TE Vwgh Erkenntnis 2021/10/21 Ra 2021/18/0066

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Veröffentlicht am 21.10.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §18
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §37
AVG §39 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des M N, vertreten durch Mag. Christian Hirsch, Rechtsanwalt in 2700 Wiener Neustadt, Hauptplatz 28, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Jänner 2021, W144 2179421-1/10E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein zu diesem Zeitpunkt minderjähriger Staatsangehöriger Afghanistans, reiste im Jahr 2016 nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er zusammengefasst damit begründete, dass zwei seiner Familienmitglieder verschwunden bzw. von den Taliban entführt worden seien und sein Vater von den Taliban ermordet worden sei. Der Revisionswerber selbst sei zwei Mal von den Taliban geschlagen und festgenommen worden. Nach seiner Ausreise sei sein Bruder von den Taliban geschlagen worden.

2        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 24. Oktober 2017 zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Begründend führte das BVwG - zusammengefasst und soweit für den Revisionsfall relevant - aus, dass der Revisionswerber wiederholt im Zuge von Fahrzeugkontrollen durch die Taliban, die auf der Suche nach Angehörigen örtlicher Polizeikräfte gewesen wären, kurzfristig festgenommen und geschlagen worden sei. Der Revisionswerber sei zufällig in diese Fahrzeugkontrollen geraten, ein besonderes Verfolgungsinteresse der Taliban an der Person des Revisionswerbers habe nicht bestanden. Im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu den Feststellungen hinsichtlich des Fluchtvorbringens führte das BVwG nach Wiedergabe von einzelnen Aussagen des Revisionswerbers aus, dass die Übergriffe eine Folge der allgemeinen Umstände in der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers darstellten und kein nachhaltiges Interesse an seiner Person bestehe. Schließlich hielt es in seiner rechtlichen Beurteilung fest, dass dem Revisionswerber eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif offenstehe.

5        Die vorliegende außerordentliche Revision macht zur Zulässigkeit zusammengefasst geltend, das BVwG habe sich über erhebliches Vorbringen des Revisionswerbers zum Fluchtvorbringen ohne weitere Ermittlungen und ohne Begründung hinweggesetzt und sei damit von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Zudem sei das BVwG von näher genannter Rechtsprechung zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen, in dem es die notwendige Einzelfallprüfung nicht unter Berücksichtigung aller ausschlaggebenden Aspekte durchgeführt habe.

6        Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Revision samt der Verfahrensakten das Vorverfahren eingeleitet. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat in Zusammenhang mit den sowohl die Behörde als auch das Verwaltungsgericht treffenden Ermittlungspflichten festgehalten, dass auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. VwGH 18.11.2020, Ra 2020/18/0058, mwN).

10       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. erneut VwGH 18.11.2020, Ra 2020/18/0058, mwN).

11       Der Revisionswerber hat - wie die Revision zutreffend aufzeigt - neben dem vom BVwG beachteten Vorbringen der Festnahmen und Anhaltungen durch die Taliban sowohl in der Erstbefragung als auch in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA und auch in der Beschwerde gegen den Bescheid des BFA die Bedrohung seiner Person aufgrund einer langjährigen Feindschaft mit den Taliban nahestehenden Personen und einer mit der Tötung seines Vaters verbundenen Blutrache vorgebracht. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG schilderte der Revisionswerber diese Bedrohung.

12       Das BVwG hat sich weder im Rahmen seiner Beweiswürdigung mit diesem Vorbringen auseinandergesetzt noch Feststellungen dazu getroffen, sondern lediglich festgehalten, dass der Revisionswerber zufällig in Fahrzeugkontrollen geraten sei und kein nachhaltiges Interesse der Taliban an ihm bestehen würde. Insofern greift die Beweiswürdigung des BVwG, die sich damit über erhebliche Behauptungen des Revisionswerbers ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzt, zu kurz. Es wäre fallbezogen erforderlich gewesen, auf das gesamte Vorbringen des Revisionswerbers, dem im Asylverfahren nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zentrale Bedeutung zukommt, näher einzugehen (vgl. VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472).

13       Im fortgesetzten Verfahren wird sich das BVwG daher nach einem vollständigen Ermittlungsverfahren - unter Einbeziehung aktueller Länderberichte zu Afghanistan - mit dem gesamten Vorbringen des Revisionswerbers auseinanderzusetzen und auf dieser Grundlage zu beurteilen haben, ob ihm in Afghanistan Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention drohe.

14       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben. Bei diesem Ergebnis konnte eine Auseinandersetzung mit dem weiteren Revisionsvorbringen entfallen.

15       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Oktober 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180066.L01

Im RIS seit

15.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

13.12.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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