RS Vfgh 2021/6/24 V87/2021

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Veröffentlicht am 24.06.2021
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verordnung
B-VG Art56
B-VG Art139 Abs1 Z3
EMRK Art8
EMRK 4. ZP Art2
EU-Grundrechte-Charta Art3
StGG Art2
StGG Art4
EpidemieG 1950 §24
COVID-19-VirusvariantenV BGBl II 63/2021 idF BGBl II 98/2021
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Kein Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit sowie die gesetzliche Grundlage des §24 EpidemieG 1950 durch die COVID-19-VirusvariantenV betreffend das Verbot des Verlassens von Teilen Tirols ab Februar 2021 wegen der dort verbreiteten (Südafrikanischen) COVID-19-Virusvariante B.1.351; hinreichende Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen zum jeweiligen Erlassungszeitpunkt; Verkehrsbeschränkung zur Verhinderung der Verbreitung der Virusvariante im Bundesgebiet "unbedingt erforderlich"; Sachlichkeit und Verhältnismäßigkeit der – keinen schwerwiegenden Eingriff darstellenden – Testpflicht auch für Personen mit Antikörpern für das Ausreisen aus dem Landesgebiet bei unbeschränkter Bewegungsfreiheit in Tirol; keine Verletzung im Recht auf Privatleben durch die mit dem Test verbundene Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit zum Schutz der Gesundheit anderer Personen

Rechtssatz

Abweisung eines Individualantrags auf Aufhebung der COVID-19-Virusvariantenverordnung - COVID-19-VvV, BGBl II 63/2021 idF (BGBl II 85/2021 sowie - der Antragsteller hat die Norm hinreichend genau bezeichnet) BGBl II 98/2021, zur Gänze.

Die angefochtene Verordnung ist zwar mit Ablauf des 10.03.2021 außer Kraft getreten. Vor dem Hintergrund der Rsp des VfGH greifen die angefochtenen Verordnungsbestimmungen dennoch unmittelbar in die Rechtssphäre des Antragstellers ein und beeinträchtigen seine rechtlich geschützten Interessen auch noch aktuell. Der (Haupt-)Antrag auf Aufhebung der gesamten Verordnung erweist sich als zulässig. Eine isolierte Anfechtung einer einzelnen Bestimmung ist nicht möglich. Die Verordnung enthält nämlich nicht mehrere voneinander trennbare Tatbestände und die Bedenken des Antragstellers beziehen sich auf sämtliche (wesentliche) Bestimmungen der Verordnung, weswegen die Anfechtung der gesamten Verordnung zulässig ist. Dem Antragsteller steht auch kein anderer zumutbarer Weg zur Verfügung, weil dem Antragsteller im Fall des Zuwiderhandelns gegen die angefochtenen Bestimmungen eine Verwaltungsstrafe nach §40 EpiG droht.

Mit der angefochtenen COVID-19-Virusvariantenverordnung sah der gemäß §43a Abs1 EpiG zuständige Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz mit Wirkung ab 12.02.2021 bis zum 10.03.2021 eine Beschränkung der Ausreise aus dem Bundesland Tirol vor. Gemäß §2 COVID-19-VvV durften Personen, die sich im Bundesland Tirol mit Ausnahme des politischen Bezirks Lienz, der Gemeinde Jungholz sowie des Rißtals im Gemeindegebiet von Vomp und Eben am Achensee aufhielten, die Grenzen dieses Gebietes nur dann überschreiten, wenn sie einen Nachweis über ein negatives Ergebnis eines Antigen-Tests oder eines molekularbiologischen Tests auf COVID-19 (bezeichnet als "SARS-CoV-2"), deren Abnahme nicht mehr als 48 Stunden zurückliegen durfte, mit sich führten. §3 COVID-19-VvV sah für die Pflicht zur Vorlage eines solchen Nachweises für die Ausreise aus Tirol bestimmte Ausnahmen vor.

