TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/31 I405 2212864-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.05.2021
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Entscheidungsdatum

31.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs2 Z2
AsylG 2005 §9 Abs2 Z3
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs2
JGG §5
StGB §105 Abs1
StGB §125
StGB §127
StGB §83 Abs1
StGB §84
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch


I405 2212864-2/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, vertreten durch das Land XXXX als Kinder- und Jugendhilfeträger, dieses vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und die Spruchpunkte I., II. und IV. bis VIII. des Bescheides werden ersatzlos aufgehoben. In Bezug auf den Spruchpunkt III. des Bescheides wird dem Antrag des XXXX auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 22.11.2019 gemäß § 8 Abs. 4 AsylG stattgegeben und die Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter um zwei (2) weitere Jahre verlängert.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der minderjährige Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), nigerianischer Staatsangehöriger, reiste illegal in Österreich ein und stellte am 19.08.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid vom 05.12.2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) ab. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem mj. BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 05.12.2019 erteilt (Spruchpunkt III.). Begründend wurde zur Abweisung des Spruchpunkt I. ausgeführt, dass der mj. BF keine asylrechtlich relevanten Verfolgungshandlungen betreffend seine Person vorgebracht habe.

Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte mit Erkenntnis vom 12.03.2019 die Entscheidung des BFA zu Spruchpunkt I. und wies die Beschwerde des mj. BF ab.

Am 22.11.2019 stellte der mj. BF den gegenständlichen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter und Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung.

Mit Schreiben des BFA vom 02.03.2020 wurde der mj. BF über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens gemäß § 9 Abs. 2 Z 2 und 3 AsylG informiert und ihm die Möglichkeit einer Stellungnahme binnen zwei Wochen ab Zustellung gewährt.

Mit Stellungnahme vom 19.03.2020 wurde durch die Rechtsvertretung des mj. BF mitgeteilt, dass der minderjährige mj. BF zwar verurteilt worden sei, von ihm aber keine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehe und eine positive Zukunftsprognose angenommen werden könne. So habe der mj. BF in der Haft begonnen, sein Leben neu zu ordnen sowie seinen Schulabschluss nachzuholen und besuche er nun die vierte Klasse der Neuen Mittelschule A. Ziel sei es, dass er nach der Haft eine Lehre im Bereich Tourismus beginnen könne. Zudem sei er der Bewährungshilfe gegenüber sehr offen eingestellt und habe jeglichen Kontakt zu seinen früheren Freunden, welche schlechten Einfluss auf ihn ausgeübt haben, eingestellt. Ferner müsse auf die schwierige psychische Lage des mj. BF Bedacht genommen werden und sei er bereit, trotz seines jungen Alters eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen.

In der Folge wurde mit angefochtenem Bescheid vom 20.03.2020 der dem mj. BF mit Bescheid des BFA vom 05.12.2018 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Der Antrag des mj. BF vom 22.11.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wurde abgewiesen (Spruchpunkt III.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem mj. BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt V.). Es wurde gemäß § 9 Abs. 2 AsylG iVm § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria unzulässig sei (Spruchpunkt VI.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des mj. BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VII.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den mj. BF ein achtjähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VIII.).

Begründend führte das BFA unter Darlegung der Verurteilungstatbestände und Berücksichtigung der Milderungs- und Erschwerungsgründe im Wesentlichen aus, dass es im Fall des mj. BF zu einem extrem raschen Rückfall bei Steigerung der Brutalität der Taten nach einschlägiger Vorstrafe gekommen sei, seine Opfer nicht unerheblich verletzt worden seien und es an Anhaltspunkten für die Annahme eines künftigen Wohlverhaltens des mj. BF fehle. Außerdem sei der mj. BF bereits als Strafunmündiger einer Vielzahl an dokumentierten Straftaten verdächtigt worden, wobei die Vorgangsweise immer brutaler geworden sei.

Gegen die Spruchpunkte I.-V. und VIII. erhob der mj. BF mit Schriftsatz vom 07.05.2020 fristgerecht Beschwerde und begründete diese im Wesentlichen damit, dass das BFA ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren durchgeführt und den mj. BF nicht persönlich einvernommen habe. Der mj. BF habe weder ein besonders schweres Verbrechen begangen noch sei er gemeingefährlich, weshalb von einer positiven Zukunftsprognose auszugehen sei. Aufgrund des positiven Resozialisierungsverlaufes erweise sich auch die Erlassung eines Einreiseverbotes als unverhältnismäßig bzw. sei dieses jedenfalls zu hoch bemessen.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.06.2020, Zl. I405 2212864-2/4E, wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Dagegen wurde die außerordentliche Revision beim Verwaltungsgerichtshof eingebracht.

Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 22.10.2020, Zl. Ra 2020/20/0274-9, wurde das angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass das erkennenden Gericht die Verhandlungspflicht verletzt habe. Es hätte sich beim Erstellen der für eine Beurteilung nach § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 erforderlichen Gefährdungsprognose einen persönlichen Eindruck von dem zum Zeitpunkt der Begehung der in Rede stehenden Straftaten vierzehn- bzw. fünfzehnjährigen mj. BF verschaffen müssen.

Daraufhin führte das Bundesverwaltungsgericht am 07.01.2021 eine mündliche Verhandlung durch, an welcher der mj. BF, seine Rechtsvertretung und zwei Zeugen sowie ein Dolmetscher für die Sprache Englisch teilnahmen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des mj. BF:

Der mj. BF ist Staatsangehöriger Nigerias. Die Identität des mj. BF steht nicht fest.

Der mj. BF gelangte mit seinem Vater und seiner Stiefmutter nach Österreich und ist seit seiner Antragstellung am 19.08.2016 zunächst aufgrund der vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung während des Asylverfahrens und danach aufgrund der ihm erteilten befristeten Aufenthaltsberechtigung aufgrund der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Österreich aufhältig.

Den Eltern des mj. BF wurde mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX vom 25.10.2016 die Obsorge für den mj. BF entzogen. Am 16.10.2017 wurden der Vater und die Stiefmutter des mj. BF nach Italien abgeschoben.

