TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/10 W265 2209315-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.06.2021
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Entscheidungsdatum

10.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs2
AsylG 2005 §9 Abs2 Z3
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46a Abs1 Z2
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W265 2209315-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.09.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass dieser zu lauten hat:

„Der Ihnen mit Bescheid vom 02.11.2012, Zl. XXXX , zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten wird Ihnen gemäß § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG von Amts wegen aberkannt.“

II. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis IV. wird als unbegründet abgewiesen.

III. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt V. wird stattgegeben und festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 unzulässig ist.

IV. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte VI. bis VII. wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. VERFAHRENSGANG:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 04.08.2012 einen Antrag internationalen Schutz in Österreich. Am 06.08.2012 wurde er vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich erstbefragt.

2. Am 29.10.2012 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesasylamt (nunmehr Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Folge auch belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Er gab dabei im Wesentlichen an, in der Provinz Ghazni in Afghanistan geboren zu sein. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei schiitischer Muslim. Im Alter von acht Jahren sei er mit seinen Eltern in den Iran gezogen. Sein Vater habe nach zwei Jahren gesundheitliche Probleme bekommen und nicht mehr arbeiten können, weshalb er für den Lebensunterhalt der Familie aufgekommen sei und ab dem 10. Lebensjahr gearbeitet habe. Er habe in einem Viehstall gearbeitet und im Iran keine Schule besucht. Seine Eltern würden noch im Iran leben, er habe regelmäßig Kontakt mit ihnen. Nach Österreich sei der Beschwerdeführer hauptsächlich aus gesundheitlichen Gründen gekommen. Vor drei Jahren habe er einen Autounfall gehabt. Er sei im Iran zwar ärztlich versorgt und operiert worden, er habe jedoch kein Geld mehr für die weiteren Operationen gehabt. Krankenhausaufenthalte und Operationen seien im Iran sehr teuer. Zudem sei er illegal im Iran gewesen und habe den Iran wegen der allgemeinen schlechten Situation der afghanischen Flüchtlinge verlassen.

3. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.11.2012 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 02.11.2013 erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend führte das Bundesasylamt zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer über keine Schul- und Berufsausbildung verfüge und Analphabet sei. Die Behörde gehe in seinem Fall aufgrund seines Vorbringens, dass er in Afghanistan über keine familiären Anknüpfungspunkte verfüge und an psychischen Problemen leide, davon aus, dass er im Fall der Rückkehr in eine ausweglose Lage kommen könnte.

Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.

4. Aufgrund eines Antrags des Beschwerdeführers vom 08.10.2013 wurde seine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.11.2013 gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 05.11.2014 erteilt.

Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung habe aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage in seinem Herkunftsstaat in Verbindung mit seinem Vorbringen bzw. seinem Antrag als glaubwürdig gewertet werden können, eine nähere Begründung entfalle gemäß § 58 Abs. 2 AVG.

5. Aufgrund eines Antrags des Beschwerdeführers vom 28.10.2014 wurde seine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.11.2014 gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 06.11.2016 erteilt.

Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung habe aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage in seinem Herkunftsstaat in Verbindung mit seinem Vorbringen bzw. seinem Antrag als glaubwürdig gewertet werden können, eine nähere Begründung entfalle gemäß § 58 Abs. 2 AVG.

6. Aufgrund eines Antrags des Beschwerdeführers vom 16.11.2016 wurde seine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.11.2016 gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 06.11.2018 erteilt.

Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung habe aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage in seinem Herkunftsstaat in Verbindung mit seinem Vorbringen bzw. seinem Antrag als glaubwürdig gewertet werden können, eine nähere Begründung entfalle gemäß § 58 Abs. 2 AVG.

7. Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 08.06.2017, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 160 Tagessätzen à 4,00 EUR (640,00 EUR), davon 80 Tagessätze à 4,00 EUR (320,00 EUR) unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.

8. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 22.02.2018, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der absichtlich schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt.

9. Mit Aktenvermerk vom 12.06.2018 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl betreffend den Beschwerdeführer ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ein.

