iran/Teheran;
ÖSD Zertifikat Deutsch A2 nicht bestanden vom 18.07.2017;
Stundenaufzeichnung gemeinnützige Leistungen Volkshilfe;
Fotos von Dorfbewohnern und Familie des Vaters;
Partezettel von Trauerfeier der Verstorbenen.

4. Mit Schreiben vom 09.03.2018 brachte der BF eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen zu Afghanistan ein und führte darin im Wesentlichen aus, dass er schon im Iran erkannt habe, dass er keine Religion brauche und sich auch nicht an die von der Religion vorgeschriebenen Regeln gehalten habe. Der Grund dafür sei vor allem darin gelegen, dass er mitbekommen habe, wie Religionsführer selbst die Regeln, die sie predigen, immer wieder verletzen würden beispielsweise indem sie Kinder missbrauchen würden. Es sei nicht möglich aus der islamischen Glaubensgemeinschaft wirksam auszutreten und als Muslim nicht gläubig zu sein, sei in Afghanistan strafbar. Hinzu komme, dass er als Hazara und Schiit auch gefährdet sei, Opfer von Gewalt zu werden, die der Staat nicht abwenden könne. Selbst wenn es ihm gelingen würde, sich als gläubiger Moslem zu verstellen, wäre er als Schiit dennoch in den Augen der Taliban und des IS ein Ungläubiger.

5. Mit gegenständlichen Bescheid vom 16.05.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab (Spruchpunkt II.) und erteilte dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.) und ausgesprochen, dass der BF das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG ab dem 16.02.2018 verloren habe (Spruchpunkt VII.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF keine relevanten Umstände vorgebracht habe, die eine Verfolgung erkennen lassen würden. Er sei nicht persönlich bedroht oder verfolgt worden. Da er sohin keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft gemacht habe, würden die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK geforderten Voraussetzungen nicht vorliegen. Aus den Feststellungen ergebe sich, dass hinsichtlich der Heimatprovinz des BF derzeit eine relevante Gefährdungslage vorliegt. In Frage komme jedoch Kabul als innerstaatliche Schutzalternative. Der BF sei erwachsen, gesund und im erwerbsfähigen Alter. Er verfüge über eine neunjährige Schulausbildung und auch über Berufserfahrung in der Gastronomie und im Bauwesen. Diese könnten ihm im Fall einer Ansiedelung in Kabul von Nutzen sein, um damit auch die grundlegendsten Bedürfnisse abdecken zu können. Die Behörde gelangte zur Ansicht, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme Aus bestünden, dass dem BF im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan eine unmenschliche Behandlung iSd Art. 3 EMRK drohe. Eine Rückführung nach Kabul sei ihm somit zumutbar und der Status des subsidiär Schutzberechtigten iSd § 8 AsylG nicht zuzuerkennen. Der BF verfüge zudem in Österreich über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.

6. Gegen den gegenständlichen Bescheid erhob der BF fristgerecht vollumfänglich Beschwerde und führte darin im Wesentlichen aus, dass, die Feststellungen der belangten Behörde zur Sicherheitslage in Afghanistan unvollständig und somit nicht geeignet seien die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan im Allgemeinen sowie in Kabul darzustellen. Es wurde auch auf das gesamte Gutachten von Friederike Stahlmann vom 23.08.2018 über die Sicherheitslage in Afghanistan verwiesen. Ihrer Einschätzung nach bestehe die Gefahr alleine aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden und zwar im gesamten Staatsgebiet. Da der BF im Iran geboren und aufgewachsen sei würde er von Afghanen eher als Ausländer denn als Normalbürger betrachtet werden und wäre er dort nicht sicher. Die Behörde habe es verabsäumt die Feststellungen zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit einer ordentlichen Beweiswürdigung zu unterziehen. Der BF sei schiitischer Hazara und werde deshalb auf eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 02.09.2016 über die Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konfliktes zwischen Kuchis und Hazara verwiesen. Der BF falle auch unter sechs Risikoprofile der UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender. Es liege daher eine asylrelevante Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit des BF zur religiösen und ethnischen Gruppe der schiitischen Hazara vor, sowie aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich Afghanen, die ihr gesamtes Leben im Iran verbracht haben und welchen dadurch eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt werde. Auch der Umstand, dass er sich im westlich geprägten Österreich aufgehalten habe, könnte den BF aufgrund einer unterstellten politischen Einstellung oder einem unterstellten Werteabfall zur Zielscheibe von Übergriffen in Afghanistan machen. Es liege keine innerstaatliche Fluchtalternative vor, da der BF überall in Afghanistan Verfolgung zu befürchten habe und der afghanische Staat nicht willens bzw. nicht in der Lage sei dem BF ausreichend Schutz vor Verfolgungshandlungen zu garantieren. Der BF habe seit ca. einem Monat eine Beziehung mit einer Österreicherin und habe sich beim AMS für eine Arbeit in Landwirtschaft, Gartenbau, Grünflächenpflege oder Tierzucht beworben.

