TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/11 W232 2233556-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.08.2021
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Entscheidungsdatum

11.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W232 2233556-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Simone BÖCKMANN-WINKLER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.06.2020, Zl. 750796001-180079426, zu Recht:

A) Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides wird insofern stattgegeben, als die Dauer des Einreiseverbotes auf fünf Jahre herabgesetzt wird. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gem. Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig, reiste spätestens im Juni 2005 in das österreichische Bundesgebiet ein und brachte durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin am 01.06.2005 einen Antrag auf internationalen Schutz ein (Erstreckungsantrag).

2. Mit Bescheid des damals zuständigen Bundesasylamtes vom 23.06.2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 1997 wegen der Unzuständigkeit Österreichs zurückgewiesen und festgestellt, dass Polen für die Prüfung des Antrags zuständig sei.

3. Mit Bescheid des damals zuständigen Unabhängigen Bundesasylsenates vom 27.10.2005 wurde der gegen den abweisenden Bescheid erhobenen Berufung stattgegeben und der Antrag zugelassen. Der erstinstanzliche Bescheid wurde behoben und der Antrag zur Durchführung des materiellen Asylverfahrens an das damals zuständige Bundesasylamt zurückverwiesen.

4. Mit Bescheid des damals zuständigen Bundesasylamtes vom 03.08.2006 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationale Schutz, so wie auch die Anträge der Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers, abgewiesen und der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen.

5. Mit Bescheid des damals zuständigen Unabhängigen Bundesasylsenates vom 21.02.2007 wurde der gegen den abweisenden Bescheid erhobenen Berufung stattgegeben und dem Beschwerdeführer durch Erstreckung Asyl gemäß §§ 7, 10 AsylG gewährt.

6. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2011, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Urkundenunterdrückung und Diebstahl (§§ 127, 129 Abs. 2 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

7. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2011, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahl und Urkundenunterdrückung (§§ 127, 130 1. Satz 1 Fall, § 229 Abs. 1 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

6. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2011, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahl (§§ 127, 129 Z. 1 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

7. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2012, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahl und Körperverletzung (§§ 127, 129 Z. 1, 130 2. Satz 2. Fall StGB, § 83 Abs. 1 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt (Jugendstraftat).

8. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2012, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen versuchten Diebstahls sowie Urkundenunterdrückung (§ 15 StGB, §§ 127, 129 Z.1 u. 2., 130 4.Fall StGB, §229 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt (Jugendstraftat).

9. Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX 2012, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Körperverletzung (§ 83 Abs. 1 StGB) verurteilt (Jugendstraftat). Unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2012, wurde mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX keine Zusatzstrafe wegen § 83 Abs. 1 StGB verhängt.

10. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2014, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahl und Urkundenunterdrückung (§§127, 129 Z.1, 130 2.Satz 2.Fall StGB, §229 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstraffe von 20 Monaten verurteilt (Junger Erwachsener).

10. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2014, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahl und Urkundenunterdrückung (§§ 127, 128 Abs.1 Z.4, 129 Z.1, 130 4.Fall StGB § 15 StGB, § 229 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt (Junger Erwachsener).

11. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX 2018, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch und wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung (§§ 129 Abs. 1 Z. 1 und Z. 2 StGB, §§ 127, 128 Abs. 1 Z. 5 StGB, §§ 129 Abs. 1 Z. 1, 129 Abs. 2 StGB, §§ 130 Abs. 2 1. Fall, 130 Abs. 2 2. Fall StGB, § 229 Abs. 1 StGB,) zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten verurteilt.

12. Infolge der strafrechtlichen Verurteilungen leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von Amts wegen ein Verfahren auf Aberkennung des Status des Asylberechtigten ein, in welchem am 23.04.2018 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers erfolgte. Dabei gab dieser an, dass er ledig sei und seine Muttersprache Tschetschenisch sei; er spreche auch Deutsch und Russisch. Er sei im Jahr 2005 gemeinsam mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern nach Österreich eingereist. Seine Eltern sowie seine Geschwister würden in Österreich leben. Weiters habe er im Bundesgebiet einen minderjährigen Sohn. Seine Familie und auch seine Ex-Lebensgefährtin würden ihn finanziell unterstützen. Er sei in Tschetschenien und in Österreich in die Schule gegangen. Ferner gab der Beschwerdeführer an, sich seit 2012 in Haft zu befinden und nie gearbeitet zu haben. In seinem Herkunftsland habe er niemanden. Seine bisherigen Verurteilungen vorgehalten und befragt wie es dazu gekommen sei, antwortete der Beschwerdeführer: „Ich war jung und naiv.“ Ferner gab der Beschwerdeführer an sein Verhalten zu bereuen und es nicht zu wiederholen.