10. Am 13.06.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Aberkennungsverfahren einvernommen.

11. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.09.2018 wurde der dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 02.11.2012 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und die mit Bescheid vom 21.11.2016 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.) Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 7 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Wesentlichen aus, dass sich die Lage für Rückkehrer nach Afghanistan seit dem Jahr 2012 maßgeblich und nachhaltig verändert habe. Der Beschwerdeführer sei in Österreich operiert und stationär behandelt worden. Mittlerweile sei er gesund und leide an keinen physischen oder psychischen Erkrankungen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er weiterhin ärztliche Behandlung bzw. medizinische Versorgung benötige. Der seinerzeit für die Gewährung subsidiären Schutzes maßgebliche Grund sei zwischenzeitig somit nicht mehr gegeben und ihm sei die Rückkehr in sein Heimatland zuzumuten. Gegen ihn würden zwei Urteile wegen derselben schädlichen Neigung vorliegen. Dem Beschwerdeführer stehe jedenfalls in Herat-Stadt eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Herat sei ausreichend sicher sowie sicher erreichbar. Der Beschwerdeführer sei vom zweiten bis zum zehnten Lebensjahr in Afghanistan und auch sonst in einer afghanisch-stämmigen Familie sozialisiert worden, bekenne sich zum schiitischen Islam, spreche die Landessprache Dari sowie Farsi auf Muttersprachniveau und sei mit den gesellschaftlichen, kulturellen und traditionellen Gegebenheiten vertraut. Er habe in Österreich eine mehrjährige Schulbildung genossen und den Pflichtschulabschluss abgelegt. Der Beschwerdeführer wäre in der Lage, seinen Lebensunterhalt selbstständig und menschenwürdig zu verdienen. Zudem habe er noch Verwandte im Iran (Eltern), welche zweifelsfrei über finanzielle Mittel verfügen würden und ihn somit unterstützen könnten.

12. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 08.11.2018 fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Behörde verkenne, dass er seit seinem 10. Lebensjahr, somit seine komplette Jugend, im Iran aufhältig gewesen sei und mit Afghanistan keine Verbindung habe. Er hätte niemanden in Afghanistan, da seine Familie nach wie vor im Iran lebe, außerdem habe er Afghanistan schon sehr lange nicht mehr betreten, er hätte keine Wohnung, keine finanziellen Mittel, keine Familie und keine Freunde und würde somit sehr wohl in eine ausweglose Situation geraten. Der Beschwerdeführer wäre als alleinstehender junger Mann, der bereits seit über 15 Jahren nicht mehr in Afghanistan gewesen sei, ohne familiäres Netzwerk besonders gefährdet. Zudem würde er sofort aufgrund seiner Sprache, seines Aussehens und seiner Art auffallen. Man würde ihm anmerken, dass er nicht in Afghanistan aufgewachsen sei und sich im Westen aufgehalten habe, er habe mittlerweile einen westlichen Lebensstil angenommen. Der Beschwerdeführer bereue seine Taten sehr. Es tue ihm sehr leid, was passiert sei und er möchte nun ein normales, gesetzestreues Leben führen. Seine Lebensgefährtin wohne seit Februar 2018 bei ihm in der Wohnung und habe ihn regelmäßig in der Justizanstalt besucht und finanziell unterstützt. Er sei am 02.11.2018 aus der Justizanstalt entlassen worden und das Paar könne wieder zusammenwohnen, sie würden eine Eheschließung planen. Mit der Beschwerde wurden Integrationsunterlagen und Länderberichte vorgelegt.

13. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 12.11.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.

14. Mit Eingabe vom 03.02.2020 legte der Beschwerdeführer medizinische Befunde und Integrationsunterlagen vor und urgierte eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts.

15. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der zuvor zuständigen Gerichtsabteilung W167 abgenommen und der Gerichtsabteilung W265 zugewiesen.

16. Mit Eingabe vom 28.04.2021 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einen Anlassbericht des Landeskriminalamts XXXX vom 02.04.2021, wonach der Beschwerdeführer des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 SMG verdächtigt sei, und in Zusammenhang damit die Niederschriften zweier Beschuldigtenvernehmungen.

17. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 18.05.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Lebensumständen, den Aberkennungsgründen sowie zu seinem Privat- und Familienleben befragt wurde. Der Beschwerdeführer legte medizinische Befunde vor. Das Bundesverwaltungsgericht brachte aktuelle Länderberichte in das Verfahren ein und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, dazu eine Stellungnahme abzugeben, der Beschwerdeführer verzichtete in der Verhandlung auf diese Möglichkeit.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Die Verhandlungsniederschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.

