TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/5 W192 2215191-1

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Veröffentlicht am 05.03.2021
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Entscheidungsdatum

05.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs5
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W192 2215191-1/14E


IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Ruso über die Beschwerde des serbischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Errath, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 05.12.2018, Zl. 220988304/180893085, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die zur Handhabung des NAG zuständige Behörde teilte dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Schreiben vom 17.09.2018 mit, dass der Beschwerdeführer am 04.09.2018 einen weiteren Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels eingebracht habe und er über „Daueraufenthalt-EU“ verfüge. Im Hinblick auf eine vorliegende strafrechtliche Verurteilung werde um Mitteilung ersucht, ob aufenthaltsbeendigende Maßnahmen gesetzt werden.

Das BFA führte am 24.10.2018 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers durch, wobei diesem vorgehalten wurde, dass er zuletzt im April 2018 vom zuständigen Landesgericht wegen Diebstahls durch Einbruch oder mit Waffen zu einer Strafe von neun Monaten verurteilt worden sei, weshalb die Behörde beabsichtige, gegen ihn eine Rückkehrkehrentscheidung und ein Einreiseverbot zu erlassen.

Der Beschwerdeführer gab auf Befragen an, dass er in Serbien geboren sei und mit seinen Eltern nach Österreich gekommen sei, wo er sich seit 2000 aufhalte. In Österreich würden sich seine Eltern, seine Schwester und seine Großeltern befinden, in Serbien habe er einen Onkel, eine Tante, Cousinen und Cousins. Der Beschwerdeführer lebe bei seinen Großeltern im gemeinsamen Haushalt, sei arbeitslos und lebe von der Notstandshilfe. Er habe keine Ausbildung abgeschlossen und finde wegen der Straffälligkeit keine Arbeit. Im Heimatland werde er nicht verfolgt.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid sprach das BFA aus, dass dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG erteilt werde (Spruchpunkt I.), erließ gegen ihn gemäß § 52 Abs 1 Z 1 FPG § 10 Abs. 2 AsylG und § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II.) und stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Serbien gemäß § 46 FPG zulässig sei., (Spruchpunkt III.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf drei Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.). Gleichzeitig wurde gemäß § 55 Abs 1 bis Abs 3 FPG eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt V.).

Die Behörde ging davon aus, dass der Beschwerdeführer sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte und die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht vorliegen. Der Beschwerdeführer habe zu Österreich familiäre Bindungen, jedoch keine legalen beruflichen Bindungen. Er habe nicht behauptet, von seiner Familie abhängig zu sein und es hätten ihn die familiären Strukturen nicht von Straftaten abzuhalten vermocht. Da er durch seine Straftaten eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, müsse erkannt werden, dass sein Privatleben gegenüber den öffentlichen Interessen Nachrang habe. Der Beschwerdeführer sei zwischen 2015 und 2018 jedenfalls straffällig gewesen und zuletzt zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt worden. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation bestehe die Gefahr einer Unterhaltsbeschaffung aus illegalen Quellen. Aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens sei unter Bedachtnahme auf das Gesamtverhalten davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, es seien die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG gegeben.

3. Dagegen richtet sich die Beschwerde, in der vorgebracht wurde, dass der Beschwerdeführer seit seinem sechsten Lebensjahr in Österreich lebe. Die ihm zur Last gelegten Taten seien allesamt minderschwere Vermögensdelikte gewesen und in einem Zeitraum von knapp zwei Jahren begangen worden. Die Behörde habe keine Feststellungen zu den strafbaren Handlungen getroffen, die über Datum und Geschäftszahl der Verurteilung und Strafnorm hinausgegangen seien. Bei Einsicht in den Gerichtsakt hätte die Behörde festgestellt, dass die Verurteilungen allesamt minderschwere Vermögensdelikte betrafen.

Der Beschwerdeführer sei zuletzt erstmals zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden und es seien ihm in diesen drei Monaten die Konsequenzen seines Fehlverhaltens nachdrücklich vor Augen geführt worden, sodass er keinesfalls mehr ein strafrechtliches Fehlverhalten setzen werde.

Aufgrund des beinahe lebenslangen Aufenthaltes und des Umstandes, dass der Beschwerdeführer nahezu ausschließlich in Österreich sozialisiert wurde, stelle die Erlassung eines dreijährigen Einreiseverbots eine gravierende Konsequenz dar. Die gesamten sozialen Beziehungen des Beschwerdeführers würden sich in Österreich befinden. Er habe seine gesamte Schulzeit her verbracht und es seien seine Deutschkenntnisse besser als seine Serbischkenntnisse. Im Hinblick auf den langen Aufenthalt und vergleichsweise kurzen zweijährigen Zeitraumes seines strafrechtlichen Fehlverhaltens sei die von der Behörde getroffene negative Zukunftsprognose nicht aufrechtzuerhalten.

4. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 05.03.2012 eine öffentliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter teilnahmen und zu der das BFA keinen Vertreter entsandt hat.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Serbien. Er kam 2001 mit seinen Eltern nach Österreich und hält sich mit durchgehendem Hauptwohnsitz seit 10.07.2001 im Bundesgebiet auf. Er besuchte in Österreich die Schule, beendete die allgemeine Schulpflicht mit Ende des Schuljahres 2009/2010 an einer Kooperativen Mittelschule und spricht fließend Deutsch. Zu seinem Herkunftsstaat Serbien bestehen gering ausgeprägte Anknüpfungen.

Der Beschwerdeführer ist ledig, gesund und arbeitsfähig. Seine Mutter, eine serbische Staatsangehörige, ist auf Grund einer bis 04.05.2023 gültigen „Rot-Weiß-Rot-Karte-Plus“ in Österreich niedergelassen, sein Vater, ein serbischer Staatsangehöriger, der über einen Titel „Daueraufenthalt-EU“ verfügte, ist 2020 verstorben. Der Beschwerdeführer lebte nach der Scheidung seiner Eltern von August 2001 bis August 2004 und seit August 2005 durchgehend in einem gemeinsamen Haushalt mit seinen Großeltern väterlicherseits, wobei der Großvater ein serbischer Staatsangehöriger mit dem Titel „Daueraufenthalt-EU“ und die Großmutter österreichische Staatsbürgerin sind.

Der Beschwerdeführer führt eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin, lebt aber nicht mit ihr im gemeinsamen Haushalt

Die Beschwerdeführer war im Bundesgebiet nur jeweils kurz vom 04.10.2010 bis 17.10.2010, 05.11.2012 bis 11.01.2013, 01.03.2013 bis 31.08.2013, 26.03.2014 bis 25.04.2014, 01.06.2014 bis 01.08.2014, 03.08.2015 bis 10.08.2015, 24.01.2017 bis 23.07.2017, 24.04.2018 bis 31.05.2018, 04.09.2020 bis 07.09.2020 und 03.02.2021 bis 08.02.2021 als Lehrling bzw. Arbeiter beschäftigt und hat sonst Arbeitslosengeld sowie Notstandshilfe und Überbrückungshilfe bezogen.

Der Beschwerdeführer verfügt zumindest seit 2009 über eine unbefristete Aufenthaltsberechtigung; ihm wurde eine Karte „Daueraufenthalt-Familienangehöriger“ mit Gültigkeit vom 29.12.2009 bis 29.12.2014 und eine Karte „Daueraufenthalt-EG“ mit Gültigkeit vom 02.09.2013 bis 02.09.2018 ausgestellt. Er hat am 04.09.2018 einen Verlängerungsantrag eingebracht.

