TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/17 W235 2173791-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.12.2020
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Entscheidungsdatum

17.12.2020

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §61 Abs1 Z1
FPG §61 Abs2
FPG §61 Abs3
FPG §61 Abs4
IntG §10 Abs2
IntG §9 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W235 2173791-1/60E

W235 2173788-1/55E

W235 2173795-1/56E

W235 2173784-1/56E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Maga. Sabine MEHLGARTEN-LINTNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. mj. XXXX , geb. XXXX , 3. mj. XXXX , geb. XXXX , und 4. mj. XXXX , geb. XXXX , 2., 3. und 4. gesetzlich vertreten durch: XXXX , alle: StA. Syrien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.09.2017, Zl. 1137600809-161691235 (ad 1.), Zl. 1137601109-161663407 (ad 2.), Zl. 1137601207-161663423 (ad 3.) und Zl. 1137601403-161663458 (ad 4.) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.10.2020 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und festgestellt, dass die Anordnungen der Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 FPG iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sind.

XXXX wird gemäß § 54 Abs. 1 Z 2 und § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

Mj. XXXX , mj. XXXX und mj. XXXX wird eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 und § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG erteilt.

B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Die zum Antragszeitpunkt minderjährige, zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt volljährige Erstbeschwerdeführerin und die minderjährigen Zweit- bis Viertbeschwerdeführer sind Geschwister. Alle vier Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Syrien kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit, die unbegleitet in das österreichische Bundesgebiet einreisten und am 16.12.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.

1.2. Am Tag der Antragstellung wurden die (damals) minderjährigen Erst- bis Viertbeschwerdeführer in Anwesenheit einer Rechtsberaterin als gesetzliche Vertreterin einer Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes unterzogen. Verfahrenswesentlich gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie gemeinsam mit ihren minderjährigen Geschwistern (Zweit- bis Viertbeschwerdeführer) nach Österreich gereist sei. Ihr Vater lebe seit ca. vier Jahren in XXXX [gemeint: XXXX ] in Italien und ihre Mutter sei entweder in Italien oder in der Schweiz aufhältig. Die Beschwerdeführer würden nicht nach Italien zurückwollen, da dort ihr gewalttätiger Vater aufhältig sei.

Im Akt der Erstbeschwerdeführerin finden sich Unterlagen aus Italien betreffend eine Asylgewährung an alle vier Beschwerdeführer und an ihre Eltern. Weiters findet sich ein E-Mail der Bezirkshauptmannschaft XXXX , Abteilung Kinder- und Jugendhilfe, an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 12.12.2016, in welchem bekannt gegeben wurde, dass die minderjährigen Beschwerdeführer zuletzt mit ihrer Mutter in Liechtenstein gelebt hätten. Um einer Überstellung nach Italien zu entgehen, habe die Mutter der Beschwerdeführer diese in einen Bus gesetzt und mit dem Auftrag, in Österreich um Asyl anzusuchen, alleine nach XXXX fahren lassen. Einem weiteren E-Mail der Bezirkshauptmannschaft XXXX an das Bundesamt vom 22.12.2016 ist zu entnehmen, dass die Rückkehr nach Italien von den Beschwerdeführern nicht gewünscht werde.

1.3. Im Zuge des Konsultationsverfahrens nach den Bestimmungen der Dublin III-VO gab die italienische Dublinbehörde mit Schreiben vom 24.01.2017 betreffend die Beschwerdeführer bekannt, dass deren Mutter der Status einer Asylberechtigten zuerkannt und eine Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX .06.2021 erteilt worden sei. Daher hätten auch die Erst- bis Viertbeschwerdeführer in Italien den Status von Asylberechtigten erlangt.

1.4. Am 24.02.2017 stellte nunmehr auch die Mutter der Beschwerdeführer nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz, wobei sie ihren italienischen Konventionsreisepass, ausgestellt am XXXX .07.2014, mit sich führte.

Im Zuge der Erstbefragung in ihrem eigenen Asylverfahren gab die Mutter der Beschwerdeführer an, dass in Österreich ihre vier Kinder (= Erst- bis Viertbeschwerdeführer) leben würden. Sie habe die Erst- bis Viertbeschwerdeführer alleine nach Österreich geschickt, da die Asylbehörde von Liechtenstein alle Fünf nach Italien habe schicken wollen. Sie habe der Erstbeschwerdeführerin gesagt, sie sollten in Österreich um Asyl ansuchen.

1.5. Am 04.04.2017 wurden die Erstbeschwerdeführerin und ihre Mutter vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen und brachte die Erstbeschwerdeführerin hierbei vor, dass sie, ihre Geschwister und ihre Mutter in Italien asylberechtigt seien. In einer ergänzenden Einvernahme vom XXXX .08.2017 gab sie an, dass sich ihre Mutter nunmehr in der Schweiz aufhalte. Sie habe gestern mit ihr telefoniert, habe sie jedoch schon seit Monaten nicht gesehen.

2. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.09.2017 wurden die Anträge aller vier Beschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß § 4a AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass sich die Beschwerdeführer nach Italien zurückzubegeben haben (Spruchpunkte I.). Unter den jeweiligen Spruchpunkten II. der angefochtenen Bescheide wurde den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt sowie gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen sie die Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG angeordnet und festgestellt, dass demzufolge ihre Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig ist.

Begründend wurde (verfahrenswesentlich) ausgeführt, da im Fall der Beschwerdeführer für sämtliche Familienangehörige eine Zuständigkeit Italiens festgestellt worden sei, scheide ein Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Familienleben von vornherein aus. Betreffend das Privatleben der Beschwerdeführer in Österreich sei festzuhalten, dass die Dauer des Aufenthalts zu kurz sei, um einen Eingriff in das Recht auf Privatleben annehmen zu können. Es sei daher davon auszugehen, dass die Anordnungen zur Außerlandesbringung nicht zu einer relevanten Verletzung von Art. 8 EMRK führe und die Zurückweisungsentscheidungen daher unter diesem Aspekt zulässig seien. Da den Beschwerdeführern Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt worden seien und gemäß § 10 Abs. 1 AsylG sowie gemäß § 9 BFA-VG keine Verletzung von Art. 8 EMRK ersichtlich sei, sei diese Entscheidung mit einer Anordnung zur Außerlandesbringung zu verbinden. Eine Anordnung zur Außerlandesbringung habe gemäß § 61 Abs. 2 FPG zur Folge, dass die Abschiebung in den Zielstaat zulässig sei.

Im Verfahren der Mutter der Beschwerdeführer wurde ein inhaltlich gleichlautender Bescheid erlassen, wobei in diesem zusätzlich angeführt wurde, dass die Mutter der Beschwerdeführer Österreich im Mai 2017 verlassen habe und in die Schweiz gereist sei.

3.1. Gegen die oben angeführten Bescheide erhoben die zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Erstbeschwerdeführerin sowie die minderjährigen Zweit- bis Viertbeschwerdeführer im Wege ihrer gesetzlichen Vertretung Beschwerde und stellten Anträge auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung. Verfahrenswesentlich wurde ausgeführt, dass in einer Verhältnismäßigkeitsprüfung davon ausgegangen werden müsse, dass die Rechte der Erst- bis Viertbeschwerdeführer (als Kinder) das Interesse des Staates an einem geordneten Fremdenwesen übersteigen würden, sodass sich die Außerlandesbringung als unverhältnismäßig darstelle.