Vorgelegt wurde:  AMS Bewerbungsbogen vom 04.01.2018

7. Am 30.10.2019 wurde der BF durch das Landesgericht XXXX , GZ XXXX , wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und des Verbrechens der versuchten schweren Nötigung nach §§ 15 Abs. 1, 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 1. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

8. Am 03.04.2020 wurde von der Landespolizeidirektion Oberösterreich Anzeige nach § 3 Abs. 3 und § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz iVm § 1 der VO gemäß § 2 Z 1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes angezeigt, weil er den Mindestabstand von einem Meter nicht eingehalten habe und sein Aufenthalt auch nicht durch die unter § 2 dieser Verordnung aufgezählten Ausnahmen gerechtfertigt gewesen sei.

9. Mit Schreiben, eingelangt am 27.02.2020, wurde die Beschäftigungsbewilligung des BF für die berufliche Tätigkeit als Restaurantfachmann für die Zeit vom 01.03.2020 bis 01.06.2023 vorgelegt.

10. Am 08.10.2021 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt.

Vorgelegt wurden: Empfehlungsschreiben vom 06.10.2021;
Beschäftigungsbestätigung Kommunale Dienste 12 Stunden 2018;
Dankesurkunde für die Unterstützung des Vereins Conclusio 2018;
Kursbestätigung Deutsch B1 2018/2019;

Teilnahmebestätigung Infoveranstaltung „Freiwilliges Engagement im Sozialbereich“ vom 24.01.2019;

Teilnahmebestätigung ÖIF-Integrationsprüfung B1 mit Werte- und Orientierungswissen vom 15.02.2019 (nicht bestanden);
Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft vom 01.03.2019;

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des BF:

Der volljährige BF ist afghanischer Staatsangehöriger und führt das Geburtsdatum XXXX Er ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an, und war schiitischer Moslem, ist aber mit 01.03.2019 aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Er wurde in der Stadt XXXX in der Islamischen Republik Iran geboren und lebte dort etwa elf Jahre bis die Familie nach Teheran zog, wo er bis zu seiner Ausreise mit seinen Eltern und Geschwistern lebte. Zu seiner Familie im Iran hat er regelmäßig Kontakt. Der BF hat keine Verwandten oder sonstigen Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Der BF kehrte im Kleinkindalter mit seiner Familie für drei bis vier Jahre nach Afghanistan zurück, bevor sie erneut in den Iran reisten.

Im Iran besuchte der BF zehn oder elf Jahre lang die Schule. Seine Muttersprache ist Dari und spricht er auch Farsi.

Der BF hat im Iran zwei Jahre in einer Pizzeria und eine Zeit lang auch am Bau gearbeitet.

Dem BF wurde sein Antrag auf internationalen Schutz seitens des BFA mit gegenständlichem Bescheid in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen, eine Rückkehrentscheidung erlassen, kein Aufenthaltstitel erteilt und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt und festgestellt, dass er sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 16.02.2018 verloren hat.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er leidet an keinen schwerwiegenden Erkrankungen, steht nicht in ärztlicher Behandlung und nimmt keine Medikamente ein.