18. Mit Eingabe vom 19.05.2021 erstattete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, es sei nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer keine Unterstützungsleistungen von seinen Verwandten/Bekannten erhalten könne, insbesondere sei von Unterstützung durch seinen Vater im Iran und durch seine Bekannten in Deutschland auszugehen. Eine völlige Entwurzelung aus der Kultur und Gesellschaft Afghanistans sei nicht gegeben, da der Beschwerdeführer seine Verlobte unlängst nach islamischen Ritus geheiratet habe und auch in Österreich regelmäßig Kontakt mit afghanisch-stämmigen Personen pflege. Es sei ihm nicht gelungen, ein allfälliges Rückkehrhindernis oder eine wie auch immer geartete persönliche Bedrohung glaubhaft zu machen. Die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative etwa in Herat oder Balkh erscheine mittlerweile jedenfalls zumutbar. Die mittlerweile bestehende Schulbildung und Berufsausübung des Beschwerdeführers, sein deutlich erwachsenes Alter, seine Sozialisierung im Iran inmitten seiner afghanischen Angehörigen in einer „Hazara-Community“, seine Kenntnisse der Landessprachen Dari und Farsi und zu erwartende Unterstützungsmöglichkeiten würden im konkreten Fall dafürsprechen, dass ihm eine Rückkehr nach Afghanistan zugemutet werden könne. Zusammenfassend würden die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten jedenfalls vorliegen, die Erteilung eines Aufenthaltstitels komme nicht in Betracht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. FESTSTELLUNGEN:

Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden weitere Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist Staatsangehöriger Afghanistans, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Dari.

Der Beschwerdeführer wurde im Iran geboren. Im Alter von drei Jahren übersiedelte er mit seinen Eltern in die Provinz Ghazni in Afghanistan. Im Alter von acht oder neun Jahren zog er erneut in den Iran, wo er bis zu seiner Ausreise nach Europa lebte.

Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan und im Iran keine Schule besucht und nicht lesen und schreiben gelernt. Er hat im Iran von seinem 10. Lebensjahr bis zu seiner Ausreise in einem Viehstall gearbeitet, um seine Familie zu versorgen.

Die Eltern des Beschwerdeführers leben nach wie vor im Iran, sein Vater arbeitet dort auf einem Bauernhof. Er hat regelmäßig Kontakt mit ihnen. Er hat keine Geschwister. Bekannte des Beschwerdeführers aus dem Iran leben heute in Deutschland.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer ist seit 2019 mit einer österreichischen Staatsbürgerin nach afghanischem Ritus traditionell verheiratet. Er hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine Hüftprothese rechts und leidet infolge dessen an glutealer Insuffizienz (verminderter Glutealmuskulatur), was sich in einem Hinken äußert. Er ist trotz dieser Leiden grundsätzlich arbeitsfähig.

1.2. Zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten:

Der Beschwerdeführer stellte am 04.08.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Diesem Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.11.2012 betreffend den Status des subsidiär Schutzberechtigten stattgegeben. Dem Beschwerdeführer wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, die mit Bescheiden des Bundesasylamtes und des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl dreimal, zuletzt bis zum 06.11.2018, verlängert wurde.

Dieser Status wurde dem Beschwerdeführer mit dem angefochtenen Bescheid vom 12.09.2018 gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 mit der Begründung aberkannt, dass sich die Lage für Rückkehrer nach Afghanistan seit dem Jahr 2012 maßgeblich und nachhaltig verändert habe. Der Beschwerdeführer sei in Österreich operiert und stationär behandelt worden. Mittlerweile sei er gesund und leide an keinen physischen oder psychischen Erkrankungen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er weiterhin ärztliche Behandlung bzw. medizinische Versorgung benötige. Der seinerzeit für die Gewährung subsidiären Schutzes maßgebliche Grund sei zwischenzeitig somit nicht mehr gegeben und ihm sei die Rückkehr in sein Heimatland zuzumuten. Gegen ihn würden zwei Urteile wegen derselben schädlichen Neigung vorliegen. Dem Beschwerdeführer stehe jedenfalls in Herat-Stadt eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Herat sei ausreichend sicher sowie sicher erreichbar. Der Beschwerdeführer sei vom zweiten bis zum zehnten Lebensjahr in Afghanistan und auch sonst in einer afghanisch-stämmigen Familie sozialisiert worden, bekenne sich zum schiitischen Islam, spreche die Landessprache Dari sowie Farsi auf Muttersprachniveau und sei mit den gesellschaftlichen, kulturellen und traditionellen Gegebenheiten vertraut. Er habe in Österreich eine mehrjährige Schulbildung genossen und den Pflichtschulabschluss bestanden. Der Beschwerdeführer wäre in der Lage, seinen Lebensunterhalt selbstständig und menschenwürdig zu verdienen. Zudem habe er noch Verwandte im Iran (Eltern), welche zweifelsfrei über finanzielle Mittel verfügen würden und ihn somit unterstützen könnten.