Der Beschwerdeführer wurde vom zuständigen Bezirksgericht mit Urteil vom 28.07.2016 wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu € 4 und für den Fall der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 20 Tagen verurteilt. Dem Urteil lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer am 03.06.2016 in einer Filiale einer Filiale einer Handelskette einen Smartphone-Lautsprecher im Wert von Euro 19,99 in seiner Umhängetasche versteckte und versuchte, das Geschäft zu verlassen ohne zu bezahlen. Bei der Strafzumessung wertete das Gericht als erschwerend keinen Umstand und als mildernd die geständige Verantwortung bei der Polizei und die bisherige Unbescholtenheit des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer wurde vom zuständigen Landesgericht mit Urteil vom 26.09.2016 wegen des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs. 1 und 2 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer am 14.08.2016 den Pkw seines Onkels in Betrieb genommen und vom Tatort an einen anderen Ort verbracht hat. Das Gericht wertete als wesentlichen mildernden Umstand das Geständnis sowie das junge Alter des Beschwerdeführers, als erschwerenden Umstand jedoch die bereits einschlägige Vorstrafe.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des zuständigen Landesgerichts vom 30.11.2016 wegen des Verbrechens des Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs. 1 Z. 3 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z. 3 Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, wobei diese unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Dem Urteil lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer am 05.11.2015 mit einem Mittäter einem anderen ein Mountainbike im Wert von € 250 durch Aufbrechen einer Sperrvorrichtung weggenommen hatte, wobei es beim Versuch blieb, weil er das Fahrrad, als die Täter bemerkten, dass die Gangschaltung defekt war, abstellte und wegging; sowie weil er bis zum 05.11.2015 ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von 9 cm besessen hatte, obwohl ihm dies gemäß § 12 Waffengesetz verboten ist. Das Gericht wertete als mildernd den bisherigen ordentlichen Lebenswandel, das Geständnis und das Alter unter 21 Jahren, als erschwerend das Zusammentreffen von zwei Vergehen.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des zuständigen Landesgerichts vom 19.04.2018 wegen des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs. 1 Z. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, wobei ein Teil der verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Dem Urteil lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer zwischen 29.10.2017 und 01.11.2017 einem anderen ein Halfbike im Wert von € 513,13 durch Einbruch in ein Kellerabteil weggenommen hat. Bei der Strafbemessung wurde als mildernd das reumütige Geständnis und die Sicherstellung des Diebesgutes und als erschwerend die zwei einschlägigen Vorstrafen, das Begehen während offener Probezeit und der rasche Rückfall gewertet. Vom Widerruf der dem Beschwerdeführer mit den zuvor genannten Urteilen eines Landesgerichts gewährten bedingten Strafnachsichten wurde abgesehen und die Probezeit jeweils auf fünf Jahre verlängert. Das Gericht hielt dazu fest, dass der Widerruf der gewährten bedingten Strafnachsichten aufgrund der nunmehrigen Verhängung einer unbedingten Freiheitsstrafe nicht geboten erscheint, um dem Beschwerdeführer von der Begehung weiterer strafbarer Handlungen abzuhalten.

Der Beschwerdeführer wird seit Februar 2017 von der Bewährungshilfe betreut und hält die Termine ein. Laut vorliegendem Sozialbericht vom Oktober 2020 besteht bei der Bewährungshelferin der Eindruck, dass er bemüht sei, sich wohl zu verhalten.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen über die Identität und persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers basieren insbesondere auf seinen Angaben und den vorgelegten Urkunden (Reisepass, Bestätigung über den Pflichtschulabschluss, Meldebestätigungen, Sozialbericht der Bewährungshelferin), den Daten aus dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) und dem Strafregister sowie auf den Sozialversicherungsdaten.

Die Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers sind aufgrund des Schulbesuchs in Österreich belegt. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich und der gemeinsame Haushalt mit seinen Großeltern wird anhand des Bewährungshilfeberichts und der Wohnsitzmeldungen laut ZMR festgestellt. Demnach ist von einem im Wesentlichen durchgehenden Inlandsaufenthalt seit 2001 auszugehen.

Die Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers und der Bezug von Arbeitslosen- oder Krankengeld werden anhand des Versicherungsdatenauszugs festgestellt Das unbefristete Aufenthaltsrecht des Beschwerdeführers und die zuletzt ausgestellten Karten, die dieses dokumentierten, sind im IZR ersichtlich.

Signifikante Kontakte oder anderweitige Anknüpfungen zu Serbien sind den Verwaltungsakten nicht zu entnehmen, was angesichts des langjährigen Inlandsaufenthalts des Beschwerdeführers nachvollziehbar ist.

Die rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers, die zugrundeliegenden Taten und die Strafbemessungsgründe ergeben sich aus den vorliegenden Urteilsausfertigungen, seine Zusammenarbeit mit der Bewährungshilfe wird anhand der vorgelegten Sozialberichte festgestellt.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Die Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Serbien und somit Drittstaatsangehörige iSd § 2 Abs 4 Z 10 FPG.

Die letzte mit 24.04.2018 rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers und die zugrunde liegende Tathandlung des Beschwerdeführers (Tatzeit: 29.10.2017 bis 01.11.2017) sowie die vorherigen Verurteilungen erfolgten vor Ablauf der Gültigkeit seiner Karte betreffend den Titel „Daueraufenthalt-EU“ mit 02.09.2018. Da er somit vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EG“ verfügte, setzt die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen ihn gemäß § 52 Abs. 5 FPG voraus, dass die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG die Annahme rechtfertigen, dass sein weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde. Als bestimmte Tatsache, die die Annahme rechtfertigt, dass der Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt, hat gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG unter anderem die rechtskräftige Verurteilung zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten zu gelten.

Die Behörde hat im vorliegenden Fall allerdings die erlassene Rückkehrentscheidung auf § 52 Abs. 1 Z 1 FPG gestützt, weshalb diese schon aus diesem Grund keinen Bestand haben kann.