Der BF ist in einer afghanischen Familie aufgewachsen und kennt daher die afghanischen Gepflogenheiten. Er spricht Dari und besuchte im Iran auch fünf Jahre eine afghanische Schule.

Der BF ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, er hat sich nicht politisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsland.

Der BF hat eine strafrechtliche Verurteilung.

Der BF wurde vom Landesgericht XXXX am 30.10.2020, GZ XXXX , wegen dem Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und dem Verbrechen der versuchten schweren Nötigung nach §§ 15 Abs. 1, 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 1. Fall StGB verurteilt. Der BF hat am 06.07.2019 in XXXX eine fremde bewegliche Sache, nämlich einen Küchenkasten beschädigt hat, indem er mit dem Fuß dagegen trat, sodass dieser nunmehr einen Sprung aufweist und XXXX durch gefährliche Drohung mit dem Tod zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung, zu nötigen versucht, und zwar am 06.07.2019 in XXXX , indem er ein langes Messer aus der Lade des Küchenkastens nahm, damit gegen das Opfer aufzielte und äußerte: „Wenn du nochmal mit Sie (Anm: XXXX ) redest, weißt du was passiert!“ und am 10.09.2019 in XXXX , indem er sinngemäß äußerte, wenn er ihm nicht sage, wo XXXX sei und weshalb sie nicht abhebe, werde er ihn abstechen; er werde um 04:00 Uhr in der Nacht zu ihm kommen, wenn alle schlafen und ihn töten. Der BF wurde deswegen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, die unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt. Als mildernd wurde das Geständnis, das Alter unter 21, die Unbescholtenheit und dass es teilweise beim Versucht geblieben ist, gewertet. Erschwerend war das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen.

Der BF hat eine Beschäftigungsbewilligung, geht in Österreich aber keiner Erwerbstätigkeit oder ehrenamtlichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung. Er hat Deutschkurse besucht und ist mit ihm eine Unterhaltung in deutscher Sprache möglich. Er ist nicht Mitglied in einem Verein und verbringt seine Zeit mit Fußball spielen und spazieren gehen. Am sozialen und kulturellen Leben in Österreich nimmt er nicht teil, seine Freunde sind Afghanen. Seit etwa drei Wochen hat der BF eine österreichische Freundin, zu der jedoch keine enge Beziehung besteht.

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Nicht als Sachverhalt zugrunde gelegt werden sämtliche Angaben des BF zur behaupteten Bedrohungssituation in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan. Insbesondere wird festgestellt, dass der BF keiner konkreten Bedrohung bzw. Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt war.

Letztlich wird auch keine Verfolgung des BF aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder aufgrund seiner Konfessionslosigkeit festgestellt.

Festgestellt wird, dass der BF nicht vom Glauben abgefallen ist und dem Austritt aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft keine innere Überzeugung zugrunde liegt.

Es wird festgestellt, dass der BF wegen Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter nicht bedroht oder verfolgt wurde.

1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:

Es wird festgestellt, dass der BF im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter keiner Gefährdung ausgesetzt ist.

Dem BF ist eine Rückkehr nach Afghanistan nicht möglich. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert. Es kam zunächst zu verstärkten Kampfhandlungen zwischen den Taliban und Regierungstruppen in ganz Afghanistan, welche derzeit beendet sind und einzelne Kämpfe stattfinden.

Aktuell kontrollieren die Taliban das gesamte Land und es kommt zu schwerwiegenden Übergriffen von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen sowie Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen und grobe Menschenrechtsverletzungen umfassen.