13. Mit Schriftsatz vom 16.12.2019 wurde der Beschwerdeführer durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aufgefordert eine Stellungnahme zum aktuellen Länderinformationsblatt Russische Föderation, abzugeben.

14. Am 07.01.2020 langte die Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein. Zunächst führte der Beschwerdeführer aus, dass er sich gerade in der Justizanstalt befände und dort eine Lehre als Maurer begonnen habe, welche er abschließen wolle. Nach seiner Entlassung wolle er bei seiner Mutter wohnen und eine Arbeit finden. Zu seinem Heimatland habe er keine Verbindungen. Er habe sein gesamtes Leben in Österreich verbracht und beherrsche seine Muttersprache nur noch bruchstückhaft. Seine gesamte Kernfamilie lebe hier in Österreich. Auch der fünfjährige Sohn des Beschwerdeführers lebe im Bundesgebiet bei der Ex-Lebensgefährtin. Ferner führte er aus, dass er in jungen Jahren schwerwiegende Fehler begangen habe und sich der Konsequenzen jetzt bewusst sei. Im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland mache ihm weniger die ihm bevorstehenden politische Verfolgung Angst, als vielmehr die Trennung von seiner Familie, insbesondere von seinem Sohn.

14. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 25.06.2020 wurde dem Beschwerdeführer der am 21.02.2007 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Ferner wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegen den Beschwerdeführer auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIl.)

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten im Rahmen des Familienverfahrens, abgeleitet von seinem Vater als Bezugsperson, zuerkannt bekommen habe. Da im Verfahren seiner Bezugsperson aufgrund des Wegfalles der Umstände im Sinne einer geänderten Lage im Herkunftsstaat ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten eingeleitet worden sei, sei auch das Verfahren des Beschwerdeführers davon betroffen. Der Vater des Beschwerdeführers habe anlässlich seiner Einvernahme im Rahmen des Aberkennungsverfahrens keine konkreten Verfolgungsbefürchtungen vorbringen können und habe auch zu den übermittelten Länderfeststellungen keine Stellungnahme abgegeben. Aufgrund der Straffälligkeit des Beschwerdeführers komme eine Aberkennung des Status des Asylberechtigten auch nach fünf Jahren ab Zuerkennung in Betracht. Es hätten keine Gründe festgestellt werden können, die gegen eine Rückkehr in die Russische Föderation sprechen würden, weshalb dem Beschwerdeführer auch der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen sei. Ein schützenswertes Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK läge nicht vor. Hinsichtlich der in Österreich lebenden Familienangehörigen des Beschwerdeführers bestehe weder ein gemeinsamer Wohnsitz, noch ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Der Beschwerdeführer habe zwar einen minderjährigen Sohn und eine Ex-Lebensgefährtin in Österreich, jedoch habe er mit diesen nie in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Ferner gehe aus der Besucherliste der Justizanstalt hervor, dass die Ex-lebensgefährtin des Beschwerdeführers diesen seit November 2017 nicht mehr besucht habe. Aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung und dem insgesamt negativen Persönlichkeitsbild des Beschwerdeführers würden in Zusammenschau mit den gegebenen privaten und familiären Anknüpfungspunkten in Österreich die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen. Das Einreiseverbot sei nach einer Gesamtbeurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers (kontinuierliche Straffälligkeit, mangelnde Berufstätigkeit, Gesamtverhalten) zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten.

15. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung vollumfänglich das Rechtsmittel der Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens. Zunächst wurde darauf hingewiesen, dass die letzte niederschriftliche Einvernahme bereits mehr als zwei Jahre zurückliege und sich die Behörde vom Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Bescheiderlassung daher keinen persönlichen Eindruck verschaffen habe können. Der Beschwerdeführer stelle keine gegenwärtige Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar, weshalb das 10-jährige Einreiseverbot in unverhältnismäßiger Weise in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers eingreife und zu hoch bemessen sei. Der Beschwerdeführer habe zu seinem Heimatstaat keinerlei Bezug und spreche nur gebrochenes Tschetschenisch. Ferner würde der Bescheid in die Rechte des minderjährigen Sohnes des Beschwerdeführers gemäß 8 EMRK eingreifen.