An verfahrenswesentlichen Unterlagen wurde der Beschwerde Nachstehendes beigelegt:

?        drei Schreiben des XXXX Kinderdorfes zu einer Anfrage betreffend den Zweitbeschwerdeführer sowie die Dritt- und Viertbeschwerdeführerin, in welchen über das Leben in Österreich, die schulischen Leistungen bzw. das Verhalten in der Schule und über die integrativen Tätigkeiten der drei Beschwerdeführer berichtet wird, vom XXXX .10.2017 bzw. vom XXXX .10.2017;

?        Schulbesuchsbestätigungen betreffend die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerinnen vom XXXX .10.2017;

?        undatiertes Schreiben des Klassenvorstandes der zweiten Klasse Volksschule betreffend die Integration der Viertbeschwerdeführerin in ihre Schulklasse;

?        Schreiben vom XXXX .10.2017 betreffend die schulischen Leistungen bzw. Fortschritte der Drittbeschwerdeführerin (offenbar verfasst von zwei Lehrerinnen) und

?        Empfehlungsschreiben einer Freundin bzw. Kollegin der Erstbeschwerdeführerin

Gemäß § 16 Abs. 3 BFA-VG gilt diese Beschwerde auch als Beschwerde gegen den die Mutter der Beschwerdeführer betreffenden zurückweisenden Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.07.2017.

3.2. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20.10.2017 wurde der Beschwerde gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

3.3. Am 27.10.2017 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerdeergänzung ein, in welcher unter wörtlicher Zitierung des Berichtes des Council of Europe zur Fact Finding Mission in Italien vom 02.03.2017 ausgeführt wurde, dass das Bundesamt keine Feststellungen zum Aufenthaltsort des Kindesvaters getroffen habe. Die belangte Behörde hätte entsprechende Ermittlungen durchführen müssen, um eine Zusammenführung der Erst- bis Viertbeschwerdeführer mit dem gewalttätigen Kindesvater in Italien auszuschließen. Letztlich sei auch das Kindeswohl hinsichtlich einer Familienzusammenführung mit ihrer Mutter zu beachten. Diese habe ihre Kinder im Stich gelassen und habe sie alleine nach Österreich geschickt.

3.4. Mit Verfahrensanordnung vom 17.05.2018 richtete das Bundesverwaltungsgericht an die Verfahrensparteien die Anfrage, ob neue Informationen betreffend den Aufenthaltsort der Mutter vorlägen sowie, ob zwischen den Erst- bis Viertbeschwerdeführern und ihrer Mutter sowie, ob zwischen den Erst- bis Viertbeschwerdeführern und ihrem Vater Kontakt bestehe.

Mit E-Mail vom 17.05.2018 gab das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bekannt, dass dem Bundesamt seit Bescheiderlassung keine neuen Informationen über den Aufenthaltsort der Mutter der Beschwerdeführer vorliegen würden.

Die Erst- bis Viertbeschwerdeführer teilten im Wege ihrer gesetzlichen Vertretung mit Schreiben vom 08.06.2018 mit, dass die Erstbeschwerdeführerin mehrmals wöchentlich Kontakt zu ihrer Mutter in der Schweiz habe. Der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin würden wöchentlichen Kontakt mit ihrer Mutter halten. Die Viertbeschwerdeführerin meide den Kontakt zur Mutter. Alle vier Beschwerdeführer hätten keinen Kontakt zu ihrem Vater und wüssten auch nicht, wo sich dieser aufhalte.

4.1. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.06.2018 wurde die Beschwerde gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.09.2017 betreffend die vier Beschwerdeführer und ihre Mutter gemäß §§ 4a, 10 Abs. 1 Z 1 und 57 AsylG sowie § 9 BFA-VG und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen und die Revision für nicht zulässig erklärt.

Festgestellt wurde im Wesentlichen, dass den Beschwerdeführern in Italien der Status von Asylberechtigten zuerkannt und ihnen eine Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX .06.2021 erteilt worden sei. Ferner wurde festgestellt, dass die Beschwerdeführer an keinen Erkrankungen leiden würden, die einer Überstellung nach Italien entgegenstünden. Es bestünden keine besonders ausgeprägten privaten, beruflichen oder familiären Bindungen im österreichischen Bundesgebiet. Festgestellt wurde ferner, dass Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht hervorgekommen seien. Das Bundesverwaltungsgericht schließe nicht aus, dass es sich beim Vater der Beschwerdeführer um einen gewaltbereiten Menschen handle und es durchaus zu häuslicher Gewalt gekommen sei. Allerdings sei darauf zu verweisen, dass sich die Beschwerdeführer im Fall von tatsächlichen Bedrohungen jederzeit an die italienischen Behörden bzw. an die italienische Polizei wenden könnten, die willens und in der Lage seien, den Beschwerdeführern Schutz zu bieten.

4.2. Gegen dieses Erkenntnis erhoben die Beschwerdeführer – nicht jedoch ihre Mutter – zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung der Beschwerde nach Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung mit Beschluss vom 25.09.2018, E 3052-3055/2018-8, abgelehnt hat.

Mit Beschluss vom 25.10.2018, E 3052-3055/2018-10, hat der Verfassungsgerichtshof die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

4.3. In der Folge hat der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 26.06.2019, Ra 2018/20/0534, das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln gemäß § 57 AsylG, die Anordnungen der Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG und die Feststellungen der Zulässigkeit der Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG abgewiesen wurden, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben und im Übrigen die Revision zurückgewiesen.

Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus, da das Bundesverwaltungsgericht zwar nicht ausgeschlossen habe, dass es in der Familie zu gewalttätigen Übergriffen gekommen sei, jedoch zum diesbezüglichen Vorbringen keine eindeutigen Feststellungen getroffen habe, sei die Schlussfolgerung, die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG lägen nicht vor, nicht nachvollziehbar. Das Bundesverwaltungsgericht hätte Feststellungen zu den Behauptungen der Beschwerdeführer, gewalttätigen Angriffen seitens ihres Vaters ausgesetzt gewesen zu sein, treffen müssen. Nur auf Basis solcher auf einer schlüssigen und nachvollziehbaren Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen wäre eine Beurteilung dahingehend möglich gewesen, ob die Beschwerdeführer Opfer von Gewalt geworden seien.

5.1. Am XXXX .07.2019 wurde von der Staatsanwaltschaft XXXX gegen die Erstbeschwerdeführerin Anklage in einer Jugendstrafsache gemäß § 83 Abs. 1 StGB wegen vorsätzlich begangener strafbarer Handlungen erhoben (GZ. XXXX ).

5.2. Im fortgesetzten Verfahren wurden von Seiten des Bundesverwaltungsgerichtes im Wesentlichen Ermittlungen betreffend die allfällige Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ getätigt.

Im Rahmen eines im Zuge dieser Ermittlungen gewährten Parteiengehörs brachten die Beschwerdeführer im Wege ihrer gesetzlichen Vertretung verfahrenswesentlich vor, dass kein Kontakt zu ihrem Vater bestünde und sie einen solchen auch in Zukunft nicht wollen würden. Zum Vorfall, aufgrund dessen von der Staatsanwaltschaft XXXX Anklage gegen die Erstbeschwerdeführerin erhoben wurde, wurde ausgeführt, dass sich dieser am Bahnhof XXXX ereignet habe, als die Erstbeschwerdeführerin mit einer Freundin unterwegs gewesen sei und ein Mädchen die Erstbeschwerdeführerin verbal massiv angegriffen habe. Die Erstbeschwerdeführerin habe sich dadurch dermaßen beleidigt gefühlt, dass sie sich damals nicht beherrschen habe können. Sie habe sich auch in der Zwischenzeit bei diesem Mädchen entschuldigt.

An verfahrensrelevanten Unterlagen wurden im fortgesetzten Verfahren nachstehende Schriftstücke vorgelegt:

?        handschriftliches Schreiben der Erstbeschwerdeführerin, dem zu entnehmen ist, dass die Beschwerdeführer in Österreich bleiben wollen würden, da es in Italien nicht gut war;

?        undatiertes Schreiben des Klassenvorstands der Viertbeschwerdeführerin (vierte Klasse einer Volksschule), dem zu entnehmen ist, dass die Viertbeschwerdeführerin eine in der Klasse beliebte und fröhliche Schülerin ist sowie gut Deutsch spricht;

?        psychotherapeutische Stellungnahme vom XXXX .10.2019 betreffend die Drittbeschwerdeführerin ohne aktuelle diagnostizierte Erkrankungen und ohne Auffälligkeiten;

?        Schreiben des LehrerInnenteams einer Neuen Mittelschule vom XXXX .09.2019 betreffend die Drittbeschwerdeführerin, dem zu entnehmen ist, dass diese gut Deutsch spricht und bei Schülern sowie Lehrern beliebt ist und

?        Empfehlungsschreiben für die Drittbeschwerdeführerin samt Fotos sowie ein Buch mit Fotos und Sprüchen

6.1. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.10.2019 wurde die Beschwerde gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.09.2017 betreffend die vier Beschwerdeführer gemäß §§ 10 Abs. 1 Z 1 und 57 AsylG sowie § 9 BFA-VG und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen und die Revision für nicht zulässig erklärt.