Der mj. BF ist ein unbegleiteter Minderjähriger, der in Nigeria keinen familiären oder sozialen Rückhalt hat.

Der mj. BF leidet an einer Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen und befindet sich in psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung.

Der mj. BF wurde in Österreich mehrmals strafgerichtlich verurteilt. Erstmalig wurde der mj. BF mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 29.03.2019, Zl. XXXX , rechtskräftig am 29.03.2020, wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB, des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und des Vergehens der versuchten Körperverletzung nach §§ 15 Abs. 1, 83 Abs. 1 StGB, der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und des Verbrechens der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15 Abs. 1, 84 Abs. 4 StGB, in Anwendung des § 5 Z 4 JGG sowie des § 28 StGB und nach dem Strafsatz des § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt, welche ihm unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Zugleich wurde dem mj. BF die Inanspruchnahme einer Bewährungshilfe angeordnet.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 10.12.2019, Zl. XXXX , rechtskräftig am 14.12.2019, wurde der mj. BF wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB und des Verbrechens des Raubes nach §§ 15 Abs. 1, 142 Abs. 1 StGB, in Anwendung des § 5 Z 4 JGG sowie des § 28 Abs. 1 StGB und nach dem Strafsatz des 143 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 30 Monaten verurteilt. Gemäß § 494a Abs. 1 Z 2 StPO wurde vom Widerruf der vom Landesgericht XXXX zu XXXX gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen, jedoch die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.

Zuletzt wurde der mj. BF mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 07.02.2020, Zl. XXXX , rechtskräftig am 11.02.2020, wegen der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, in Anwendung von § 28 StGB und § 5 Z 4 JGG, mit Rücksicht auf die Urteile des Landesgerichtes XXXX vom 29.03.2019 und vom 10.12.2019 zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von einem Monat verurteilt. Der mj. BF war zum Tatzeitpunkt 14 bzw. 15 Jahre alt, somit handelte es sich bei den Delikten um Jugendstraftaten.

Der mj. BF wurde am 20.10.2020 aus der Strafhaft vorzeitig bedingt (Anordnung der Bewährungshilfe, Probezeit von drei Jahren) entlassen.

Während der Haft wurde der mj. BF psychologisch begleitet und stand im Kontakt mit seiner Bewährungshelferin und konnte die dritte und vierte Klasse der Neuen Mittelschule abschließen und anschließend bereits in Haft einer Arbeit nachgehen. Er verfügt über sehr gute Sprachkenntnisse, sodass die Verhandlung in Deutsch durchgeführt werden konnte.

Seit seiner Haftentlassung wohnt er in einer Wohnung, die hochfrequentiert (mit 21 Stunden) betreut wird. Er bezieht die Grundversorgung.

Der mj. BF nimmt seit September 2020 an einem Projekt des Vereins XXXX teil, welches Jugendliche bei der beruflichen Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützt. Der mj. BF verfügt nun über eine Einstellungszusage für eine Lehre als Koch/Kellner, die er mit 01.06.2021 antreten kann. Er hat in seinem zukünftigen Lehrbetrieb bereits geschnuppert.

Der mj. BF ist auch in einem Sportverein, in welchem er aktiv ist. Zudem verfügt er über freundschaftliche Kontakte, die er auch pflegt.

Der mj. BF bereut seine Taten und führt seit seiner Haftentlassung einen ordentlichen Lebenswandel. Er zeigt sich mit seinen Betreuern kooperativ und führt eigenständig seinen Haushalt. Hinsichtlich der Behandlung seiner psychischen Erkrankung hat er sich eigenständig um einen Therapieplatz und Medikation bemüht.

Unter Berücksichtigung seiner Minderjährigkeit, des positiven Lebenswandels bzw. der positiven Zukunftsprognose (die kriminellen Handlungen fanden Ende 2018 bzw. Ende 2019 statt), der bedingten Entlassung aus der Haft sind die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen seinen rechtskräftigen Verurteilungen, unter anderem wegen Verbrechen im konkreten Fall nicht gegeben.

1.2. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem mj. BF wurde mit Bescheid des BFA vom 05.12.2018 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 05.12.2019 erteilt. Gründe, die für die damalige Zuerkennung ausschlaggebend waren, waren seine Minderjährigkeit und der Umstand, dass ein Familienanschluss des mj. BF in Nigeria nicht garantiert werden konnte.

Aufgrund der Straffälligkeit des mj. BF wurde vom BFA amtswegig ein Aberkennungsverfahren eingeleitet und dem BF mit Bescheid vom 20.03.2020 der ihm zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 9 Abs. 2 AsylG aberkannt.

Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des mj. BF und der aktuellen Lage in Nigeria kann nicht festgestellt werden, dass sich die Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid des BFA vom 05.12.2018 geführt haben, wesentlich und nicht nur vorübergehend gebessert haben.

Im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria kann nicht mit notwendiger Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der mj. BF aufgrund seiner Minderjährigkeit in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der mj. BF liefe dort in Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.3. Zu Situation im Herkunftsstaat:

Hinsichtlich der Lage in Nigeria ist auf Basis des aktuellen "Länderinformationsblattes der Staatendokumentation" (Stand: 23.11.2020) festzustellen:

1.3.1. Länderspezifische Anmerkungen

Letzte Änderung: 15.06.2020

Im vorliegenden Länderinformationsblatt erfolgt keine ausführliche Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind und zu deren Auswirkungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt Informationen fehlen.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine seriösen Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf Versorgungslage sowie auf Bewegungs- und Reisefreiheit der Bürgerinnen und Bürger sowie generell zu politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen zusammengestellt werden.

1.3.2. COVID-19

Letzte Änderung: 23.11.2020

Die COVID-19-Situation in Nigeria ist nach wie vor angespannt. Die veröffentlichten absoluten Zahlen an bisherigen Infizierten (rund 62.000) geben angesichts der geringen Durchtestung der 200-Millionen-Bevölkerung ein verzerrtes Bild. Aussagekräftiger ist der Anteil der positiven Fälle gemessen an der Zahl der durchgeführten Tests. Dieser lag im Oktober 2020 landesweit bei mehr als drei Prozent, in der Metropole Lagos hingegen bei etwa 30 Prozent. Die Zahlen berücksichtigen noch nicht die Auswirkung der #EndSARS-Proteste, bei denen von den Demonstrierenden praktisch keine Schutzvorkehrungen gegen COVID-19 getroffen worden sind.