3.2.1. Aber auch auf Grund von § 52 Abs. 5 FPG kann eine Rückkehrentscheidung im vorliegenden Fall nicht gestützt werden

Gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, die in das Privat- oder Familienleben des Beschwerdeführers eingreift, nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Dabei sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen. Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

§ 9 Abs. 4 BFA-VG idF vor Inkrafttreten des FrÄG 2018 lautete.

„Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden, wenn

1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr. 311, verliehen hätte werden können, es sei denn, eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes von mehr als fünf Jahren gemäß § 53 Abs. 3 Z 6, 7 oder 8 FPG liegt vor, oder

2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.“

Zur Aufhebung des § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 durch das FrÄG 2018 hielt der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien (RV 189 BlgNR 26. GP 27 f) ausdrücklich fest, dass sich § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG 2014 "lediglich als Konkretisierung bzw. Klarstellung dessen, was sich unter Berücksichtigung der höchstgerichtlichen Judikatur ohnehin bereits aus Abs. 1 iVm Abs. 2 ergibt", erweist. Ungeachtet des Außerkrafttretens des § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 sind die Wertungen dieser ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG 2014 weiter beachtlich (vgl. VwGH 16.5.2019, Ra 2019/21/0121; VwGH 25.9.2018, Ra 2018/21/0152), ohne dass es aber einer ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 bedarf (siehe VwGH 25.9.2018, Ra 2018/21/0152). Es ist also weiterhin darauf Bedacht zu nehmen, dass für die Fälle des bisherigen § 9 Abs. 4 BFA-VG 2014 allgemein unterstellt wurde, dass die Interessenabwägung - trotz einer vom Fremden ausgehenden Gefährdung - regelmäßig zu seinen Gunsten auszugehen hat und eine aufenthaltsbeendende Maßnahme in diesen Konstellationen grundsätzlich nicht erlassen werden darf. Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen einen fallbezogenen Spielraum einräumen (vgl. RV 189 BlgNR 26. GP 27, wo von "gravierender Straffälligkeit" bzw. "schwerer Straffälligkeit" gesprochen wird). Dazu zählen jedenfalls die schon bisher in § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG 2014 normierten Ausnahmen bei Erfüllung der Einreiseverbotstatbestände nach § 53 Abs. 3 Z 6, 7 und 8 FrPolG 2005, aber auch andere Formen gravierender Straffälligkeit (siehe VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0232, betreffend Vergewaltigung; VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0207, betreffend grenzüberschreitenden Kokainschmuggel).

3.2.2. Der Beschwerdeführer hielt sich seit der Kindheit in Österreich auf und ist seit vielen Jahren daueraufenthaltsberechtigt. Er ist zwar nicht nachhaltig am österreichischen Arbeitsmarkt integriert, besuchte hier aber die Schule bis zum Pflichtschulabschluss und spricht Deutsch. Durch den nach wie vor bestehenden langjährigen gemeinsamen Haushalt mit den Großeltern ist er hier auch familiär verankert. Demgegenüber hat der Beschwerdeführer nur wenig intensiv ausgeprägte Bindungen im Herkunftsstaat, wo er sich seit 2001 immer wieder nur zu Besuchsaufenthalten bei entfernteren Verwandten aufgehalten hat.

Der Beschwerdeführer ist erst im Alter von sechs Jahren nach Österreich gekommen, weshalb er die Voraussetzungen des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG idF vor Inkrafttreten des FrÄG 2018, er sei „von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen“ nicht erfüllt, da diese Regelung für eine Person, die erst im Alter von vier Jahren oder später nach Österreich eingereist ist, nicht zum Tragen kommt (VwGH 29.05.2018, Ra 2018/21/0067).

Der in § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG 2014 idF vor Inkrafttreten des FrÄG 2018 beinhaltete Aufenthaltsverfestigungstatbestand trifft jedoch auf den Beschwerdeführer zu.

Nach § 10 Abs. 1 Z 1 StbG 1985 idF BGBl. I Nr. 124/1998 (vgl. E 11. Juni 2013, 2012/21/0088) konnte die Staatsbürgerschaft einem Fremden verliehen werden, wenn er seit mindestens zehn Jahren seinen Hauptwohnsitz ununterbrochen im Bundesgebiet hatte. Hat der Fremde "vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes" seit mindestens zehn Jahren seinen Hauptwohnsitz ununterbrochen im Bundesgebiet gehabt, dann hat ihm bei Erfüllung der weiteren Verleihungsvoraussetzungen des § 10 Abs. 1 StbG 1985 nach der genannten Bestimmung die Staatsbürgerschaft verliehen werden können, was der Erlassung einer Rückkehrentscheidung und demzufolge auch eines Einreiseverbotes entgegengestanden ist (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289 mit Hinweis auf E 30.09.2014, 2012/22/0058; E 10.04.2014, 2013/22/0370).