Festgestellt wurde im Wesentlichen, dass die Beschwerdeführer zwar Opfer von Gewalt worden seien, die von ihrem Vater ausgegangen sei; allerdings sei in Italien ausreichender staatlicher Schutz vor häuslicher Gewalt gewährleistet und daher sei die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ an die Beschwerdeführer zum Schutz vor weiterer Gewalt nicht erforderlich. Weiters wurde festgestellt, dass die Beschwerdeführer über keine verwandtschaftlichen Beziehungen zu einem österreichischen Staatsangehörigen oder zu einem dauerhaft aufenthaltsberechtigten Fremden verfügen würden. Seit der Antragstellung am 16.12.2016 würden sie auf der Grundlage von vorläufigen Aufenthaltsberechtigungen nach dem Asylgesetz in Österreich leben. Nicht auf das Asylgesetz gestützte Aufenthaltsrechte seien nicht ersichtlich. Die Drittbeschwerdeführerin besuche eine Neue Mittelschule und die Viertbeschwerdeführerin besuche die vierte Klasse einer Volksschule. Sowohl die Dritt- als auch die Viertbeschwerdeführerin würden ausreichend Deutsch sprechen, um dem Unterricht folgen zu können, hätten sich gut in ihre jeweilige Klassengemeinschaft eingefügt und Freundschaften geknüpft. Nicht festgestellt werden könne, ob die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer in Österreich eine Schule besuchen, eine Lehre machen und/oder sonstige Ausbildungen absolvieren würden. Festgestellt werde, dass gegen die Erstbeschwerdeführerin am XXXX .07.2019 von der Staatsanwaltschaft XXXX Anklage wegen vorsätzlicher Körperverletzung erhoben worden sei. Sonst lägen keine Hinweise auf eine besonders ausgeprägte und verfestigte Integration hinsichtlich des Privat- und Familienlebens aller vier Beschwerdeführer in Österreich vor.

6.2. Gegen dieses Erkenntnis erhoben die Beschwerdeführer außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof, der nach Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung mit Erkenntnis vom 30.04.2020, Zln. 2019/21/0362 bis 0365-11, die Revision, soweit sie sich gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach § 57 AsylG richtet, zurückgewiesen und im Übrigen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben hat.

Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus, dass das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Interessensabwägung betreffend den Eingriff in Art. 8 EMRK eingehender auf Aspekte des Kindeswohls Bedacht nehmen hätte müssen. Fallbezogen wäre es daher gemäß den in § 138 ABGB genannten Kriterien, insbesondere um die Frage der angemessenen Versorgung und sorgfältigen Erziehung der Kinder, der Förderung ihrer Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten sowie allgemein um die Frage ihrer Lebensverhältnisse, gegangen. Auch ergebe sich aus dieser Bestimmung, dass auch die Meinung der Kinder zu berücksichtigen sei und dass Beeinträchtigungen zu vermeiden seien, die Kinder durch die Um- und Durchsetzung einer Maßnahme gegen ihren Willen erleiden könnten. Ein weiteres Kriterium sei die Aufrechterhaltung von verlässlichen Kontakten zu wichtigen Bezugspersonen und von sicheren Bindungen zu diesen Personen. Vor diesem Hintergrund würden die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zu kurz greifen, da sich dieses mit den wesentlichen Fragen der Versorgung der Beschwerdeführer, insbesondere mit Nahrung und Wohnraum, sowie mit mittlerweile aufgebauten Bindungen zu wichtigen Bezugspersonen nicht befasst habe. Es sei auch nicht auf den wiederholt und nachdrücklich geäußerten Wunsch der Beschwerdeführer, in Österreich verbleiben zu wollen, Bedacht genommen worden. Weiters hätte sich das Bundesverwaltungsgericht auch nicht mit negativen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen der Erst- und des Zweitbeschwerdeführers begnügen dürfen, sondern hätte dazu nähere Ermittlungen – naheliegend im Rahmen einer mündlichen Verhandlung – vornehmen müssen. Ferner wäre einzubeziehen gewesen, ob für die Beschwerdeführer in Österreich in einem gesicherten Umfeld eine Stabilisierung und soziale Einbettung eingetreten sei. Das Bundesverwaltungsgericht hätte überdies auch nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen.

7.1. Aufgrund des wiederholten Verweises der Beschwerdeführer auf ihre ausgezeichneten Deutschkenntnisse erging im fortgesetzten Verfahren zunächst die Anfrage, ob die Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Kurdisch erforderlich sei oder ob die Beschwerdeführer in der Lage seien, eine Verhandlung ohne Dolmetscherin in deutscher Sprache zu führen.

In der Folge gaben alle vier Beschwerdeführer im Wege ihrer (gesetzlichen) Vertretung bekannt, dass die Verhandlung in deutscher Sprache ohne Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Kurdisch geführt werden könne.

7.2. Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung langte am 07.10.2020 eine Stellungnahme der Beschwerdeführer ein. In dieser wurde zunächst auf die Berücksichtigung des Kindeswohls sowie auf das teilweise behebende Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 30.04.2020 verwiesen. Ferner wurde vorgebracht, dass eine Förderung der Kinder und ihre Entwicklungsmöglichkeiten in Italien nicht in der Form gegeben sei wie in Österreich. Daher widerspreche die Rückkehr [nach Italien] dem Wohl der Kinder und sei daher unzulässig. Die Beschwerdeführer hätten in Österreich ihren Lebensmittelpunkt, würden hier die Schule besuchen bzw. hätten Berufserfahrung gesammelt und Freunde gefunden. Sie würden fließend Deutsch sprechen und seien in Österreich sozialisiert. Alle vier Beschwerdeführer würden sich in Österreich wohl fühlen und würden hier bleiben wollen. Sie hätten ihren Aufenthalt verfestigt. Eine Außerlandesbringung würde all dies wieder vernichten. Ferner würden sie auch den Wunsch äußern, in Österreich zu bleiben. Sie hätten eine stabile Beziehung zu ihren Betreuern und ihrem sozialen Umfeld aufgebaut. Auch seien sie in der Schule bzw. im Berufsleben völlig integriert und könnten sich ein Leben außerhalb Österreichs nicht mehr vorstellen. Die Beschwerdeführer seien Mitglieder der österreichischen Gesellschaft geworden und hätten teilweise sogar Paten, die sich besonders um sie kümmern würden und zu denen sie sehr intensive Beziehungen hätten aufbauen können.

Die Erstbeschwerdeführerin habe sich gut eingelebt und sich in Österreich mit Hilfe ihrer Betreuer ein Leben aufgebaut. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten habe sie sich integriert und sich ihren Platz in der Gesellschaft erarbeitet. Derzeit mache sie den Pflichtschulabschluss und habe bereits erste Teilprüfungen bestanden. Sie steche durch ihr sprachliches Talent heraus und sei eine sehr engagierte Schülerin. Probleme in der Vergangenheit habe sie überwunden, da sie viel an sich arbeite. Ferner sei die Erstbeschwerdeführerin eine Zeit lang bei der „Offenen Jugendarbeit XXXX “ tätig gewesen. Sie sei sehr zielstrebig und habe genaue Vorstellungen von der Zukunft. Nach den Schwierigkeiten der Vergangenheit sei sie endlich angekommen und habe ihr Zuhause gefunden. In Italien habe die Erstbeschwerdeführerin keine Perspektive und habe ihre Mutter sie im Stich gelassen. In Österreich habe sie Personen gefunden, zu denen sie Vertrauen habe und die sie unterstützen würden.