Aus den genannten Gründen sei ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 spruchgemäß abzuerkennen. Zusätzlich wurde die dem Beschwerdeführer erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung entzogen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist. Auch wurde die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein Einreiseverbot in der Dauer von 7 Jahren erlassen.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 08.06.2017, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 160 Tagessätzen à 4,00 EUR (640,00 EUR), davon 80 Tagessätze à 4,00 EUR (320,00 EUR) unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 22.02.2018, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der absichtlich schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Dieser Verurteilung lag im Wesentlichen zugrunde, dass der Beschwerdeführer am 29.10.2017 einem anderen absichtlich eine schwere Körperverletzung zugefügt hat, indem er ihn mit einem Messer mit einer Klingenlänge von ca. 15 cm attackierte und ihm einen Messerstich in den Rücken versetze, wodurch der andere eine bis in den linken Lungenflügel führende Stichverletzung, mithin eine an sich schwere Verletzung, erlitt, und er ihm auch eine Schnittverletzung am rechten Daumen zufügte, die genäht werden musste. Als mildernd wurden die geständige Verantwortung und die verminderte Dispositions- und Diskretionsfähigkeit aufgrund von Alkoholeinfluss sowie im Rahmen der allgemeinen Strafbemessung des § 32 StGB die vorangegangene Belästigung der Freundin des Beschwerdeführers durch das Opfer gewertet, als erschwerend die einschlägige Vorstrafe, die Begehung während anhängigen Verfahrens und die absichtliche Begehung unter Einsatz einer Waffe gewertet.

Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der aktuellen Lage in seiner Herkunftsprovinz Ghazni bzw. in Mazar-e Sharif und Herat kann nicht festgestellt werden, dass sich die Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.11.2012 geführt haben bzw. der letztmaligen Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.11.2016 zugrunde lagen, wesentlich und nicht nur vorübergehend gebessert haben. Eine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts ist somit weder im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Beschwerdeführers noch in Bezug auf die allgemeine Lage in Afghanistan eingetreten. Die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 liegen weiterhin vor.

Es liegt jedoch der Aberkennungsgrund nach § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 vor. Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers würde eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen.

1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und war seit seiner Antragstellung am 04.08.2012 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 bzw. seit 02.11.2012 aufgrund einer befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig.

Er hat in Österreich diverse Deutschkurse besucht und an Integrationsveranstaltungen teilgenommen. 2016 hat er die Pflichtschulabschlussprüfung bestanden.

Der Beschwerdeführer war von April bis Oktober 2019 als Lagerarbeiter bei der XXXX GmbH beschäftigt. Derzeit ist er nicht erwerbstätig und bezieht Notstandshilfe.

Der Beschwerdeführer führt seit ca. fünf Jahren eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin, mit der er seit 2018 in einem gemeinsamen Haushalt lebt und seit 2019 nach afghanischem Ritus traditionell verheiratet ist. Davon abgesehen hat er in Österreich keine Familienangehörigen oder vergleichbar enge soziale Kontakte.

Der Beschwerdeführer wurde in Österreich zweimal strafgerichtlich verurteilt (siehe bereits Punkt 1.2.). Er befand sich von 03.11.2017 bis 03.11.2018 in Untersuchungs- und Strafhaft.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 01.04.2021 (LIB), in den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR) und den EASO-Leitlinien zu Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.4.1.  Allgemeine Lage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

1.4.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (LIB, Kapitel 4).

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind (LIB, Kapitel 4).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht. Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (LIB, Kapitel 5).

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15 % (21 % laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Kapitel 5).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 5).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (LIB, Kapitel 5)

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wiederaufgenommen worden (LIB, Kapitel 4)

1.4.1.2. Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf verschiedene Lebensbereiche

Entwicklung der COVID-19-Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (LIB, Kapitel 3).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (LIB, Kapitel 3).

Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (LIB Kapitel 3).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (LIB, Kapitel 3).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (LIB, Kapitel 3).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert – diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (LIB, Kapitel 3).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (LIB, Kapitel 3).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (LIB, Kapitel 3).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20 % der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde. Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20 % der Bevölkerung finanzieren würden (LIB, Kapitel 3).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Die Regierung kündigte an, 60 % der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (LIB, Kapitel 3).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 300-500 Afghani (AFN) (das sind 3,9 bis 6,5 USD) (LIB, Kapitel 3).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Bei etwa 8 % der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (LIB, Kapitel 3).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (LIB, Kapitel 3).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10 % der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (LIB, Kapitel 3).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30 %) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35 %) haben (LIB, Kapitel 3).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei. Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17 % stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31 % gestiegen sind. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (LIB, Kapitel 3).

Die COVID-19-Krise führte zu einem deutlichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit und einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise. In städtischen Gebieten werden die geringere Verfügbarkeit von Einkommensmöglichkeiten während des Winters, unterdurchschnittliche Rücküberweisungen und überdurchschnittliche Nahrungsmittelpreise wahrscheinlich den Zugang zu Nahrung und Einkommen für viele arme Haushalte einschränken, wobei während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 ohne Hilfe eine Bewertung mit IPC Stufe 3 („Crisis“) erwartet wird. Wenn die Umsetzung des COVID-19-Hilfsprogramms voranschreitet, werden sich die Haushalte, welche humanitäre Hilfe erhalten, wahrscheinlich auf IPC Stufe 2 („Stressed“) verbessern, bis sie die Hilfe ausschöpfen. Die meisten ländlichen Gebiete haben IPC Stufe 2 („Stressed“), und es wurde erwartet, dass dies während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 bestehen bleibt. (LIB, Kapitel 23).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 % über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (LIB, Kapitel 3).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (LIB, Kapitel 3).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40 % steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84 % der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98 % im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, Kapitel 3).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (LIB, Kapitel 3).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9 % gestiegen, gegenüber 23,9 % im Jahr 2019 (LIB, Kapitel 3).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (LIB, Kapitel 3).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19-Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen, und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden. In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen. Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden. Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen. Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (LIB, Kapitel 3).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19-Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt, wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind. Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (LIB, Kapitel 3).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 3).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an. Von 01.01.2020 bis 22.09.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit Stand 18.03.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (LIB, Kapitel 3).

1.4.1.3 Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

Taliban:

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt, und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen. Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können. Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist. Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran. Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (LIB, Kapitel 6.1).

Haqqani-Netzwerk:

Das formell 1996 gegründete Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Es verfügt über Kontakte zum IS/ISKP. Als von den US-Truppen und der afghanischen Armee als „tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan“ bzw. „gefährlichster“ Arm der Taliban bezeichnet, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht. Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika, Helmand, Kandahar und Khost sowie in Paktia und Teilen Ghaznis aktiv (LIB, Kapitel 6.2).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück. Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban. Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfer reduziert (LIB, Kapitel 6.3).

Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck, da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region. Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen, wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. (LIB, Kapitel 6.3).

Angriffe des ISKP gingen zurück, aber die Gruppe war für mehrere tödliche Bombenanschläge verantwortlich. Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB; Kapitel 6.3).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen. Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB, Kapitel 6.3).

Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche. Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al-Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen (LIB, Kapitel 6.3).

Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen

Gemäß UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in 12 Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv. Al-Qaida unterhält Beziehungen zu den Taliban und eine begrenzte Präsenz in Afghanistan, wobei sie ihre Aktivitäten meist unter dem Dach anderer AGEs, insbesondere der Taliban, durchführt. Nach Ansicht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen stellen Al-Qaida und andere ausländische Terroristen, die unter dem Schutz und Einfluss der Taliban stehen, eine langfristige globale Bedrohung dar. Während in der Vergangenheit beide Gruppierungen immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten, bestritten die Taliban kürzlich, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert. Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (LIB, Kapitel 6.4).

Im Oktober 2020 wurde der ranghohe Al-Qaida-Chef Abu Muhsin al-Masri von einer Spezialeinheit der afghanischen Streitkräfte in Ghazni in einem Dorf, welches unter Talibankontrolle steht, getötet. Die afghanische Regierung sieht darin einen eindeutigen Beweis, dass die Taliban ungeachtet der laufenden Friedensverhandlungen nach wie vor enge Beziehungen zu Terrorgruppen pflegen, und nach Angaben der Vereinten Nationen ist Al-Qaida immer noch stark in die Taliban in Afghanistan eingebettet. Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen LIB, Kapitel 6.4).