Zum Beweis für das bestehende schützenswerte Privat- und Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer, der Kindesmutter und dem gemeinsamen Kind wurde die Einvernahme der Kindesmutter im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht beantragt.

16. Am 20.07.2020 langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Schreiben des Beschwerdeführers („Beschwerde gegen das auf 10 Jahre befristete Einreiseverbot!“) ein, in dem der Beschwerdeführer zusammengefasst ausführte, dass er sich aktuell in Haft befinde aber nach seiner Entlassung eine Arbeit als Maurer finden wolle und sich insbesondere aufgrund seines Sohnes ein geregeltes Leben aufbauen wolle.

Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist am XXXX , in Grosny, Russland, geboren, Staatsangehöriger der Russischen Föderation sowie Zugehöriger der Volksgruppe der Tschetschenen und des muslimischen Glaubens.

Der Beschwerdeführer reiste spätestens im Juni 2005 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und brachte durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin am 01.06.2005 einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 21.02.2007 wurde der gegen den abweisenden Bescheid erhobenen Berufung stattgegeben und dem Beschwerdeführer im Familienverfahren durch Erstreckung Asyl gewährt. Eine individuelle Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers wurde nicht festgestellt.

Dem Vater des Beschwerdeführers wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.08.2020 der Status des Asylberechtigten rechtskräftig aberkannt.

Der Beschwerdeführer wurde in Tschetschenien geboren und verbrachte dort seine Kindheit bis zu seiner Ausreise im Jahr 2005. Er ist mit den Gebräuchen und Gepflogenheiten seines Heimatlandes vertraut und spricht Tschetschenisch und Deutsch und beherrscht nach eigenen Angaben auch Russisch. Es leben weitschichtige Verwandte des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation.

Der Beschwerdeführer ist ledig. Im Bundesgebiet befinden sich die Eltern und die Geschwister des Beschwerdeführers sowie sein minderjähriger Sohn, der bei der Kindesmutter lebt und österreichischer Staatsbürger ist.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer besuchte nach eigenen Angaben drei Jahre in Tschetschenien eine Schule und anschließend in Österreich die Volks- und Hauptschule. Er ging im Bundesgebiet keiner legalen Beschäftigung nach und lebte von staatlicher Unterstützung. Im Rahmen der Verbüßung seiner Freiheitsstrafen absolviert der Beschwerdeführer eine Lehre zum Maurer. Der Beschwerdeführer wurde im Zeitraum von 2011 bis 2018 wiederholt straffällig und befindet sich derzeit in Haft. Nach letztem Informationsstand steht das negative Vollzugsverhalten des Beschwerdeführers einer frühzeitigen bedingten Entlassung entgegen und wird von einer Entlassung zum Strafende (25.04.2022) ausgegangen.

Der Beschwerdeführer weist folgende strafrechtliche Verurteilungen auf:

-) Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2011, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Urkundenunterdrückung und Diebstahl (§§ 127, 129 Abs. 2 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

-) Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2011, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahl und Urkundenunterdrückung (§§ 127, 130 1. Satz 1 Fall, § 229 Abs. 1 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

-) Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2011, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahl (§§ 127, 129 Z. 1 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

-) Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2012, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahl und Körperverletzung (§§ 127, 129 Z. 1, 130 2. Satz 2. Fall StGB, § 83 Abs. 1 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt (Jugendstraftat).

-) Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2012, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen versuchten Diebstahls sowie Urkundenunterdrückung (§ 15 StGB, §§ 127, 129 Z.1 u. 2., 130 4.Fall StGB, §229 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt (Jugendstraftat).

-) Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX 2012, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Körperverletzung (§ 83 Abs. 1 StGB) verurteilt (Jugendstraftat). Unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2012, wurde mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX keine Zusatzstrafe wegen § 83 Abs. 1 StGB verhängt.

-) Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2014, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahl und Urkundenunterdrückung (§§127, 129 Z.1, 130 2.Satz 2.Fall StGB, §229 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstraffe von 20 Monaten verurteilt (Junger Erwachsener).

-) Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2014, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen Diebstahl und Urkundenunterdrückung (§§ 127, 128 Abs.1 Z.4, 129 Z.1, 130 4.Fall StGB § 15 StGB, § 229 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt (Junger Erwachsener).

-) Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX 2018, XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch und wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung (§§ 129 Abs. 1 Z. 1 und Z. 2 StGB, §§ 127, 128 Abs. 1 Z. 5 StGB, §§ 129 Abs. 1 Z. 1, 129 Abs. 2 StGB, §§ 130 Abs. 2 1. Fall, 130 Abs. 2 2. Fall StGB, § 229 Abs. 1 StGB,) zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten verurteilt.

Die Umstände, auf Grund derer dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, bestehen aufgrund einer dauerhaften und grundlegenden Änderung der Lage in der Russischen Föderation nicht mehr. Der Beschwerdeführer ist aktuell in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation nicht aus Gründen der Volksgruppenzugehörigkeit, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht.

Der Beschwerdeführer ist im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien nicht gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, nicht von der Todesstrafe bedroht und würde nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten. Auch unter Berücksichtigung der Covid-19 Pandemie ist es dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten, ein Leben zu führen ohne in eine aussichtslose Lage zu geraten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Russland: Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation, Gesamtaktualisierung am 30.09.2019:

Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 29.7.2019, vgl. GIZ 8.2019c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 8.2019a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 8.2019a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Sieben-Prozent-Klausel. Wichtige Parteien sind: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern , die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 5.2019a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 14.2.2019b). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die Nicht-Systemopposition unterstützt zwar die parlamentarische Demokratie als Organisationsform der Politik, nimmt aber nicht an Wahlen teil, da ihnen die Teilnahme wegen der restriktiven Regeln oder vermeintlicher Formalfehler versagt wird (Dekoder 24.5.2016).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 8.2019a, vgl. AA 14.2.2019b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 8.2019a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 8.2019a).

Bei den Regionalwahlen am 8.9.2019 in Russland hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu Protesten geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten alles wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall. Umfragen hatten der Partei wegen der Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage im Land teils massive Verluste vorhergesagt (Zeit Online 9.9.2019).

Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2019 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 24.1.2019), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert , teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2018). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen zu sein (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.2.2019, vgl. AA 13.2.2019).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine ‚Provinz Kaukasus‘, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft. Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in Kabardino-Balkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konfliktopfer und bewaffneten Zwischenfälle mehr (Caucasian Knot 30.8.2019).

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2018). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.2.2019).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2018). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2018). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 13.3.2019). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition.

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).

Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich zu den föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2018).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, AI 22.2.2018, HRW 17.1.2019). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 13.3.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssten mitsamt ihren Familien Tschetschenien verlassen. Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2018) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl es Mechanismen zur Untersuchung von Misshandlungen gibt, werden Misshandlungsvorwürfe gegen Polizeibeamte nur selten untersucht und bestraft. Straffreiheit ist weit verbreitet (US DOS 13.3.2018), ebenso wie die Anwendung übermäßiger Gewalt durch die Polizei (FH 4.2.2019).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt, es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 13.3.2019).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Chef der Republik, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 13.3.2019). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Auf Seiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden „unantastbaren Polizeieinheiten“ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor Ramzan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind auch in Moskau präsent (AA 13.2.2019).

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 12.2018, vgl. EASO 3.2017).

Immer wieder gibt es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen „Komitee gegen Folter“ kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung (AA 13.2.2019, vgl. US DOS 13.3.2019). Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 13.2.2019). Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos (AA 13.2.2019, vgl. US DOS 13.3.2019). Unter Folter erzwungene “Geständnisse“ werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 13.2.2019). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung (USDOS 13.3.2019). Im August 2018 publizierte das unabhängige Online-Medienportal Meduza Daten über mehr als 50 öffentlich gemeldete Folterfälle im Jahr 2018. Zu den mutmaßlichen Tätern gehörten Polizei, Ermittler, Sicherheitsbeamte und Strafvollzugsbeamte. Die Behörden haben nur wenige strafrechtliche Ermittlungen zu den Vorwürfen eingeleitet, und nur ein Fall wurde vor Gericht gebracht (HRW 17.1.2019). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 4.2.2019, vgl. US DOS 13.3.2019).

Ab 2017 wurden Hunderte von homosexuellen Männern von tschetschenischen Behörden entführt und gefoltert, einige wurden getötet. Viele flohen aus der Republik und dem Land. In einem im Dezember 2018 veröffentlichten OSZE-Bericht wurde festgestellt, dass in Tschet

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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