TE Vfgh Erkenntnis 2021/9/29 E4429/2020

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Veröffentlicht am 29.09.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §53, §55 Abs1a
COVID-19-Risikogruppe-V, BGBl II 203/2020 §2
AVG §68
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Erlassung einer Rückkehrentscheidung betreffend eine Staatsangehörige von Nigeria; mangelhafte Auseinandersetzung mit der krankheitsbedingten Situation der Beschwerdeführerin (HIV-Erkrankung) vor dem Hintergrund von Länderfeststellungen sowie der COVID-19-Situation im Heimatstaat, insbesondere im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage

Spruch

 Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Nigeria unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise und Erlassung eines auf die Dauer von zwei Jahren befristeten Einreiseverbotes abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Verfahrenshelfers die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige Nigerias und gehört der Volksgruppe der Edo sowie der christlichen Glaubensgemeinschaft an. Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, von der Gruppierung Boko Haram entführt und nach ihrer Flucht von ihr verfolgt worden zu sein. Außerdem leide sie an einer HIV-Infektion. Sie reiste am 1. August 2016 mit einem italienischen Visum in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 6. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.); ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria abgewiesen (Spruchpunkt II.). Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Nigeria gemäß §46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß §55 Abs1a FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht erteilt (Spruchpunkt IV.) und die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen die abweisende Entscheidung gemäß §18 Abs1 Z5 BFA-VG aberkannt (Spruchpunkt V.).

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 21. Juli 2020 als unbegründet ab. Diese Entscheidung erwuchs in Rechtskraft.

4. Am 3. September 2020 stellte die Beschwerdeführerin einen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Sie begründete diesen damit, dass in ihrem Heimatstaat Medikamente zur Behandlung ihrer HIV-Infektion nicht erhältlich seien, was sie bereits im vorangegangenen Verfahren vorgebracht habe.

5. Mit Bescheid vom 5. Oktober 2020 wies das BFA den Folgeantrag bezüglich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten sowie auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria wegen entschiedener Rechtssache zurück (Spruchpunkt I. und II.). Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Nigeria gemäß §46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß §55 Abs1a FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht erteilt (Spruchpunkt IV.) und gegen die Beschwerdeführerin gemäß §53 Abs1 iVm Abs2 FPG ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V.).

6. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 16. November 2020 als unbegründet ab.

7. Am 17. Dezember 2020 brachte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe beim Verfassungsgerichtshof ein. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 8. April 2021 wurde diesem Antrag stattgegeben. In der Folge brachte die Beschwerdeführerin eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde ein, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die Aufhebung des Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht willkürlich entschieden habe, weil es seiner Ermittlungspflicht zur medizinischen Versorgungslage in Nigeria, insbesondere im Hinblick auf die Erhältlichkeit der benötigten Medikamente zur Behandlung von HIV, nicht ausreichend nachgekommen sei.

8. Das BFA hat die Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

9. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichtsakten vorgelegt und ebenfalls auf die Erstattung einer Gegenschrift verzichtet.

III. Erwägungen

A. Die Beschwerde ist zulässig.

B. Soweit sie sich gegen die Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Nigeria unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise und Erlassung eines auf die Dauer von zwei Jahren befristeten Einreiseverbotes der angefochtenen Entscheidung richtet, ist sie auch begründet.

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner inhaltlichen Prüfung der Rückkehrentscheidung verkannt, dass die Beschwerdeführerin auf Grund ihrer HIV-Erkrankung gemäß §2 Abs1 Z4 lite der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz über die Definition der allgemeinen COVID-19-Risikogruppe (COVID-19-Risikogruppe-Verordnung) (BGBl II 203/2020) einer Risikogruppe zugehörig sein könnte. Eine nachvollziehbare Auseinandersetzung mit dem konkreten Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin ist aber im angefochtenen Erkenntnis nicht erfolgt.

Feststellungen zu COVID-19 und zur diesbezüglichen Situation im Herkunftsstaat trifft das Bundesverwaltungsgericht lediglich oberflächlich. Da die Erkrankung der Beschwerdeführerin aber zumindest eine besondere Nähe zu einer COVID-19-Risikogruppe aufweist, wäre eine nähere Auseinandersetzung mit diesem Umstand gefordert gewesen. So wäre insbesondere eine Feststellung dahingehend zu treffen gewesen, ob die Beschwerdeführerin eine hohe Viruslast aufweist und sohin gemäß §2 Abs1 Z4 lite der COVID-19-Risikogruppe-Verordnung einer Risikogruppe angehört; bejahendenfalls wären zusätzliche Feststellungen in Bezug auf die medizinische Versorgungslage im Herkunftsstaat zu treffen gewesen.

Da das Bundesverwaltungsgericht es sohin unterlassen hat, sich ausreichend mit der HIV-Erkrankung der Beschwerdeführerin und der diesbezüglichen Lage im Herkunftsstaat auseinanderzusetzen, insbesondere mit der möglichen Gefahr eines schweren Krankheitsverlaufes im Falle einer Infektion mit COVID-19 und den diesbezüglichen Behandlungsmöglichkeiten, hat es Willkür geübt (vgl VfGH 24.11.2020, E3285/2020; 9.3.2021, E3791/2020).

2.2. Auch im Hinblick auf Behandlungsmöglichkeiten und den Zugang der Beschwerdeführerin zur benötigten Medikation in Bezug auf ihre HIV-Erkrankung verweist das Bundesverwaltungsgericht nur auf eine veraltete Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 3. Juni 2015 und geht bloß oberflächlich auf den in den Länderberichten als problematisch beschriebenen Zugang zur Medikamentenversorgung in Nigeria ein.

Das Bundesverwaltungsgericht hat es somit verabsäumt, sich mit der aktuellen medizinischen Versorgungslage im Hinblick auf die Verfügbarkeit der maßgeblichen Medikamente in Nigeria auseinanderzusetzen und diese mit der individuellen Situation der Beschwerdeführerin in Verbindung zu bringen und hat folglich auch aus diesem Grund sein Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl VfGH 12.6.2019, E1371/2019; 5.3.2020, E3084/2019; 9.3.2021, E3791/2020).

2.3. Das angefochtene Erkenntnis ist daher, soweit damit die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen die Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Nigeria unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise und Erlassung eines auf die Dauer von zwei Jahren befristeten Einreiseverbotes abgewiesen wurde, mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.

C. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren geführt und in jeder Hinsicht rechtmäßig entschieden hat, insoweit nicht anzustellen.

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Nigeria unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise und Erlassung eines auf die Dauer von zwei Jahren befristeten Einreiseverbotes abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.

3. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, da die Beschwerdeführerin Verfahrenshilfe im vollen Umfang genießt.

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, COVID (Corona), Rückkehrentscheidung, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E4429.2020

Zuletzt aktualisiert am

16.12.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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