Kein Verstoß der angefochtenen Verordnung gegen das Recht auf Freizügigkeit sowie gegen die gesetzliche Grundlage der Verordnung gemäß §24 EpiG idF BGBl I 33/2021:

Verkehrsbeschränkungen dürfen zum Schutz vor der (Weiter-)Verbreitung einer meldepflichtigen Krankheit nur vorgesehen werden, soweit sie im Hinblick auf Art und Umfang des Auftretens der Krankheit "unbedingt erforderlich" sind. Die Frage, ob die angefochtenen Verordnungsbestimmungen ihre gesetzliche Grundlage in §24 EpiG idF BGBl I 33/2021 finden, ist somit auch im Lichte des Art4 Abs1 StGG und Art2 4. ZPEMRK zu beurteilen.

Mit der (auf §1 Abs2 EpiG gestützten) Verordnung des Bundeministers wurde festgelegt, dass "Verdachts-, Erkrankungs- und Todesfälle an 2019-nCoV ('2019 neuartiges Coronavirus')" der Anzeigepflicht nach dem Epidemiegesetz 1950 unterliegen. Für den VfGH steht zunächst zweifelsfrei fest, dass die Erweiterung des Kataloges der meldepflichtigen Krankheiten in §1 EpiG eine Reaktion des Verordnungsgebers auf das Auftreten des neuartigen Virus COVID-19 (zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung mit der Bezeichnung "2019-nCoV") war. Die Erweiterung der in §1 EpiG aufgelisteten meldepflichtigen Krankheiten hatte die Bekämpfung und Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der neuartigen COVID-19-Krankheit zum Ziel.

Die Bezeichnung "SARS-CoV-2" ist lediglich eine spätere, von der World Health Organisation bekannt gegebene, andere Bezeichnung des neuartigen Virus COVID-19 gewesen. Bei den in Rede stehenden Virusvarianten von COVID-19 handelt es sich um neue, später aufgetretene Mutationen der neuartigen COVID-19-Krankheit. Da es sich bei den Mutationen von COVID-19 nicht um eigenständige, sondern um von der Bezeichnung "2019-nCoV" umfasste Krankheiten handelt, stellt auch die in Rede stehende COVID-19-Virusvariante B.1.351 eine meldepflichtige Krankheit iSd §24 iVm §1 EpiG idF BGBl I 33/2021 dar.

Der Bundesminister ist bei der Erlassung der COVID-19-Virusvariantenverordnung seiner Dokumentationspflicht nachgekommen.

Die Erhebungen im Verordnungsakt belegen (entgegen der Behauptung des Antragstellers) nachweislich, dass sich die COVID-19-Virusvariante B.1.351 besonders stark im Bundesland Tirol (mit Ausnahme bestimmter Regionen) verbreitete. Vor diesem Hintergrund ist dem Bundesminister nicht entgegenzutreten, wenn er die zeitlich befristete Ausreisebeschränkung durch Verlangen des gültigen Nachweises eines negativen Testergebnisses auf COVID-19 beim Verlassen der in §1 COVID-19-VvV genannten Gebiete iSd §24 EpiG idF BGBl I 33/2021 für "unbedingt erforderlich" erachtete.

Nach Auffassung des VfGH hat die verordnungserlassende Behörde eine evidenzbasierte Prüfung und Abwägung der in Aussicht genommenen Regelungen mit den dadurch bewirkten Grundrechtsbeschränkungen vorgenommen. Unter Berücksichtigung der im Verordnungsakt dargelegten Informationen bezüglich der mit hoher Wahrscheinlichkeit bestehenden Gefahr einer rascheren (Weiter-)Verbreitung der COVID-19-Virusvariante B.1.351 im Bundesgebiet hat die verordnungserlassende Behörde nachvollziehbar und auch hinreichend dargelegt, dass die Verfügung einer Verkehrsbeschränkung bei der Ausreise aus den in §1 COVID-19-VvV aufgelisteten Epidemiegebieten "unbedingt erforderlich" (§24 EpiG idF BGBl I 33/2021) war.