Der Zweitbeschwerdeführer habe sich während seines Aufenthalts in Österreich sehr gut entwickelt. Er habe einen Freundeskreis und sei auch in der Unterkunft sehr kooperativ gewesen, da er sich immer an die Regeln gehalten habe. Zu seinen Betreuern habe er eine innige Beziehung aufgebaut und seien diese wichtige Bezugspersonen für ihn. Der Zweitbeschwerdeführer absolviere den Pflichtschulabschluss und sei bei „ XXXX “ in der Werkstatt tätig, wo er gemeinnützige Arbeiten erledige sowie erste Berufserfahrungen sammeln könne. Er würde gerne eine Lehre machen, was jedoch derzeit nicht möglich sei. Im November 2020 werde er den Deutschkurs auf der Niveaustufe C1 besuchen, um seine Deutschkenntnisse noch weiter voranzubringen. Der Zweitbeschwerdeführer wünsche sich nichts mehr als in Österreich bleiben und arbeiten zu dürfen. Er beherrsche die deutsche Sprache fließend und spreche sogar XXXX Dialekt. Auch er habe in Italien keine Perspektive, da er in Österreich eine Ausbildung mache und sich hier sein Leben aufgebaut habe. In Italien habe er kein soziales Umfeld.

Die Drittbeschwerdeführerin besuche derzeit die Mittelschule XXXX in XXXX . Sie sei Klassensprecherin und eine sehr geschätzte Mitschülerin. Auch in ihrer Unterkunft sei sie gut eingelebt und werde von allen gemocht. Ihre Sprachkenntnisse seien hervorragend; sie könne sich fließend in Deutsch und im XXXX Dialekt verständigen. Im Kinderdorf pflege sie eine enge Beziehung zu ihrer Patin und habe in dieser eine Bezugsperson gefunden. Österreich sei ihr Zuhause geworden. Eine Abschiebung nach Italien würde gravierende Folgen für die Drittbeschwerdeführerin haben, da sie alles verlieren würde, was sie sich hier aufgebaut habe. In Italien erwarte sie niemand; sie wäre auf sich alleine gestellt und hätte keine Bezugspersonen.

Die Viertbeschwerdeführerin habe ebenfalls ihren Lebensmittelpunkt in Österreich gefunden. Sie besuche derzeit die Volksschule XXXX . Dort habe sie sich gut eingelebt und viele Freunde gefunden. Die Schule biete ihr Sicherheit, Regelmäßigkeit und ermögliche ihr die Schulbildung. Eine Abschiebung nach Italien wäre ein Rückschlag für die Viertbeschwerdeführerin, da sie in Österreich als in ihrer neuen Heimat angekommen sei. Sie sei ein Teil der Familie im Kinderdorf geworden und pflege intensive Beziehungen zu den Betreuern und zu anderen Kindern. Die Geborgenheit in ihrer Unterkunft sei ihr sehr wichtig, da sie keinen Kontakt zu ihrer Mutter habe.

Weiters wurden die Einvernahmen von Herrn XXXX , Frau XXXX und Herrn XXXX als Zeugen beantragt und nachstehende Unterlagen vorgelegt, denen im Wesentlichen die Integrationsfortschritte der Beschwerdeführer und die Einbettung in ein sicheres soziales Umfeld entnommen werden können:

?        Einschätzung der „Unterrichtenden und der Kursleitung“ in Zusammenhang mit der Nachholung des Pflichtschulabschlusses der Erstbeschwerdeführerin vom XXXX .06.2020, dem zu entnehmen ist, dass die Erstbeschwerdeführerin seit Feber 2020 diesen Kurs besucht und in der Clearingphase überzeugt hat, sodass sie nun in den regulären Kurs aufgenommen wurde;

?        Teilnahmebestätigung „Vorbereitungslehrgang Pflichtschulabschluss“ einer Volkshochschule für die Erstbeschwerdeführerin vom XXXX .09.2020;

?        „Ein etwas anderes Statement“ zur Erstbeschwerdeführerin, verfasst von einem Sozialpädagogen des SOS-Kinderdorf XXXX vom XXXX .10.2020;

?        Zeugnis einer Volkshochschule über die Abschlussprüfung der Erstbeschwerdeführerin aus „Gesundheit und Soziales“ (Beurteilung: Genügend) vom XXXX .07.2020;

?        Zeugnis einer Volkshochschule über die Abschlussprüfung der Erstbeschwerdeführerin aus „Natur und Technik“ (Beurteilung: Sehr Gut) vom XXXX .07.2020;

?        Zertifikat einer Volkshochschule über die Teilnahme der Erstbeschwerdeführerin am Kurs „Bildung für junge Flüchtlinge 7“ vom XXXX .01.2018;

?        Arbeitszeugnis des Vereines „Offene Jugendarbeit XXXX “ vom XXXX .09.2020 betreffend die Erstbeschwerdeführerin;

?        drei Empfehlungsschreiben für die Erstbeschwerdeführerin, verfasst von Bekannten/Kollegen aus der „Offenen Jugendarbeit XXXX “;

?        Bericht zum Abschlussgespräch von „ XXXX “ an die Bezirkshauptmannschaft XXXX vom XXXX .08.2020 betreffend den Zweitbeschwerdeführer, dem zu entnehmen ist, dass sich dieser einen Freundeskreis aufgebaut hat und ihm der Kontakt zu seinen Geschwistern wichtig ist;

?        Anmeldebestätigung „Deutsch C1 Vormittagskurs“ vom XXXX .09.2020 des Zweitbeschwerdeführers;

?        „Ein etwas anderes Statement“ zum Zweitbeschwerdeführer, verfasst von seiner Bezugsbetreuerin des SOS-Kinderdorf XXXX vom XXXX .09.2020;

?        Bestätigung von „ XXXX “ vom XXXX .09.2020, dass der Zweitbeschwerdeführer seit XXXX .08.2020 einem Volontariats im Beschäftigungsprojekt „ XXXX “ nachgeht;

?        positives Jahres- und Abschlusszeugnis der XXXX Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht für das Schuljahr 2019/20 des Zweitbeschwerdeführers (Beurteilung in Deutsch: Genügend);

?        Schulbesuchsbestätigung (dritte Klasse) einer Mittelschule vom XXXX .09.2020 betreffend die Drittbeschwerdeführerin;

?        Empfehlungsschreiben der Bezugsbetreuerin der Drittbeschwerdeführerin vom XXXX .08.2020 samt sechs Fotos (schwarz-weiß Kopien);

?        Situationsbericht des „LehrerInnenteam der 2c Klasse und der Schulleitung“ der Neuen Mittelschule XXXX betreffend die Drittbeschwerdeführerin vom XXXX .08.2020;

?        (undatiertes) Schreiben des Klassenvorstands der Volksschule XXXX (vierte Klasse) betreffend die Viertbeschwerdeführerin;

?        Schreiben der Systembegleitung des Kinderdorfes XXXX betreffend die Viertbeschwerdeführerin vom XXXX .08.2020 und

?        Empfehlungsschreiben vom XXXX .08.2020 betreffend die Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen samt sechs Fotos (schwarz-weiß Kopien)

7.3. Ferner langte am 12.10.2020 eine Stellungnahme der Bezirkshauptmannschaft XXXX vom 09.10.2020 betreffend die bisherige Entwicklung der vier Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht ein. Dieser ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass die Beschwerdeführer von XXXX .12.2016 bis XXXX .03.2017 durch eine Kriseneinrichtung des XXXX Kinderdorfs betreut worden seien. Die Kindesmutter habe sich zwar immer wieder für einen kurzen Zeitraum in Österreich aufgehalten, stelle jedoch keine beständige Bezugsperson dar. Nunmehr würden alle vier Beschwerdeführer gut Deutsch sprechen und könnten sich auch im XXXX Dialekt verständigen. Aus Sicht der Bezirkshauptmannschaft habe sich Österreich zum Lebensmittelpunkt der Beschwerdeführer entwickelt.