Dem BF würde daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan oder einer Neuansiedelung in größeren Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif aufgrund der derzeit herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und Versorgungslage und der Machtübernahme der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr drohen, durch Übergriffe von den Taliban gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Weiters droht dem BF aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen Lage in maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass er in eine aussichtslose bzw. existenzbedrohende Notlage gerät und nicht in der Lage ist ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können. Dem BF würde bei seiner Rückkehr in eine dieser Städte ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Etwaige Rückkehrhilfen oder Unterstützung im Land reichen derzeit nicht aus, bzw. kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Land durch andere familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte Hilfe gewährt wird. Der Umfang der derzeitigen Hilfsprogramme ist nicht bekannt bzw. teilweise eingestellt.

Es ist dem BF nicht möglich in einer Provinz oder in den Städten wie Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Coronapandemie in Afghanistan, mit Stand 19.10.2021 (Tag der Entscheidung), kein Rückkehrhindernis darstellt.

Der BF leidet an keinen physischen (chronischen) Vorerkrankungen und gehört damit keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht deswegen keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan an Corona erkranken würde oder dass eine Erkrankung einen schwerwiegenden oder tödlichen Verlauf bzw. den Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus nach sich ziehen würde

1.5. Die allgemeine Lage in Afghanistan stellt sich im Übrigen wie folgt dar:

Länderinformation der Staatendokumentation zur Russischen Föderation aus dem COI-CMS (Country of Origin Information-Content Management System) vom 16.09.2021-Version 5:

Covid-19

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-Pandemie, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichterstellung (9.2021) wiedergeben. Es ist zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.

Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.

Machtübernahme der Taliban im August 2021

Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 mussten die hier vorliegenden Länderinformationen komplett überarbeitet werden. Im Vergleich zur letzten veröffentlichten Version vom Juni 2021 wurden mehrere Kapitel entfernt und ein Großteil der verbliebenen Kapitel adaptiert. Kapitel oder Themengebiete über die noch keine validen Informationen zur Verfügung stehen (z.B.: "Sicherheitsbehörden" unter der neuen Talibanregierung) wurden mit einem entsprechenden Vermerk versehen.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass die aktuelle Lage von einer nicht absehbaren Dynamik und plötzlichen und abrupten Veränderungen gekennzeichnet ist, womit manche Informationen sehr rasch veralten können. Die Staatendokumentation des BFA wird darauf, wie gehabt, mit einem Update der Länderinformationen im COI-CMS oder einer Kurzinformation (KI) reagieren.

Weitere Produkte der Staatendokumentation zu Afghanistan

?        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Rasuly-Paleczek Gabriele - Österreich] (10.2020): Die aktuelle sozioökonomische Lage in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038971/AFGH_THEM_Die+aktuelle+sozio%C3%B6konomische+Lage+in+Afghanistan+%28Rasuly-Paleczek%29_2020-09.pdf

?        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Heugl, Katharina- Österreich] (21.7.2020): Informationen zu sozioökonomischen und sicherheitsrelevanten Faktoren in der Provinz Balkh auf Basis von Interviews im Rahmen der FFM Mazar-e Sharif 2019, https://www.ecoi.net/en/document/2034796.html

?        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian- Österreich] (14.7.2020): Afghanistan: IOM-Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.html

?        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Latek, Dina- Österreich] (25.6.2020): Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2032976.html

?        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Durante, Xenia- Österreich] (13.6.2019): Analyse der Staatendokumentation: Afghanistan - Informationen zu sozioökonomischen Faktoren in der Provinz Herat auf Basis von Interviews im Zeitraum November 2018 bis Jänner 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010507/AFGH_ANALYSE_Herat_2019_06_13.pdf

?        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (4.2018) : Fact Finding Mission Report Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1430912/5818_1524829439_03-onlineversion.pdf

?        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (7.2016): AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, https://www.ecoi.net/en/file/local/1236701/90_1470057716_afgh-stammes-und-clanstruktur-onlineversion-2016-07.pdf

?        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (3.7.2014): Frauen in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1216171/4236_1415347452_analy-afgh-frauen-in-afghanistan-2014-02-07-as.doc

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).

Vorfälle am Flughafen Kabul

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).

Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flu

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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