Die in §2 COVID-19-VvV normierten Bedingungen für die Überschreitung der Grenzen des Epidemiegebietes sahen auch keine zwangsweise (gegen den Willen der im Epidemiegebiet befindlichen Personen) Durchführung eines Antigen- oder molekularbiologischen Tests auf COVID-19 vor. Die "Testpflicht" war vielmehr das im Rahmen des §24 EpiG idF BGBl I 33/2021 verhältnismäßige Mittel, um einerseits die Ausreise aus dem Epidemiegebiet zu ermöglichen, andererseits aber die (Weiter-)Verbreitung der COVID-19-Virusvariante B.1.351 zu unterbinden. Der Bundesminister hat mit Verordnung über die Einreise nach Österreich im Zusammenhang mit COVID-19 vergleichbare Regelungen für Personen geschaffen, die aus Risikostaaten in das Bundesgebiet einreisen wollten.

Die angefochtene Verordnung verstößt somit nicht gegen den im Lichte der Anforderungen des Art4 Abs1 StGG und Art2 4. ZPEMRK zu verstehenden §24 EpiG idF BGBl I 33/2021. Die Verkehrsbeschränkung bei der Ausreise aus dem Bundesland Tirol (bzw Teilen davon) dient dem Ziel des Gesundheitsschutzes, nämlich der Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung von COVID-19 (bzw der COVID-19-Virusvariante B.1.351), iSd Art2 Abs3 4. ZPEMRK. Der in §2 COVID-19-VvV für die Überschreitung der Grenzen des Bundeslandes Tirol (bzw Teilen davon) verlangte Nachweis eines negativen Ergebnisses eines Antigen-Tests oder eines molekularbiologischen Tests im Hinblick auf COVID-19, der nicht mehr als 48 Stunden zurückliegen darf, ist zur Erreichung dieses Zieles geeignet: Der VfGH geht davon aus, dass der in §2 COVID-19-VvV verlangte Nachweis des Infektionsstatus anhand eines hinreichend aktuellen Testergebnisses einer hiezu befugten Stelle (§5 COVID-19-VvV) ein geeignetes Mittel ist, um die Ausreise von mit COVID-19 infizierten Personen hintanzuhalten und damit die (Weiter-)Verbreitung des Virus einzudämmen.

Im Verordnungsakt ist nachvollziehbar und hinreichend dokumentiert, dass zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung und während der Geltungsdauer der angefochtenen COVID-19-Virusvariantenverordnung von einem erhöhten Auftreten der COVID-19-Virusvariante B.1.351 im Bundesland Tirol (bzw in Teilen desselben) auszugehen war. Die mit der "Testpflicht" für die Ausreise gemäß §2 COVID-19-VvV verbundene Einschränkung der Freizügigkeit der im umfassten Gebiet wohnhaften bzw aufhältigen Personen ist im Lichte des verfolgten Zieles der Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung dieser Virusvariante verhältnismäßig. Zunächst handelt es sich bei der in §2 COVID-19-VvV vorgesehenen Verpflichtung zum Nachweis eines negativen Testergebnisses auf COVID-19 bei der Ausreise aus dem Bundesland Tirol um keinen schwerwiegenden Eingriff in Art4 Abs1 StGG und Art2 Abs1 4. ZPEMRK, zumal die Bewegungsfreiheit für Bewohner bzw Aufhältige innerhalb Tirols von der Ausreisebeschränkung unberührt blieb. Der gemäß §2 COVID-19-VvV für die Ausreise verlangte Nachweis eines negativen Antigen- bzw molekularbiologischen Testergebnisses auf COVID-19 ist im Hinblick auf die Verfügbarkeit solcher Tests, die angewendeten (Test-)Verfahren, die Dauer der Gültigkeit des Nachweises über das negative Testergebnis und die Ausnahmetatbestände in §3 COVID-19-VvV gerechtfertigt. Hiebei ist zu berücksichtigen, dass der Bundesminister die angefochtene Verkehrsbeschränkung anhand der Entwicklung der Infektionszahlen in regelmäßigen Abständen evaluierte und die Notwendigkeit der Verkehrsbeschränkung während des Geltungszeitraumes der Verordnung laufend überprüfte.