Die Erstbeschwerdeführerin bewohne seit 19.07.2019 gemeinsam mit einer anderen Jugendlichen eine Wohnung des SOS-Kinderdorfs. Dies sei ein ambulant betreutes Angebot für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Aufgrund einer psychischen Instabilität sei es jedoch in der Vergangenheit wiederholt zu Auffälligkeiten gekommen. Derzeit besuche sie einen Pflichtschulabschlusskurs und sei in der offenen Jugendarbeit XXXX tätig. Der Zweitbeschwerdeführer lebe seit XXXX .05.2020 ebenfalls in einer durch das SOS-Kinderdorf ambulant betreuten Wohnung. Zuvor – von XXXX .08.2017 bis XXXX .05.2020 – habe er in einer Wohngemeinschaft des XXXX XXXX ( XXXX ) gelebt. Im Juli 2020 habe er die Schule der XXXX erfolgreich abgeschlossen und wolle nunmehr eine Berufsausbildung im handwerklichen Bereich absolvieren. Aktuell arbeite er stundenweise im Arbeitsprojekt „ XXXX “ mit. Die Drittbeschwerdeführerin wohne seit XXXX .08.2017 in einer familiären Wohngruppe des XXXX Kinderdorfs und besuche die Mittelschule XXXX in XXXX . Ihre Leistungen würden dem Klassendurchschnitt entsprechen. Sie habe eine gute Beziehung zu ihren Betreuungspersonen aufbauen können und fühle sich sehr wohl in der Wohngruppe. Allerdings sei sie durch ihre Lebensumstände belastet und sei auf eigenen Wunsch in therapeutischer Behandlung. Die Viertbeschwerdeführerin lebe seit XXXX .07.2017 in einer Kinderdorffamilie des XXXX Kinderdorfs und besuche seit September 2020 ebenfalls die Mittelschule XXXX in XXXX . Zuvor habe sie die Volksschule XXXX besucht. Sie nutze die Freizeitangebote innerhalb und außerhalb des XXXX Kinderdorfs.

Die Beschwerdeführer hätten einen guten Kontakt zueinander und würden einander in regelmäßigen 14tägigen Abständen treffen. Zur Kindesmutter hätten sie zwar immer wieder telefonischen Kontakt, aber sei diese nicht in der Lage, die Verantwortung für die Beschwerdeführer zu übernehmen. Der letzte persönliche und begleitete Kontakt habe am XXXX .06.2020 in den Räumlichkeiten des XXXX Kinderdorfs stattgefunden. Die Beschwerdeführer würden von der Bezirkshauptmannschaft als junge Menschen mit sehr vielen Kompetenzen und Fähigkeiten wahrgenommen. Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme würde bedeuten, aus der gewohnten Umgebung, den aufgebauten sozialen Beziehungen und den Bildungs- bzw. Beschäftigungsstrukturen herausgerissen zu werden. Dies hätte einen Entwicklungsrückstand sowie eine massive psychosoziale und emotionale Destabilisierung zur Folge.

7.4. Mit Schreiben vom 14.10.2020 wurden nachstehende Unterlagen vorgelegt:

?        Jahreszeugnis der Viertbeschwerdeführerin über die 4. Klasse Volksschule vom XXXX .07.2020 (mit nur „Sehr gut“ und „Gut“ Benotungen);

?        Jahreszeugnis der Viertbeschwerdeführerin der Musikschule XXXX vom XXXX .07.2019 für das Fach „Gitarre“ und

?        Psychotherapeutische Stellungnahme vom XXXX .10.2020 betreffend die Drittbeschwerdeführerin mit der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung und der Anmerkung, dass die Drittbeschwerdeführerin seit April 2020 in psychotherapeutischer Behandlung sei

8. Am 15.10.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der die vier Beschwerdeführer mit einer Vertreterin ihrer (gesetzlichen) Vertretung teilnahmen. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ist nicht erschienen. Weiters wurden XXXX und XXXX als Zeugen einvernommen. Die Verhandlung wurde zur Gänze in deutscher Sprache ohne Zuhilfenahme einer Dolmetscherin (eine solche wurde nicht geladen) durchgeführt.

Die Viertbeschwerdeführerin gab vor dem Bundesverwaltungsgericht zunächst an, dass sie gesund bzw. nicht in medizinischer Behandlung sei. An Italien könne sie sich nicht mehr gut erinnern. Es habe immer Schwierigkeiten mit dem Essen, dem Geld und dem Vater gegeben. Als sie ins XXXX Kinderdorf gekommen sei, sei sie ca. sieben Jahre alt gewesen. In Österreich wohne sie in einem Familienhaus mit anderen Kinder, die sie „Hausgeschwister“ nenne, und mit verschiedenen Betreuern. Die Viertbeschwerdeführerin telefoniere ab und zu mit ihrer Mutter, die in Italien lebe. Zu ihrem Vater habe sie keinen Kontakt und wisse auch nicht, wo er wohne. Zu den anderen Beschwerdeführern habe sie einmal in zwei Wochen Besuchskontakt und sie würden gemeinsam etwas unternehmen. Sie habe eine Psychotherapeutin und könne auch zu ihren Betreuern gehen, wenn sie ein Problem habe. An Sprachen spreche sie Deutsch, etwas Italienisch und etwas Englisch. Während der Woche fahre die Viertbeschwerdeführerin nach dem Frühstück mit dem Bus zur Schule. Manchmal habe sie auch Nachmittagsunterricht. Zuhause mache sie ihre Hausübungen und spiele noch ein bisschen mit einer Freundin. Nach dem Abendessen sehe sie noch ein bisschen fern und gehe dann schlafen. Aktuell besuche sie die erste Klasse Mittelschule XXXX . Zuhause und mit den anderen Beschwerdeführern spreche sie XXXX Dialekt und in der Schule Hochdeutsch. Die Viertbeschwerdeführerin habe Hiphop, Breakdance und Ballett getanzt und sei auch in einer Kletterhalle für Anfänger gewesen. Nunmehr werde sie zum Reiten angemeldet. Sport mache sie gerne. Nach der Mittelschule wolle sie in ein Gymnasium oder Realgymnasium wechseln und die Matura machen. Weiters habe sie in Österreich dreieinhalb Jahre lang Gitarre gespielt. Sie habe viele Freunde und vor Corona habe sie im XXXX Kinderdorf im Chor gesungen. In Österreich fühle sie sich gut, was man von Italien nicht behaupten könne. Wenn die Viertbeschwerdeführerin aus Österreich ausreisen müsste, würde es ihr schlecht gehen. Sie würde ihre Freundinnen und die Schule verlieren.