Ein Anstieg an positiven Fällen ist hauptsächlich in der Südwestzone des Landes zu beobachten. In einigen Bundesstaaten herrscht überhaupt Skepsis an der Notwendigkeit von COVID-19- Maßnahmen. Die allgemeine Risikowahrnehmung und die Nachfrage nach Tests sind gering (ÖB 10.2020).

In Nigeria gibt es wie in anderen afrikanischen Ländern relativ wenig belegte COVID-19 Infizierte. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass vergleichsweise wenig Tests durchgeführt werden (Africa CDC 13.10.2020). Anfang September 2020 wurde die Phase 3 der Restriktionen im Zusammenhang mit der Coronakrise in Kraft gesetzt. Die Ausgangssperre gilt im ganzen Land nun von Mitternacht bis vier Uhr. Meetings bis zu maximal 50 Personen sind gestattet. In Lagos dürfen Restaurants, Klubs und Kirchen etc. unter bestimmten Auflagen öffnen (WKO 25.9.2020).

Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des erneuten Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt. Wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein wird, ist bislang noch nicht abzuschätzen (GIZ 6.2020). Für 2020 wird aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Nigeria und der drastisch gesunkenen Erdölpreise mit einer Schrumpfung des nigerianischen BIP um 4,4 Prozent gerechnet. In der 2. Jahreshälfte 2020 ist jedoch ein Wiederanziehen der Konjunktur feststellbar und für 2021 wird ein Wachstum von 2,2 Prozent erwartet (WKO 14.9.2020).

Anm.: Diese Informationen zu COVID-19 sind zum Teil ebenfalls in den Kapiteln Bewegungsfreiheit, medizinische Versorgung und Grundversorgung eingepflegt.

Quellen:

• Africa CDC - Africa Centres for Disease Control and Prevention (13.10.2020): Coronavirus

Disease 2019 (COVID-19) - Latest updates on the COVID-19 crisis from Africa CDC,

https://africacdc.org/covid-19/; Zugriff 13.10.2020

• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (6.2020): Wirtschaft &

Entwicklung, https://www.liportal.de/nigeria/wirtschaft-entwicklung/ , Zugriff 5.10.2020

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://

www.ecoi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf , Zugriff

18.11.2020

• WKO - Wirtschaftskammer Österreich (25.9.2020): Coronavirus: Situation in Nigeria -

Aktuelle Informationen und Info-Updates, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/co

ronavirus-info-nigeria.html , Zugriff 13.10.2020

• WKO - Wirtschaftskammer Österreich (14.9.2020): Die nigerianische Wirtschaft, https:

//www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-nigerianische-wirtschaft.html; Zugriff

13.10.2020

1.3.3 Politische Lage

Letzte Änderung: 17.11.2020

Nigeria ist in 36 Bundesstaaten (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020; GIZ 9.2020a) mit insgesamt 774 LGAs/Bezirken unterteilt (GIZ 9.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Jeder der 36 Bundesstaaten wird von einer Regierung unter der Leitung eines direkt gewählten Gouverneurs (State Governor) und eines Landesparlamentes (State House of Assembly) geführt (GIZ 9.2020a; vgl. AA 16.1.2020).

Polizei und Justiz werden vom Bund kontrolliert (AA 16.1.2020). Nigeria ist eine Bundesrepublik mit einem starken exekutiven Präsidenten (Präsidialsystem nach US-Vorbild) (AA 24.5.2019a). Nigeria verfügt über ein Mehrparteiensystem. Die am System der USA orientierte Verfassung enthält alle Attribute eines demokratischen Rechtsstaates (inkl. Grundrechtskatalog, Gewaltenteilung). Dem starken Präsidenten – zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte – und dem Vizepräsidenten stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und eine unabhängige Justiz gegenüber. Die Verfassungswirklichkeit wird von der Exekutive in Gestalt des direkt gewählten Präsidenten und von den direkt gewählten Gouverneuren dominiert. Der Kampf um politische Ämter wird mit großer Intensität, häufig auch mit undemokratischen, gewaltsamen Mitteln geführt. Die Justiz ist der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020).

Die Parteienzugehörigkeit orientiert sich meist an Führungspersonen, ethnischer Zugehörigkeit und vor allem strategischen Gesichtspunkten. Parteien werden primär als Zweckbündnisse zur Erlangung von Macht angesehen. Politische Führungskräfte wechseln die Partei, wenn sie andernorts bessere Erfolgschancen sehen. Entsprechend repräsentiert keine der Parteien eine eindeutige politische Richtung (AA 16.1.2020). Gewählte Amtsträger setzen im Allgemeinen ihre Politik um. Ihre Fähigkeit, dies zu tun, wird jedoch durch Faktoren wie Korruption, parteipolitische Konflikte, schlechte Kontrolle über Gebiete, in denen militante Gruppen aktiv sind, und die nicht offengelegten Gesundheitsprobleme des Präsidenten beeinträchtigt (FH 4.3.2020).

Bei den Präsidentschaftswahlen am 23.2.2019 wurde Amtsinhaber Muhammadu Buhari im Amt bestätigt (GIZ 9.2020a). Er erhielt 15,1 Millionen Stimmen und siegte in 19 Bundesstaaten, vor allem im Norden und Südwesten des Landes. Sein Herausforderer, Atiku Abubakar, erhielt 11,3 Millionen Stimmen und gewann in 17 Bundesstaaten im Südosten, im Middle-Belt sowie in der Hauptstadt Abuja (GIZ 9.2020a; vgl. BBC 26.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag mit 36 Prozent deutlich niedriger als 2015. Überschattet wurden die Wahlen von gewaltsamen Zwischenfällen mit mindestens 53 Toten. Wahlbeobachter und Vertreter der Zivilgesellschaft kritisierten außerdem Organisationsmängel bei der Durchführung der Wahlen, die Einschüchterung von Wählern sowie die Zerstörung von Wahlunterlagen an einigen Orten des Landes. Die Opposition sprach von Wahlmanipulation. Abubakar focht das Ergebnis vor dem Obersten Gerichtshof aufgrund von Unregelmäßigkeiten an (GIZ 9.2020a).