Der Beschwerdeführer hat die von ihm gesetzten Straftaten in der Zeit zwischen 05.11.2015 und 01.11.2017 und damit zu einer Zeit begangen, als er bereits über 14 Jahre seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hatte. Die Voraussetzungen für die Verleihung der Staatsbürgerschaft lagen somit vor.

Der Beschwerdeführer wurde zwar viermal jeweils auch wegen Vermögensdelikten strafgerichtlich verurteilt, es erfolgten jedoch nach einer Geldstrafe und zwei bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafen von drei Monaten erst zuletzt eine teilbedingte Freiheitsstrafe, wobei der unbedingte Teil von drei Monaten mit 04.09.2018 vollzogen wurde. Die gesetzten Straftaten sind selbst bei Berücksichtigung der raschen einschlägigen Rückfälligkeit sowohl angesichts der Tathandlungen als auch der Sanktionen nicht als Fälle „gravierender Straffälligkeit“ anzusehen, zumal auch die in § 9 Abs. 4 BFA-VG idF vor Inkrafttreten des FrÄG 2018 angeführten § 53 Abs. 3 Z 6, 7 und 8 FPG 2005, aber auch die in der Rechtsprechung dazu dort genannten anderen Formen gravierender Straffälligkeit nicht verwirklicht wurden.

Daher sind die Straftaten (auch bei Berücksichtigung des einschlägigen Rückfalls während der Probezeit) nicht so gravierend, dass trotz der starken privaten und familiären Bindungen des Beschwerdeführers zu Österreich eine Rückkehrentscheidung gegen ihn zu erlassen ist.

Dabei wird neben dem seit Vollzug der Freiheitsstrafe mit 04.09.2018 erfolgten Wohlverhalten auch der Umstand berücksichtigt, dass dem zuständigen Strafgericht der Widerruf der gewährten bedingten Strafnachsichten im Zusammenhang mit der mit dem Urteil vom 19.04.2018 verhängten unbedingten Freiheitsstrafe nicht geboten erschien, um den Beschwerdeführer von der Begehung weiterer strafbarer Handlungen abzuhalten.

Eine gewichtende Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen in der gebotenen Gesamtbetrachtung, dass das Interesse des aufenthaltsverfestigten Beschwerdeführers an der Fortführung des Familien- und Privatlebens in Österreich höher zu bewerten ist als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Eine Trennung von seiner Herkunftsfamilie und dem sozialen Umfeld in Österreich ist auch angesichts der Resozialisierungsbemühungen (Pflichtschulabschluss, Bewährungshilfe) derzeit nicht gerechtfertigt. Es ist eine Rückstufung des unbefristeten Aufenthaltstitels nach § 28 NAG in Betracht zu ziehen.

Da die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer auch gemäß § 52 Abs. 5 FPG unzulässig ist, sind Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids sowie die auf der Rückkehrentscheidung aufbauenden Spruchpunkte III. bis V. ersatzlos zu beheben.

3.3. Nach § 58 Abs 1 Z 5 AsylG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Fremde sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt. Da sich der Beschwerdeführer vor Verwirklichung des maßgebenden Sachverhalts aufgrund eines unbefristeten Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“ rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielt, war wegen der Anwendbarkeit von § 52 Abs. 5 FPG keine amtswegige Prüfung der Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung nach § 57 AsylG vorzunehmen, sodass Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids ebenfalls zu entfallen hat.

In Stattgebung der Beschwerde sind somit sämtliche Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids ersatzlos zu beheben.

Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die Interessenabwägung und die Gefährdungsprognose bei der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sind unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen und daher im Allgemeinen nicht revisibel (siehe zuletzt VwGH 01.09.2020, Ra 2020/20/0239). Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

Schlagworte

Aufenthaltsdauer Aufenthaltstitel Behebung der Entscheidung Daueraufenthalt EU (int. Schutzberechtigte) Einreiseverbot aufgehoben ersatzlose Behebung Interessenabwägung Privat- und Familienleben Rechtswidrigkeit Rückkehrentscheidung behoben strafrechtliche Verurteilung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W192.2215191.1.00

Im RIS seit

18.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

18.05.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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