Eingangs ihrer Befragung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab die Drittbeschwerdeführerin an, dass es ihr gut gehe und sie gesund sei. Als sie nach Österreich gekommen sei, sei sie ca. zehn Jahre alt gewesen. Bevor sie nach Österreich gekommen seien, seien sie viel gereist, da ihre Mutter nicht in Italien habe bleiben wollen. Sie lebe mit ihren Hausgeschwistern und den Betreuern im Kinderdorf. Bei der Drittbeschwerdeführerin im Haus würden neun Kinder wohnen und jedes habe ein eigenes Zimmer. Sie hätten auch einen Spielplatz. Die Viertbeschwerdeführerin wohne in einem anderen Haus. Die Drittbeschwerdeführerin telefoniere ab und zu mit ihrer Mutter, die momentan in Italien sei. Zu ihrem Vater habe sie keinen Kontakt. Die Viertbeschwerdeführerin sehe sie jeden Tag, da sie im gleichen Kinderdorf wohnen würden. Mit den anderen beiden Beschwerdeführern hätten sie jede zweite Woche Besuchskontakt. Ab zwölf Jahren dürften die Kinder im Kinderdorf auch alleine etwas unternehmen; man müsse es aber mit den Betreuern ausmachen. Wenn es ihr nicht gut gehe, gehe sie zu ihrem Betreuer, der Nachtdienst habe. Mit ihm könne sie gut reden. Sie spreche Deutsch, Italienisch, Kurdisch, Arabisch und ein bisschen Englisch. Die Beschwerdeführer untereinander würden manchmal ein „Misch-Masch“ aus allen Sprachen sprechen. Nach der Schule unternehme sie viele Sachen, beispielsweise gehe sie am Dienstag tanzen. Manchmal habe sie auch Klassensprechersitzungen. Sie sei schon das dritte Jahr Klassensprecherin; bei den Sitzungen rede man über Schulregeln und, ob man etwas für die Klassengemeinschaft verbessern könne. Die Klassensprecher seien auch für die Sozialkonfliktlösung verantwortlich. Die Drittbeschwerdeführerin gehe in die dritte Klasse Mittelschule in XXXX . Sie habe ganz gute Noten, nur in Englisch stehe sie auf einem Vierer. Im Alltag spreche sie nicht nur Hochdeutsch, sondern auch Dialekt. In ihrer Freizeit gehe sie klettern oder in die Turnhalle. Sie spiele gerne Volleyball und manchmal spiele sie auch Klavier. Nach der Mittelschule wolle die Drittbeschwerdeführerin gerne weiterlernen. Sie sei in einem Tanzverein und früher auch in einem Kunstturnverein gewesen. Weiters habe sie sich auch schon überlegt, zur Freiwilligen Feuerwehr zu gehen. Die Drittbeschwerdeführerin habe einen Freundeskreis in Österreich, mit dem sie gemeinsame Unternehmungen mache. Sie fühle sich wohl und sicher in Österreich. In Italien habe sie sich nicht so gut gefühlt wie hier. Es wäre ihr lieber hier bleiben zu können als nach Italien zu gehen und zwar trotz dem ihre Mutter in Italien sei. Einmal in der Woche sei die Drittbeschwerdeführerin in therapeutischer Behandlung.

Der Zweitbeschwerdeführer brachte in der mündlichen Verhandlung zunächst vor, dass er gesund und nicht in medizinischer Behandlung sei. Er könne sich an die Zeit in Syrien nicht mehr erinnern, jedoch an die Zeit in Italien. An diese Zeit habe er noch ein paar Erinnerungen. Als sie nach Österreich gekommen seien, sei er ca. elf Jahre alt gewesen. Derzeit lebe der Zweitbeschwerdeführer im BAW (= Betreutes Außenwohnen) in XXXX , das gehöre zum SOS-Kinderdorf. Das sei eine Wohnung, in der er derzeit alleine wohne. Er habe eine Betreuerin, die für ihn zuständig sei und ihn auch regelmäßig besuche, aber nicht dort wohne. Die Erstbeschwerdeführerin lebe auch im BAW, habe aber eine Mitbewohnerin. Im BAW fühle er sich wohl; ihm mache es Spaß für sich selbst zu sorgen und er werde auch immer selbstständiger. Er gehe da auch einkaufen, koche, wasche die Wäsche und putze die Wohnung. Zu seiner Mutter habe der Zweitbeschwerdeführer zwei- bis dreimal in der Woche telefonischen Kontakt. Er glaube, dass sie derzeit in Italien lebe. Seine Mutter habe einen Lebenspartner und mit diesem ein (weiteres) Kind. Zu seinem Vater habe der Zweitbeschwerdeführer keinen Kontakt. Er vermute, dass er in Italien lebe, wisse dies aber nicht. Mit der Erstbeschwerdeführerin treffe er sich zwei- bis dreimal pro Woche. Die beiden jüngeren Beschwerdeführerinnen sehe er jede zweite Woche ca. zwei Stunden. Wenn es ihm sehr schlecht gehe, gehe er zu seinem früheren Betreuer, zu dem er ein sehr enges Verhältnis habe. Der Zweibeschwerdeführer spreche neben Deutsch auch Italienisch, Kurdisch, Arabisch und ein bisschen Englisch. Am Vormittag gehe er an manchen Tagen arbeiten. Derzeit sei er bei der Fahrrad-Werkstätte in XXXX beschäftigt, wo er Holzarbeiten mache. Dafür bekomme er ca. € 110,00 pro Monat. Aktuell dürfe er nichts Anderes machen. Nach der Werkstatt gehe er manchmal nach Hause und manchmal treffe er auch Freunde. Meistens sei er gegen 22 Uhr zu Hause und gehe dann entweder schlafen oder spiele Computerspiele. Der Zweitbeschwerdeführer sei in der XXXX Privatschule gewesen, die eigentlich eine normale Mittelschule sei. Dort habe er seinen Abschluss gemacht. Er habe so mittelmäßige Noten gehabt. Seine Freunde seien fast nur Österreicher und daher spreche er mit ihnen Deutsch. Früher habe er Handball gespielt und beginne derzeit mit Kickboxen. In Österreich würde der Zweitbeschwerdeführer gerne eine Lehre als Einzelhandelskaufmann machen und habe auch schon Bewerbungen verschickt. Da er aber die Lehre nicht beginnen habe können, habe er ein Volontariat beantragt. Auch habe sich der Zweitbeschwerdeführer für einen Sprachkurs auf der Niveaustufe C1 angemeldet. Weiters arbeite er in einem „Jugendraum“ freiwillig bei der Beaufsichtigung von beeinträchtigten Jugendlichen. Der Zweitbeschwerdeführer habe einen großen Freundeskreis in Österreich, aber keine feste Freundin. Österreich könne er als sein Zuhause bezeichnen und die Regeln hier würden ihm gefallen. Vor drei Jahren habe er einmal einen Kaugummi gestohlen und habe Hausverbot bekommen. Die Ausreise aus Österreich würde dem Zweitbeschwerdeführer sehr schwerfallen, weil er hier sehr enge Freunde habe. Es würde ihn sehr traurig machen.