Die Nationalversammlung besteht aus zwei Kammern: Senat mit 109 Mitgliedern und Repräsentantenhaus mit 360 Mitgliedern (AA 24.5.2019b). Aus den letzten Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 2019 ging die Regierungspartei „All Progressives‘ Congress“ (APC) siegreich hervor. Sie konnte ihre Mehrheit in beiden Kammern der Nationalversammlung vergrößern. Die größte Oppositionspartei, die „People’s Democratic Party“ (PDP) hatte von 1999-2015 durchgehend den Präsidenten gestellt. 2015 musste sie zum ersten Mal in die Opposition und ist durch Streitigkeiten um die Parteiführung seitdem geschwächt (AA 16.1.2020).

Auf subnationaler Ebene regiert die APC in 20 der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020). Am 9.3.2019 wurden Wahlen für Regionalparlamente und Gouverneure in 29 Bundesstaaten durchgeführt. In den restlichen sieben Bundesstaaten hatten die Gouverneurswahlen bereits in den Monaten zuvor stattgefunden. Auch hier kam es zu Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen (GIZ 9.2020a). Kandidaten der APC von Präsident Buhari konnten 17 Gouverneursposten gewinnen, jene der oppositionellen PDP 14 (Stears 9.4.2020). Regionalwahlen haben großen Einfluss auf die nigerianische Politik, da die Gouverneure die Finanzen der Teilstaaten kontrollieren und für Schlüsselsektoren wie Gesundheit und Bildung verantwortlich sind (DW 11.3.2019).

Neben der modernen Staatsgewalt haben auch die traditionellen Führer immer noch einen nicht zu unterschätzenden, wenn auch weitgehend informellen Einfluss. Sie gelten als Kommunikationszentrum und moralische Instanz und können wichtige Vermittler in kommunalen und in religiös gefärbten Konflikten sein. Dieser Einfluss wird von der jüngeren Generation aber zunehmend in Frage gestellt (AA 24.5.2019a).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in

der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

• AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt

.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844 , Zugriff 30.9.2020

• AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019b): Nigeria - Überblick, https://www.auswaertiges-amt.d

e/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeria/205786 , Zugriff 30.9.2020

• BBC News (26.2.2019): Nigeria Presidential Elections Results 2019, https://www.bbc.co

.uk/news/resources/idt-f0b25208-4a1d-4068-a204-940cbe88d1d3 , Zugriff 12.4.2019

• DW - Deutsche Welle (11.3.2019): EU: Nigerian state elections marred by ’systemic failings’,

https://www.dw.com/en/eu-nigerian-state-elections-marred-by-systemic-failings/a-

47858131 , Zugriff 9.4.2020

• FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2019 - Nigeria, https://www.ecoi

.net/de/dokument/2035799.html , Zugriff 30.9.2020

• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020a): Nigeria - Geschichte

und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html , Zugriff 30.9.2020

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

• Stears News (9.4.2020): Governorship Election Results, https://nigeriaelections.stearsng.

com/governor/2019 , Zugriff 9.4.2020

1.3.4. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 23.11.2020

Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020); sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a; vgl. Garda 23.6.2020). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a) bzw. kommt es seit Jänner 2018 zu regelmäßigen Protesten des IMN in Abuja und anderen Städten, die das Potential haben, in Gewalt zu münden (UKFCDO 26.9.2020).

Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. Die separatistische Gruppe Indigenous People of Biafra (IPOB) ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).

Die Kriminalitätsrate in Nigeria ist sehr hoch, die allgemeine Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Jahren laufend verschlechtert. In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger und Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 8.10.2020).

Anfang Oktober 2020 führte eine massive Protestwelle zur Auflösung der Spezialeinheit SARS am 11.10.2020 (Guardian 11.10.2020). Die Einheit wurde in SWAT (Special Weapons and Tactics Team) umbenannt und seine Beamten sollen einer zusätzlichen Ausbildung unterzogen werden. Die Protestwelle hielt jedoch an (DS 16.10.2020). Mit Stand 26.10.2020 war das Ausmaß der Ausschreitungen stark angestiegen. Es kam zu Gewalt und Plünderungen sowie zur Zerstörung von Geschäften und Einkaufszentren. Dabei waren bis zu diesem Zeitpunkt 69 Menschen ums Leben gekommen - hauptsächlich Zivilisten, aber auch Polizeibeamte und Soldaten (BBC News 26.10.2020).

In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 8.10.2020).

In der Zeitspanne September 2019 bis September 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (3.085), Kaduna (894), Zamfara (858), und Katsina (644). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (4), Kano (6), Jigawa (15) (CFR 2020).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage

in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/

2025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_-

abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_-

2019%29%2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020

• AA - Auswärtiges Amt (16.4.2020): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise

(Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-n

ode/nigeriasicherheit/205788#content_5 , 16.4.2020

• BBC News (26.10.2020): Nigeria protests: Police chief deploys ’all resources’ amid street

violence, https://www.bbc.com/news/world-africa-54678345; Zugriff 28.10.2020

• CFR - Council on Foreign Relations (2020): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/

nigeria/nigeria-security-tracker/p29483 , Zugriff 8.10.2020

• DS - Der Standard (16.10.2020): Berüchtigte „Sars“-Polizeieinheit in Nigeria nach Protesten

abgeschafft, https://www.derstandard.at/story/2000120951836/beruechtigte-sars-pol

izeieinheit-in-nigeria-nach-protesten-abgeschafft; Zugriff 28.10.2020

• EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report

- Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_C

OI_Nigeria_SecuritySituation.pdf , Zugriff 16.4.2020

• FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2019 - Nigeria, https://www.ecoi

.net/de/dokument/2035799.html , Zugriff 30.9.2020

• Garda - Gardaworld (23.6.2020): Nigeria: Gunmen attack village in Zamfara State on June

20, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/353501/nigeria-gunmen-attack-village-in

-zamfara-state-on-june-20 , Zugriff 8.10.2020 (siehe „context“)

• Guardian, The (11.10.2020): Nigeria to disband Sars police unit accused of killings and

brutality, https://www.theguardian.com/world/2020/oct/11/nigeria-to-disband-sars-police

-unit-accused-of-killings-and-brutality; Zugriff 28.10.2020

• UKFCDO - United Kingdom Foreign, Commonwealth & Development Office (26.9.2020):

Foreign travel advice - Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria , Zugriff

8.10.2020

1.3.5. Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 15.06.2020

Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der rund 360.000 Mann starken (Bundes-) Polizei (National Police Force - NPF), die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht (AA 16.1.2020). Obwohl in absoluten Zahlen eine der größten Polizeitruppen der Welt, liegt die Rate von Polizeibeamten zur Bevölkerungszahl unter der von der UN empfohlenen Zahl (UKHO 3.2019). Die nigerianische Polizei ist zusammen mit anderen Bundesorganisationen die wichtigste Strafverfolgungsbehörde. Das Department of State Service (DSS), das via nationalem Sicherheitsberater dem Präsidenten unterstellt ist, ist ebenfalls für die innere Sicherheit zuständig. Die nigerianischen Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die äußere Sicherheit zuständig, haben aber auch einige Zuständigkeiten im Bereich der inneren Sicherheit (USDOS 11.3.2020). Etwa 100.000 Polizisten sollen bei Personen des öffentlichen Lebens und einflussreichen Privatpersonen als Sicherheitskräfte tätig sein (AA 16.1.2020). Alle Sicherheitsorgane (Militär, Staatsschutz sowie paramilitärische Einheiten, die so genannten Rapid Response Squads) werden neben der Polizei auch im Innern eingesetzt (AA 16.1.2020). Die National Drug Law Enforcement Agency (NDLEA) ist für alle Straftaten in Zusammenhang mit Drogen zuständig (ÖB 10.2019).

Der NDLEA wird im Vergleich zu anderen Behörden mit polizeilichen Befugnissen eine gewisse Professionalität attestiert. In den Zuständigkeitsbereich dieser Behörde fällt Dekret 33, welches ein zusätzliches Verfahren für im Ausland bereits wegen Drogendelikten verurteilte nigerianische Staatsbürger vorsieht. Dagegen zeichnen sich die NPF und die Mobile Police (MOPOL) durch geringe Professionalität, mangelnde Disziplin, häufige Willkür und geringen Diensteifer aus (ÖB 10.2019). Die Polizei ist durch niedrige Besoldung sowie schlechte Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung gekennzeichnet. Die staatlichen Ordnungskräfte sind personell, technisch und finanziell nicht in der Lage, die Gewaltkriminalität umfassend zu kontrollieren bzw. einzudämmen.

Zudem sind die Sicherheitskräfte teilweise selbst für die Kriminalität verantwortlich (AA 16.1.2020). Da die Polizei oft nicht in der Lage ist, durch gesellschaftliche Konflikte verursachte Gewalt zu unterbinden, verlässt sich die Regierung in vielen Fällen auf die Unterstützung durch die Armee (USDOS 11.3.2020).

Polizei, DSS und Militär sind zivilen Autoritäten unterstellt, sie operieren jedoch zeitweise außerhalb ziviler Kontrolle (USDOS 11.3.2020). Es gab allerdings kleinere Erfolge im Bereich der Reorganisation von Teilen des Militärs und der Polizei (BS 2020). Der Regierung fehlen wirksame Mechanismen und ausreichender politischer Wille, um die meisten Fälle von Missbrauch durch Sicherheitskräfte sowie Korruption in den Sicherheitskräften zu untersuchen und zu bestrafen (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in

der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

• BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.n

et/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf , Zugriff 18.5.2020

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

• USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices

2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 9.4.2020

1.3.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 23.11.2020

Die am 29.5.1999 in Kraft getretene Verfassung Nigerias enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog. Dieser ist zum Teil jedoch weitreichenden Einschränkungen unterworfen. Das in Art. 33 der Verfassung gewährte Recht auf körperliche Unversehrtheit wird z.B. unter den Vorbehalt gestellt, dass die betroffene Person nicht bei der Anwendung legal ausgeübter staatlicher Gewalt zur „Unterdrückung von Aufruhr oder Meuterei“ ihr Leben verloren hat. In vielen Bereichen bleibt die Umsetzung der zahlreich eingegangenen menschenrechtlichen Verpflichtungen weiterhin deutlich hinter internationalen Standards zurück. Zudem wurden völkerrechtliche Verpflichtungen zum Teil nur lückenhaft in nationales Recht umgesetzt. Einige Bundesstaaten haben Vorbehalte gegen einige internationale Vereinbarungen geltend gemacht und verhindern regional eine Umsetzung. Selbst in Bundesstaaten, welche grundsätzlich eine Umsetzung befürworten, ist die Durchsetzung garantierter Rechte häufig nicht gewährleistet (AA 16.1.2020).

Die Menschenrechtssituation hat sich seit Amtsantritt einer zivilen Regierung 1999 zum Teil erheblich verbessert (AA 24.5.2019a; vgl. GIZ 9.2020a), vor allem im Hinblick auf die Freilassung politischer Gefangener und die Presse- und Meinungsfreiheit (GIZ 9.2020a). Allerdings kritisieren Menschenrechtsorganisationen den Umgang der Streitkräfte mit Boko Haram-Verdächtigen, der schiitischen Minderheit, Biafra-Aktivisten und Militanten im Nigerdelta. Schwierig bleiben die allgemeinen Lebensbedingungen, die durch Armut, Analphabetismus, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, ein ineffektives Justizwesen und die Scharia-Rechtspraxis im Norden des Landes beeinflusst werden. Die Gleichstellung von Angehörigen sexueller Minderheiten wird gesetzlich verweigert, homosexuelle Handlungen sind mit schweren Strafen belegt (AA 24.5.2019a). Es gibt viele Fragezeichen hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte, wie z.B. die Praxis des Scharia-Rechts (Tod durch Steinigung), Entführungen und Geiselnahmen im Nigerdelta, Misshandlungen und Verletzungen durch Angehörige der nigerianischen Polizei und Armee sowie Verhaftungen von Angehörigen militanter ethnischer Organisationen (GIZ 9.2020a). Zu den schwerwiegendsten Menschenrechtsproblemen gehören zudem u.a. rechtswidrige und willkürliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter und willkürliche Inhaftierung sowie substanzielle Eingriffe in die Rechte auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit (USDOS 11.3.2020).