Ausgehend von den im Verordnungsakt dokumentierten Entscheidungsgrundlagen und festgestellten Tatsachen erweist sich die Verhängung der zeitlich befristeten Ausreisebeschränkung zum Schutz vor der Weiterverbreitung von COVID-19 bzw der COVID-19-Virusvariante B.1.351 zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung und während der Geltungsdauer der angefochtenen Verordnungsbestimmungen als verhältnismäßige Verkehrsbeschränkung iSd §24 EpiG idF BGBl I 33/2021.

Kein Verstoß gegen das Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz:

Wie aus den vorgelegten Verordnungsakten hervorgeht und wie der Bundesminister in seiner Äußerung darlegt, wurde die angefochtene Verordnung mit dem Ziel der Verhinderung einer (Weiter-)Verbreitung der COVID-19-Virusvariante B.1.351 erlassen. Der Bundesminister konnte mit Blick auf die im Verordnungsakt dokumentierten Entscheidungsgrundlagen, zu denen mehrere fachliche Studien zählten, in der damaligen Situation davon ausgehen, dass der Schutz durch neutralisierende Antikörper bei der COVID-19-Virusvariante B.1.351 geschmälert sein könnte und eine Reinfektion mit dem Virus möglich wäre. In diesem Zusammenhang weist der Bundesminister nachvollziehbar darauf hin, dass im Hinblick auf die COVID-19-Virusvariante B.1.351 von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Reinfektionen auszugehen war. Die zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung verfügbaren, im Verordnungsakt dokumentierten Daten und Studien hätten vermuten lassen, dass der Schutz durch neutralisierende Antikörper gegen COVID-19 (in Folge einer durchgemachten Infektion oder Impfung) bei der COVID-19-Virusvariante B.1.351 reduziert sein könne. Der reduzierte Schutz durch gebildete Antikörper im Hinblick auf die COVID-19-Virusvariante B.1.351 könne die Wirksamkeit der Impfung schmälern und zu Reinfektionen führen. Bei Personen, die Antikörper gegen COVID-19 in einer ausreichenden Konzentration aufwiesen, könne im Hinblick auf die COVID-19-Virusvariante B.1.351 nicht von einer "niedrigeren epidemiologischen Gefahr" ausgegangen werden.

Keine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit:

Ungeachtet der Frage, ob der Anwendungsbereich des Art3 GRC im konkreten Fall überhaupt eröffnet ist, ist dem Vorbringen des Antragstellers (auch im Hinblick auf Art8 EMRK) bereits deshalb nicht zu folgen, weil die mit einem Antigen- bzw molekularbiologischen Test auf COVID-19 in der Regel verbundene Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit im Hinblick auf das verfolgte Ziel gerechtfertigt ist. Der Verordnungsgeber verhängte die angefochtene "Testpflicht" bei der Ausreise aus dem Bundesland Tirol (bzw Teilen davon) zum Schutz der Gesundheit anderer, in concreto zum Schutz vor einer Infektion mit COVID-19 bzw der COVID-19-Virusvariante B.1.351. Nach Ansicht des VfGH überwiegt der Gesundheitsschutz die seitens des Antragstellers unter Art3 GRC ins Treffen geführten Interessen.

Kein Verstoß gegen Art56 B-VG:

Im verlangten Nachweis eines gültigen negativen Testergebnisses im Hinblick auf COVID-19 für die Ausreise aus dem Bundesland Tirol (bzw Teilen davon) vermag der VfGH - auch im Hinblick auf die Zumutbarkeit des vorgesehenen Test(verfahren)s - keinen Verstoß gegen Art56 Abs1 B-VG zu sehen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

COVID (Corona), Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, VfGH / Prüfungsumfang, Privat- und Familienleben, Verhältnismäßigkeit, Recht auf Freizügigkeit, Rechtsschutz, Rechtsstaatsprinzip, VfGH / Individualantrag, Mandat freies

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:V87.2021

Zuletzt aktualisiert am

31.08.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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