1.4.1.4. Herkunftsprovinz Ghazni

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans und grenzt an die Provinzen Bamyan und Wardak im Norden, Logar, Paktya und Paktika im Osten, Zabul im Süden und Uruzgan und Daykundi im Westen. Ghazni liegt an keiner internationalen Grenze. Die Provinz ist in 19 Distrikte unterteilt: die Provinzhauptstadt Ghazni-Stadt sowie die Distrikte Ab Band, Ajristan, Andar (auch Shelgar genannt), Deh Yak, Gelan, Giro, Jaghatu, Jaghuri, Khwaja Omari, Malistan, Muqur, Nawa, Nawur, Qara Bagh, Rashidan, Waghaz, Wali Muhammad Shahid (Khugyani) und Zanakhan. Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Ghazni im Zeitraum 2020-21 auf 1.362.504 Personen. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte Hazara und rund 5% Tadschiken, weiters gibt es kleinere Gruppen wie die Bayats und Sadats. In der Vergangenheit lebten mehrere hundert Sikh-Familien in der Stadt Ghazni. Inzwischen haben sie Ghazni weitgehend verlassen, wobei ein letzter Sikh-Bewohner der Stadt betonte, dass seine Gemeinde von den paschtunischen, tadschikischen oder Hazara-Bewohnern von Ghazni nicht verfolgt worden sei, aber die Angst, Ziel von Angriffen militanter Islamisten zu werden oder von Kriminellen entführt zu werden, sie zum Verlassen des Landes veranlasst habe (LIB, Kapitel 5.10).

Die Stadt Ghazni liegt an der Ring Road, welche die Hauptstadt Kabul mit dem großen Ballungszentrum Kandahar im Süden verbindet, und auch die Straße zu Paktikas Hauptstadt Sharan zweigt in der Stadt Ghazni von der Ring Road ab, die Straße nach Paktyas Hauptstadt Gardez dagegen etwas nördlich der Stadt. Die Kontrolle über Ghazni ist daher von strategischer Bedeutung. Im September 2020 waren die Hauptstraßen, die Kabul mit Ghazni, Kabul mit Bamyan, Ghazni mit Kandahar und Ghazni mit Paktika verbinden, nach wie vor unsicher, da die Zusammenstöße zwischen den Regierungskräften und Aufständischen andauerten, was die zivilen Bewegungen weiterhin beeinträchtigte. Die Taliban unterhalten entlang der Ring Road in Ghazni Berichten zufolge Straßenkontrollen (LIB, Kapitel 5.10).

Ghazni gehörte im August 2020 zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Im Juli 2020 gaben Bewohner von Ghazni an, dass Taliban-Kämpfer bis in die Nähe des Sicherheitsgürtels um die Stadt Ghazni vorgedrungen seien und die Straßen zur Provinzhauptstadt blockiert hätten. Das Long War Journal schätzte im Oktober 2020 die Distrikte Ajristan, Andar, Deh Yak, Giro, Jaghatu, Nawa, Nawur, Rashidan, Waghaz, Wali M. Shahid, und Zanakhan als unter Talibankontrolle stehend ein, während Ab Band, Gelan, Ghazni-Stadt, Jaghuri, Khwaja Omari, Malistan, Muqur und Qara Bagh als umkämpft galten. Eine andere Quelle gab im August 2020 an, dass Andar, Deh Yak, Muqur und Qara Bagh stark umkämpft oder von den Taliban kontrolliert seien. Einem UN-Bericht zufolge ist Al-Qaida in zwölf afghanischen Provinzen verdeckt aktiv, darunter auch in Ghazni (LIB, Kapitel 5.10).

Auf Regierungsseite befindet sich Ghazni im Verantwortungsbereich des 203. Afghan National Army (ANA) „Tandar“ Corps, das der Task Force Southeast untersteht, die von US-amerikanischen Streitkräften geleitet wird (LIB, Kapitel 5.10).

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 418 zivile Opfer (183 Tote und 235 Verletzte) in der Provinz Ghazni. Dies entspricht einem Rückgang von 38 % gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, lEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 5.10).

1.4.1.5. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Ki

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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