Die in den Jahren 2000/2001 eingeführten strengen strafrechtlichen Bestimmungen der Scharia in zwölf nördlichen Bundesstaaten führten zu Amputations- und Steinigungsurteilen. Die wenigen Steinigungsurteile wurden jedoch jeweils von einer höheren Instanz aufgehoben; auch Amputationsstrafen wurden in den vergangenen Jahren nicht vollstreckt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Regierung bekennt sich ausdrücklich zum Schutz der Menschenrechte, und diese sind auch in der Verfassung als einklagbar verankert. Dessen ungeachtet bleiben viele Probleme ungelöst, wie etwa Armut, Analphabetentum, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, die Scharia-Rechtspraxis, Entführungen und Geiselnahmen sowie das Problem des Frauen- und Kinderhandels. Daneben ist der Schutz von Leib und Leben der Bürger gegen Willkürhandlungen durch Vertreter der Staatsmacht keineswegs verlässlich gesichert und besteht weitgehend Straflosigkeit bei Verstößen der Sicherheitskräfte und bei Verhaftungen von Angehörigen militanter Organisationen. Das hohe Maß an Korruption auch im Sicherheitsapparat und der Justiz wirkt sich negativ auf die Wahrung der Menschenrechte aus (ÖB 10.2019).

Es setzten sich nigerianische Organisationen wie z.B. CEHRD (Centre for Environment, Human Rights and Development), CURE-NIGERIA (Citizens United for the Rehabilitation of Errants) und HURILAWS (Human Rights Law Services) für die Einhaltung der Menschenrechte in ihrem Land ein. Auch die Gewerkschaftsbewegung Nigeria Labour Congress (NLC) ist im Bereich von Menschenrechtsfragen aktiv (GIZ 9.2020a).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in

der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2

025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschie

berelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29

%2C_16.01.2020.pdf , Zugriff 18.11.2020

• AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt

.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844http://www.auswaertiges-amt.de/DE

/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Nigeria/Innenpolitik_node.html , Zugriff 30.9.2020

• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020a): Nigeria - Geschichte

und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html , Zugriff 30.9.2020

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ec

oi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf , Zugriff 18.11.2020

• USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices

2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 9.4.2020

1.3.7. Relevante Bevölkerungsgruppen: Kinder

Letzte Änderung: 15.06.2020

Die Rechte des Kindes werden in Nigeria nur unzureichend gewährleistet. Der Child Rights Act, mit dem die UN-Kinderrechtskonvention in nationales Recht umgesetzt werden soll, wurde bislang lediglich von 24 (AA 16.1.2020), nach anderen Angaben von 25 der 36 Bundesstaaten ratifiziert (USDOS 11.3.2020). Insbesondere die nördlichen Bundesstaaten sehen in einigen Bestimmungen (Rechte des Kindes gegenüber den eigenen Eltern, Mindestalter für Eheschließungen) einen Verstoß gegen die Scharia (AA 16.1.2020).

Der Child Rights Act sieht bei einer Eheschließung ein Mindestalter von 18 Jahren vor. Vor allem die nördlichen Bundesstaaten halten sich nicht an das offizielle Mindestalter auf Bundesebene (USDOS 11.3.2020). Kinderehen, in denen Mädchen in jungen Jahren mit zumeist älteren Männern verheiratet werden, sind folglich vor allem im Norden des Landes verbreitet. Insgesamt heiraten schätzungsweise 43 Prozent der Mädchen unter 18 Jahren und 17 Prozent unter 15 Jahren (AA 16.1.2020). Im Fall einer Kinderehe ist kein staatlicher Schutz verfügbar, nicht einmal im Süden, wo die Fallzahlen niedriger sind (INGO 9./10.2019).

Mit traditionellen Glaubensvorstellungen verbundene Rituale und der in Bevölkerungsteilen verbreitete Glaube an Kinderhexen, führen zu teils schwersten Menschenrechtsverletzungen (Ausgrenzung, Aussetzung, Mord) an Kindern, insbesondere an Kindern mit Behinderungen

(AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Entsprechende Fälle werden überwiegend aus der südlichen Hälfte Nigerias berichtet, besonders gehäuft aus dem Südosten und den Bundesstaaten Akwa Ibom und Edo (AA 16.1.2020).

Gesetzlich sind die meisten Formen der Zwangsarbeit verboten, auch die von Kindern, und es sind ausreichend harte Strafen vorgesehen. Die Durchsetzung der Gesetze bleibt jedoch in weiten Teilen des Landes ineffektiv. Daher ist Zwangsarbeit – u.a. bei Kindern – weit verbreitet.

Frauen und Mädchen müssen als Hausangestellte, Buben als Straßenverkäufer, Diener, Minenarbeiter, Steinbrecher, Bettler oder in der Landwirtschaft arbeiten (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in

der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

• INGO E - Repräsentantin der internationalen NGO E (9/10.2019): Interview im Rahmen

der FFM Nigeria 2019 ( BFA Staatendokumentation)

• UNICEF - United Nations International Children’s Emergency Fund (o.D.): The situation,

https://www.unicef.org/nigeria/protection.html , Zugriff 21.4.2020

• USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices

2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 20.4.2020

1.3.8. Grundversorgung

Letzte Änderung: 17.11.2020

Nigeria ist die größte Volkswirtschaft Afrikas. Die Erdölproduktion ist der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes. Aufgrund des weltweiten Verfalls der Erdölpreise rutschte Nigeria 2016 jedoch in eine schwere Rezession, die bis zum zweiten Quartal 2017 andauerte (GIZ 6.2020). 2018 wuchs die nigerianische Wirtschaft erstmals wieder um 1,9 Prozent (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Getragen wurde das Wachstum vor allem durch die positive Entwicklung von Teilen des Nicht-Öl-Sektors (Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe). Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des erneuten Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt. Wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein wird, ist bislang noch nicht abschätzbar (GIZ 6.2020). Für 2020 wird aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Nigeria und der drastisch gesunkenen Erdölpreise mit einer Schrumpfung des nigerianischen BIP um 4,4 % gerechnet. In der 2. Jahreshälfte 2020 ist jedoch ein Wiederanziehen der Konjunktur feststellbar und für 2021wird ein Wachstum von 2,2 % erwartet (WKO 14.9.2020).

Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 16.1.2019). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei- und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat – gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 6.2020). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 16.1.2020). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 6.2020). Vor allem im Bereich Stromversorgung und Transport ist die Infrastruktur weiterhin mangelhaft und gilt als ein Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung (AA 24.5.2019c).

Über 60 Prozent (AA 24.5.2019c) bzw. nach anderen Angaben über 70 Prozent (GIZ 6.2020) der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor wird durch die Regierung stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Die unterentwickelte Landwirtschaft ist jedoch nicht in der Lage, den inländischen Nahrungsmittelbedarf zu decken (AA 24.5.2019c). Einerseits ist das Land nicht autark, sondern auf Importe – v.a. von Reis – angewiesen. Andererseits verrotten bis zu 40 Prozent der Ernten wegen fehlender Transportmöglichkeiten (ÖB 10.2019). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt von kleinen Anbauflächen – in der Regel in Subsistenzwirtschaft (AA 24.5.2019c).

Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt. Insgesamt hat sich der Prozentsatz an Unterernährung in den nördlichen Staaten im Vergleich zu 2015 verbessert und liegt nun unter der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen aber weiterhin zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2019). Im Jahr 2019 benötigten von der Gesamtbevölkerung von 13,4 Millionen Menschen, die in den Staaten Borno, Adamawa und Yobe leben, schätzungsweise 7,1 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Davon sind schätzungsweise 80 Prozent Frauen und Kinder (IOM 17.3.2020).

Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2020; vgl. GIZ 9.2020b). 87 Millionen Nigerianer (40 Prozent der Bevölkerung) leben in absoluter Armut, d.h. sie haben weniger als 1 US-Dollar pro Tag zur Verfügung (GIZ 6.2020). 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter1,90 US-Dollar pro Tag (ÖB 10.2019). Die Armut ist in den ländlichen Gebieten größer als in den städtischen Ballungsgebieten (GIZ 9.2020b). Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 6.2020).

Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt (GIZ 9.2020b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent – in erster Linie unter 30-jährige – mit großen regionalen Unterschieden. Die Chancen, einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, staatsnahen Betrieben oder Banken zu finden, sind gering, außer man verfügt über eine europäische Ausbildung und vor allem über Beziehungen (ÖB 10.2019). Verschiedene Programme auf Ebene der Bundesstaaten aber auch der Zentralregierung zielen auf die Steigerung der Jugendbeschäftigung ab (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020).

Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als „self-employed“ suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 9.2020b). Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit.

Eine immer noch geringe Anzahl von Nigerianern (acht Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2020).

Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2019). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2020). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).

Die täglichen Lebenshaltungskosten differieren regional zu stark, um Durchschnittswerte zu berichten. Mietkosten, Zugang zu medizinischer Versorgung und Lebensmittelpreise variieren nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat, sondern auch regional/ethnisch innerhalb jedes Teilstaates (ÖB 10.2019).

Verdienstmöglichkeiten für Rückkehrerinnen: Eine der Berufsmöglichkeiten für Rückkehrerinnen ist die Eröffnung einer mobilen Küche für „peppersoup“, „garri“ oder „pounded yam“, für die man lediglich einen großen Kochtopf und einige Suppenschüsseln benötigt. Die Grundausstattung für eine mobile Küche ist für einen relativ geringen Betrag erhältlich. Hauptsächlich im Norden ist auch der Verkauf von bestimmten Holzstäbchen zur Zahnhygiene eine Möglichkeit, genügend Einkommen zu erlangen. In den Außenbezirken der größeren Städte und im ländlichen Bereich bietet auch „mini-farming“ eine Möglichkeit, selbständig erwerbstätig zu sein.

Schneckenfarmen sind auf 10 m² Grund einfach zu führen und erfordern lediglich entweder das Sammeln der in Nigeria als „bushmeat“ gehandelten Wildschnecken zur Zucht oder den Ankauf einiger Tiere. Ebenso werden nun „grasscutter“ (Bisamratten-ähnliche Kleintiere) gewerbsmäßig in Kleinkäfigen als „bushmeat“ gezüchtet. Großfarmen bieten Tagesseminare zur Aufzucht dieser anspruchslosen und sich rasch vermehrenden Tiere samt Verkauf von Zuchtpaaren an. Rascher Gewinn und gesicherte Abnahme des gezüchteten Nachwuchses sind gegeben. Schnecken und „grasscutter“ finden sich auf jeder Speisekarte einheimischer Lokale.

Für handwerklich geschickte Frauen bietet auch das Einflechten von Kunsthaarteilen auf öffentlichen Märkten eine selbständige Erwerbsmöglichkeit. Für den Verkauf von Wertkarten erhält eine Verkäuferin wiederum pro 1.000 Naira Wert eine Provision von 50 Naira. Weiters werden im ländlichen Bereich Mobiltelefone für Gespräche verliehen; pro Gespräch werden 10 Prozent des Gesprächspreises als Gebühr berechnet (ÖB 10.2019).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in

der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)

• AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019c): Nigeria - Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.d

e/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/wirtschaft/205790 , Zugriff 5.10.2020

• BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.n

et/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf , Zugriff 18.5.2020

• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (6.2020): Wirtschaft &

Entwicklung, https://www.liportal.de/nigeria/wirtschaft-entwicklung/ , Zugriff 5.10.2020

• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020b): Nigeria, Gesellschaft,

https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/ , Zugriff 2.10.2020

• IOM Nigeria - International Organization for Migration (17.3.2020): Emergency Response,

2019 Annual Reports, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/2019_annua

l_report_-_iom_nigeria_emergency_responsefinal.pdf , Zugriff 15.4.2020

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria

• WKO - Wirtschaftskammer Österreich (14.9.2020): Die nigerianische Wirtschaft, https:

//www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-nigerianische-wirtschaft.html , Zugriff

13.10.2020

1.3.9. Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 23.11.2020

Insgesamt kann die Gesundheitsversorgung in Nigeria als mangelhaft bezeichnet werden. Zwischen Arm und Reich sowie zwischen Nord und Süd besteht ein erhebliches Gefälle: Auf dem Land sind die Verhältnisse schlechter als in der Stadt (GIZ 3.2020b); und im Norden des Landes ist die Gesundheitsversorgung besonders prekär (GIZ 9.2020b; vgl. ÖB 10.2019). Die medizinische Versorgung ist vor allem im ländlichen Bereich vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch (AA 7.9.2020). Die Gesundheitsdaten Nigerias gehören zu den schlechtesten in Afrika südlich der Sahara und der Welt (ÖB 10.2019). Mit 29 Todesfällen pro 1.000 Neugeborenen hat Nigeria weltweit die elfthöchste Todesrate bei Neugeborenen (GIZ 9.2020b). Die aktuelle Sterberate für Kinder unter fünf Jahren beträgt 100,2 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten (ÖB 10.2019).

Es gibt sowohl staatliche als auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser (AA 16.1.2020). Rückkehrer finden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor, die im öffentlichen Gesundheitssektor allerdings in der Regel unter europäischem Standard liegt. Der private Sektor bietet hingegen in einigen Krankenhäusern der Maximalversorgung (z.B. in Abuja, Ibadan, Lagos) westlichen Medizinstandard. Nahezu alle, auch komplexe Erkrankungen, können hier kostenpflichtig behandelt werden (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). In größeren Städten ist ein Großteil der staatlichen Krankenhäuser mit Röntgengeräten ausgestattet, in ländlichen Gebieten verfügen nur einige wenige Krankenhäuser über moderne Ausstattung (ÖB 10.2019).

In den letzten Jahren hat sich die medizinische Versorgung in den Haupt- und größeren Städten allerdings sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor deutlich verbessert. So ist mittlerweile insbesondere für Privatzahler eine gute medizinische Versorgung für viele Krankheiten und Notfälle erhältlich. Es sind zunehmend Privatpraxen und -kliniken entstanden, die um zahlungskräftige Kunden konkurrieren. Die Ärzte haben oft langjährige Ausbildungen in Europa und Amerika absolviert und den medizinischen Standard angehoben. In privaten Kliniken können die meisten Krankheiten behandelt werden (AA 16.1.2020).

Stigmatisierung und Missverständnisse über psychische Gesundheit, einschließlich der falschen Wahrnehmung, dass psychische Erkrankungen von bösen Geistern oder übernatürlichen Kräften verursacht werden, veranlassen die Menschen dazu, religiöse oder traditionelle Heiler zu konsultieren; eine Rolle spielt hier auch der Mangel an qualitativ hochwertiger psychiatrischer Versorgung und die unerschwinglichen Kosten (HRW 11.11.2019). Es existiert kein mit westlichen Standards vergleichbares Psychiatriewesen, sondern allenfalls Verwahreinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau. Dort werden Menschen mit psychischen Erkrankungen oft gegen ihren Willen untergebracht, können aber nicht adäquat behandelt werden (AA 16.1.2020). Nigeria verfügt derzeit über weniger als 150 Psychiater (AJ 2.10.2019), nach anderen Angaben sind es derzeit 130 für 200 Millionen Einwohner (Österreich 2011: 20 Psychiater/100.000 Einwohner).

Bei Psychologen ist die Lage noch drastischer, hier kamen im Jahr 2014 auf 100.000 Einwohner 0,02 Psychologen (Österreich 2011: 80 Psychologen/100.000 Einwohner). Aufgrund dieser personellen Situation ist eine regelrechte psychologische/psychiatrische Versorgung für die große Mehrheit nicht möglich, neben einer basalen Medikation werden die stationären Fälle in öffentlichen Einrichtungen im Wesentlichen „aufbewahrt“. Die Auswahl an Psychopharmaka ist aufgrund der mangelnden Nachfrage sehr begrenzt (VAÖB 23.1.2019). Die WHO schätzt, dass weniger als 10 Prozent der Nigerianer jene psychiatrische Behandlung bekommen, die sie brauchen (AJ 2.10.2019; vgl. HRW 11.11.2019).

Nach anderen Angaben gibt es insgesamt für die inzwischen annähernd (VAÖB 23.1.2019) 180-200 Millionen (Punch 22.12.2017: 180 Mio; VAÖB 23.1.2019: 200 Mio) Einwohner 100 Hospitäler mit psychiatrischer Abteilung (VAÖB 23.1.2019). Das in Lagos befindliche Federal Neuro Psychiatric Hospital Yaba bietet sich als erste Anlaufstelle für die Behandlung psychisch kranker Rückkehrer an. Die Kosten für einen Empfang durch ein medizinisches Team direkt am Flughafen belaufen sich auf ca. 195.000 Naira (ca. 570 Euro). Die Behandlungskosten sind jedoch je nach Schwere der Krankheit unterschiedlich. Zudem ist an diesem Krankenhaus auch die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen mit entsprechender Medikation möglich (AA 16.1.2020).

Es gibt eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt. Die meisten Nigerianer arbeiten jedoch als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner im informellen Sektor. Leistungen der Krankenversicherung kommen schätzungsweise nur zehn Prozent der Bevölkerung zugute (AA 16.1.2020). Nur weniger als sieben Millionen (Punch 22.12.2017) der 180-200 Millionen (Punch 22.12.2017: 180 Mio; VAÖB 23.1.2019: 200 Mio) Einwohner Nigerias sind beim National Health Insurance Scheme leistungsberechtigt (Punch 22.12.2017)

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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