In ihrer Befragung gab die Erstbeschwerdeführerin zunächst an, dass sie gesund sei. Früher habe sie Medikamente gegen Depressionen und Schlafmittel genommen, die sie jetzt nicht mehr benötige. Zur Psychotherapeutin gehe sie nach wie vor einmal pro Woche. Die Erstbeschwerdeführerin sei ledig, habe jedoch seit ca. zehn Monaten einen Freund, wohne mit ihm aber nicht zusammen. Das sei ihre erste Beziehung. Ihr Freund sei Palästinenser, sei jedoch in Syrien geboren. Ihr nunmehriger Freund habe sie öfter auf der Straße gesehen und da sie ihm gefallen habe, habe er sie über Facebook angeschrieben. Sie sei syrische Staatsangehörige, Kurdin und Muslimin. Sonderlich religiös sei sie nicht. Arabisch könne sie sprechen, Kurdisch, Italienisch, Deutsch und etwas Englisch könne sie sowohl sprechen als auch schreiben. Als sie sechs oder sieben Jahre alt gewesen sei, hätten sie Syrien verlassen. Kontakt nach Syrien habe die Erstbeschwerdeführerin nur noch zu einer Cousine. Von Syrien seien sie in die Türkei geflohen, wo sie ca. ein Jahr lang aufhältig gewesen seien. Sie hätten nicht nach Italien, sondern in ein deutschsprachiges Land gewollt, wofür ihr Vater viel Geld bezahlt habe. In Italien hätten sie sich sechs oder sieben Jahre lang aufgehalten und seien dann nach Deutschland gegangen. Ihre Eltern hätten sich dann auch in Deutschland getrennt. In der Folge seien sie von Deutschland nach Italien überstellt worden und seien einige Zeit später in die Schweiz gereist. Die Mutter der Beschwerdeführer habe seit einigen Jahren einen (neuen) Mann und ein Baby. Da die schweizer Behörden die Beschwerdeführer auch nach Italien überstellen hätten wollen, seien sie nach Liechtenstein gegangen und seien - anstatt freiwillig nach Italien zu gehen – nach Österreich gereist. In Italien hätten sie sich nicht in Sicherheit gefühlt, obwohl es ein europäisches Land sei. Die Erstbeschwerdeführerin sei ca. 15 oder 16 Jahre alt gewesen als sie nach Österreich gekommen sei. Derzeit wohne sie im SOS-Kinderdorf BAW (= Betreutes Ambulantes Wohnen) gemeinsam mit einem anderen Mädchen. Auch der Zweitbeschwerdeführer wohne seit kurzem in ihrer Nähe. Zu ihrer Mutter habe sie regelmäßigen telefonischen Kontakt. Ihre Mutter lebe derzeit in Italien in einer Community. Sie sei nicht so gerne in Italien, aber diesmal habe sie hinfahren müssen, um ihren Konventionspass zu verlängern. Zu ihrem Vater habe die Erstbeschwerdeführerin keinen Kontakt; er wohne in Italien. Ihre jüngeren Geschwister sehe sie jeden zweiten Freitag, aber den Zweitbeschwerdeführer sehe sie öfter, weil er jetzt in ihrer Nähe wohne. Die Bezugsperson der Erstbeschwerdeführerin in Österreich sei ihr Betreuer; zu ihm gehe sie, wenn es ihr nicht gut gehe. Nach der Schule arbeite sie ab Mittag in der „Offenen Jugendarbeit XXXX “. Das sei eine Designerwerkstatt für Mädchen. Dort nähe sie, mache Geschenkverpackungen und zeichne Schnittmuster. Sie arbeite 22 Stunden im Monat und verdiene € 110,00. Nachdem die Erstbeschwerdeführerin nach Österreich gekommen sei, habe sie zunächst viele Deutschkurse gemacht. Derzeit mache sie den Pflichtschulabschluss in XXXX ; leider habe sie Probleme in Mathe. In Österreich spreche sie hauptsächlich Deutsch; auch mit ihren Geschwistern spreche sie Deutsch. Manchmal würden sie auch Kurdisch gemischt mit Italienisch reden. Geld bekomme sie von ihren Betreuern und diese erhielten es von der Bezirkshauptmannschaft oder von der Stadt; das wisse sie nicht so genau. In Deutsch und in Mathematik habe die Erstbeschwerdeführerin Nachhilfe. Früher sei sie in der offenen Jugendarbeit in Workshops gegangen; es gebe auch einen Verein „ XXXX “, wo man unter anderem auch „Afrodance“ von den Betreuern habe lernen können. Die Erstbeschwerdeführerin habe früher einen Freundeskreis gehabt, sei von vielen „Freunden“ jedoch ausgenutzt worden, sodass nunmehr ihre besten Freunde ihre Geschwister seien. Sie sei einmal strafrechtlich verurteilt worden. Damals sei sie von einem anderen Mädchen beschimpft worden, sei diesem nachgelaufen und habe sie an den Haaren gezogen. Mehr wisse die Erstbeschwerdeführerin nicht mehr. Dann sei die Polizei gekommen. Sie wisse, dass Gewalt nicht gut sei und bereue, was sie getan habe. Sie habe damals keine richtigen Freunde gehabt. Wenn sie an Österreich denke, denke sie an ein Studium oder an eine Lehre. In Österreich dürfe jeder Mensch seine Meinung haben und man sei sicher. Ihre Geschwister hätten große Träume und die Erstbeschwerdeführerin sei sehr stolz auf sie.

In der Folge wurde XXXX , geb. XXXX , als Zeuge einvernommen. Dieser gab im Wesentlichen an, dass er im XXXX Kinderdorf als Sozialpädagoge tätig und als Primärbetreuer für die Viertbeschwerdeführerin zuständig sei. Die Viertbeschwerdeführerin kenne er seit ca. zweieinhalb Jahren und sie sei sehr in ihr soziales Umfeld und in das „Dorfgeschehen“ integriert. Sie lebe in einer Kinderdorffamilie im „Haus 1“ mit fünf weiteren „Geschwistern“. An den anderen Kindern sei sie sehr interessiert und setze sich immer für ein Miteinander ein. Sie habe auch sehr innige und gute Beziehungen zu ihren Betreuerinnen und Betreuern im Haus und auch „dorfübergreifend“. Auch nehme die Viertbeschwerdeführerin an allen sozialen Projekten teil, wie z.B. dem Kinderchor oder Kinderyoga. Sie mache auch bei musikalischen Aufführungen und bei Theateraufführungen mit. Die Viertbeschwerdeführerin sei eine gute Schülerin, habe gute Noten und besuche derzeit die erste Klasse Mittelschule. Sie sei auch Klassensprecherin gewesen und von ihrem Klassenvorstand sei sie stets gelobt worden. Bis vor kurzem sei sie in einem Tanzverein gewesen und spiele auch Gitarre. Kontakt habe die Viertbeschwerdeführerin weiters zu ihrer Psychotherapeutin, die auch eine große Vertrauensperson für sie sei. Es sei wichtig, dass die Viertbeschwerdeführerin in ihrem sozialen Umfeld aufwachse und weiter dort bleiben dürfe.

Weiters wurde XXXX , geb. XXXX , als Zeugin einvernommen, die vorbrachte, dass sie seit zwei Jahren die Drittbeschwerdeführerin in ihrer Wohngruppe betreue. Dort lebe die Drittbeschwerdeführerin mit acht weiteren Kindern und sei ein wichtiger Bestandteil der Gruppe. Sie sei sehr ordentlich und verfüge über einen großen Gerechtigkeitssinn, was sie auch in der Schule als Klassensprecherin zeige, wenn sie sich für ihre Mitschüler einsetze. In ihrer Klasse sei sie sehr gut integriert und habe auch einen großen Freundeskreis, mit dem sie ihre Freizeit verbringe. Viel Kontakt habe sie zur Viertbeschwerdeführerin, da diese in der Nähe wohne. Die Erst- und den Zweitbeschwerdeführer treffe sie alle zwei Wochen und sei die Beziehung aller vier Geschwister eine sehr nahe. Auch zu den anderen Jugendlichen des Kinderdorfes habe die Drittbeschwerdeführerin ein gutes Verhältnis und verbringe ihre Freizeit gemeinsam mit ihnen. Eine Abschiebung würde ein weiteres traumatisierendes Ereignis darstellen und würde die Beziehungsarbeit, die bisher geleistet worden sei, verloren gehen.

Zuletzt wurde noch XXXX , geb. XXXX , als Zeuge einvernommen. Dieser gab im Wesentlich an, dass die Erstbeschwerdeführerin letztes Jahr im Juli in das Betreute Außenwohnen eingezogen sei. Der Zeuge habe an sich nicht mehr mit Mädchen arbeiten wollen, weil diese viel komplizierter als Burschen seien, aber die Erstbeschwerdeführerin habe ihn beim Vorstellungsgespräch vom Gegenteil überzeugt. In der Folge habe er die Erstbeschwerdeführerin sehr lieb gewonnen und müsse aufpassen, dass es eine Arbeitsbeziehung bleibe und nicht zu einer väterlichen Beziehung werde. Die Erstbeschwerdeführerin habe zu vielen Dingen eine klare Meinung, könne jedoch in anderen Bereichen noch sehr kindlich sein, was sie sehr liebenswert mache. Nach Meinung des Zeugen habe die Erstbeschwerdeführerin im letzten Jahr enorme Schritte und viel Bewegung in die richtige Richtung gemacht. Da die Erstbeschwerdeführerin die Älteste der Geschwister sei, habe sie vermutlich von der Flucht am meisten mitbekommen und müsse daher auch am meisten verarbeiten. Sie sei bei Fehlern einsichtig und immer bemüht etwas Positives daraus zu machen. Auch spreche sie ein perfektes, sehr schönes Deutsch und habe in diesem Jahr mit dem Pflichtschulabschluss begonnen. Sie sei mit Motivation und Elan dabei und habe auch schon zwei Fächer abgeschlossen. In Mathematik nehme sie Nachhilfe, um auch das zu schaffen. Bevor die Erstbeschwerdeführerin zum BAW gekommen sei, sei sie etwas in die „Straßenkinderumgebung“ eingebunden gewesen, habe es jedoch geschafft, sich von dort zu lösen und sich ein neues soziales Umfeld zu schaffen. Der Zeuge unterstütze auch die Beziehung zu ihrem Freund, da diese sehr gesund sei. Man spüre, dass die beiden sich mögen, sich schätzen und sehr respektvoll miteinander umgehen. Ihr Freund dürfe die Erstbeschwerdeführerin auch besuchen und manchmal übernachten, wobei natürlich Themen wie Sexualität und Verhütung aufgekommen seien. Dass die Erstbeschwerdeführerin als Moslemin dazu bereit sei, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen und darüber zu sprechen, zeige nach Ansicht des Zeugen ihre Offenheit für ihren Weg, den sie eingehen wolle. Wenn sie den Pflichtschulabschluss geschafft habe – das werde man im Feber wissen – gehe es auch um die Frage der Berufswahl. Sie sei sich nicht ganz sicher, aber sie wolle jedenfalls weiterlernen. Die Erstbeschwerdeführerin sage immer, sie wolle in Österreich bleiben und ein Leben „wie wir“ führen. Sie sei auch bereit, die negativen Dinge aus ihrer „Straßenzeit“ wie ihre Verurteilung und Aggressionen aufzuarbeiten und dranzubleiben, dass sich das verbessere und nicht mehr vorkommen werde. Sie gehe auch in die Therapie und sei immer bereit über diese Themen zu sprechen.

Zum Zweitbeschwerdeführer gab der Zeuge an, dass er ihn ebenfalls schon so lange wie die Erstbeschwerdeführerin kenne, aber noch nicht so lange mit ihm arbeite. Der Zeuge sei auch nicht der Primärbetreuer des Zweitbeschwerdeführers, sei aber in dessen Team, sodass er auch über ihn sprechen könne. Der Zweitbeschwerdeführer sei sehr verantwortungsbewusst und sehr selbstständig für sein Alter, was auch der Grund sei, warum er schon jetzt im BAW lebe, da er noch relativ jung für ein selbstständiges Wohnen sei. Er habe das eigenständige Leben sehr gut im Griff und pflege seine Freundschaften sowie seine sozialen Kontakte. Auch könne er gut mit Geld umgehen und sei sparsam. Der Zeuge erlebe den Zweitbeschwerdeführer in seine Geschwistergruppe als Ruhepol; er gehe sanft und feinfühlig mit seinen Schwestern um. Die Beschwerdeführer würden auch Weihnachten zelebrieren, was für den Zeugen bedeute, dass sie sich auch kulturell an die österreichische Gesellschaft anpassen würden. Das Streben des Zweitbeschwerdeführers gehe vor allem in Richtung Ausbildung und Lehre. Auch wolle er sich sportlich betätigen und wolle Mitglied in einem Kickboxverein in XXXX werden. Eine „zweite Familie“ sei für ihn die Vorgängereinrichtung „ XXXX “, wo der Zweitbeschwerdeführer zuvor zweieinhalb Jahre gelebt habe. Auch von dort habe er sehr viele stabile Beziehungen mitgenommen, die ihm sehr viel wert seien. Er habe regelmäßigen Kontakt zu seinen ehemaligen Mitbewohnern und seien nach Ansicht des Zeugen ganz nette Freundschaften entstanden. Der Zweitbeschwerdeführer erwähne immer wieder, dass er in Österreich bleiben wolle, weil das für ihn ein Platz sei, wo er sich wohl fühle. Wenn die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer Österreich verlassen müssten, hätte dies – der Meinung des Zeugen zufolge – ganz schlimme Auswirkungen und sie würden sehr tief fallen.

Während der mündlichen Beschwerdeverhandlung legten der Zweit-, die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin selbst zusammengestellte Mappen vor, die zum Teil die bereits vorgelegten Empfehlungsschreiben und Zeugnisse und zum Teil Fotos, die diverse Aktivitäten (auch mit den anderen Beschwerdeführern und mit ihren Betreuern) zeigen, beinhalten. Zusätzlich befindet sich in der Mappe der Drittbeschwerdeführerin ihr Jahreszeugnis über die zweite Klasse Neue Mittelschule vom XXXX .07.2020, dem zu entnehmen ist, dass die Drittbeschwerdeführerin im Unterrichtsgegenstand Deutsch mit „3“ (= Befriedigend) benotet wurde.

9. Am 16.10.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme zur mündlichen Verhandlung ein, in welcher vorgebracht wurde, dass es den Wünschen der Beschwerdeführer entspreche, in Österreich in ihrem vertrauten Umfeld und bei ihren Bezugspersonen bleiben zu dürfen. In Österreich seien sie sozial eingebettet, würden sich „angekommen“ und „in Sicherheit“ fühlen. Die drei Zeugen, die wichtige Bezugspersonen der Beschwerdeführer seien, hätten in der Verhandlung ausgesagt, dass aus ihrer Sicht eine Außerlandesbringung der Beschwerdeführer diese aus ihrer gewohnten Umgebung reißen würde, was Entwicklungsrückschritte zur Folge hätte. Diese Ansicht teile auch die Kinder- und Jugendwohlfahrt Bezirkshauptmannschaft XXXX als Obsorgeberechtigte, welche den Verbleib der Beschwerdeführer in Österreich als im Sinne des Kindeswohles befürworte. Ferner würden sich die Erst-, Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen in psychotherapeutischer Behandlung befinden und sei eine sichergestellte Fortsetzung dieser Behandlung notwendig. Die Beschwerdeführer seien als besonderes vulnerabel anzusehen, würden eine gelungene Integration aufweisen und sei eine Rückkehr nach Italien unter Berücksichtigung des Kindeswohls nicht möglich. Daher seien die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus den Gründen des Art. 8 EMRK erfüllt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die zum Antragszeitpunkt minderjährige, zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt volljährige Erstbeschwerdeführerin und die minderjährigen Zweit- bis Viertbeschwerdeführer sind Geschwister. Alle vier Beschwerdeführer sind syrische Staatsangehörige kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit. Den Beschwerdeführern wurde in Italien der Status von Asylberechtigten zuerkannt und ihnen wurde eine Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX .06.2021 erteilt.

Nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet stellten die Beschwerdeführer am 16.12.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz, die mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.09.2017 gemäß § 4a AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen wurde, dass sich die Beschwerdeführer nach Italien zurückzubegeben haben. Ferner wurde den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt sowie gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen sie die Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG angeordnet und festgestellt, dass demzufolge ihre Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig ist. Die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.06.2018 gemäß §§ 4a, 10 Abs. 1 Z 1 und 57 AsylG sowie § 9 BFA-VG und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen. Der gegen dieses Erkenntnis erhobenen außerordentlichen Revision wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2019 insofern stattgegeben, dass das angefochtene Erkenntnis, als damit die Beschwerden gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln gemäß § 57 AsylG, die Anordnungen zur Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG und die Feststelllungen der Zulässigkeit der Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG abgewiesen wurden, aufgehoben wurde.

Nach Durchführung weiterer Ermittlungen (insbesondere betreffend die allfällige Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“) wurde im fortgesetzten Verfahren die Beschwerde gegen die Bescheide vom 19.09.2017 mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.10.2019 gemäß §§ 10 Abs. 1 Z 1 und 57 AsylG sowie § 9 BFA-VG und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 30.04.2020 wurde die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision, soweit sie sich gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach § 57 AsylG richtet, zurückgewiesen und im Übrigen das Erkenntnis des Bu

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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