TE Bvwg Beschluss 2020/10/30 I401 2234293-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.10.2020
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Entscheidungsdatum

30.10.2020

Norm

AVG §66 Abs2
BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs6
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z5
VwGVG §24 Abs2 Z1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs3 Satz2
VwGVG §31 Abs1

Spruch

I401 2234293-1/7E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Mag. Gerhard AUER über die Beschwerde des XXXX , StA. NIGERIA, vertreten durch Dr. Christoph SIGL, Rechtsanwalt, Kalchberggasse 1/I, 8010 Graz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark (BFA-St) vom 17.07.2020, IFA-Zahl/Verfahrenszahl: XXXX

A)

Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer wurde am 26.04.2019 in Österreich festgenommen. Über ihn wurde mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 29.04.2019 wegen Verdachtes des Verbrechens des Suchtgifthandels Untersuchungshaft verhängt.

Ein Auskunftsersuchen an das Polizeikooperationszentrum für Österreich-Italien-Slowenien hat ergeben, dass der Beschwerdeführer über einen unbefristeten italienischen Aufenthaltstitel mit einer bestimmten Nummer verfügt. Daraufhin wurde dem sich in der Justizanstalt befindenden Beschwerdeführer ein mit „Verständigung der Beweisaufnahme“ betiteltes Schreiben zugestellt. Er wurde von der beabsichtigten Erlassung eines Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot in Kenntnis gesetzt und ihm das damals aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Nigeria zur Kenntnis gebracht. Gleichzeitig wurde er aufgefordert, zu seinen persönlichen Verhältnissen in Österreich, Italien und Nigeria Stellung zu nehmen bzw. die dazu gestellten Fragen zu beantworten.

Mit Eingabe vom 02.07.2019 beantwortete er die gestellten Fragen in englischer Sprache und bat um Nachsicht, da er seit 17 Jahren in Italien lebe und leider nicht deutsch spreche. In der Stellungnahme gab er unter anderem an, in Italien mit seiner Lebensgefährtin und zwei leiblichen Kindern, die italienische Staatsangehörige seien, zusammenzuleben, über einen italienischen Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis zu verfügen und im Bereich Musikeventmanagement zu arbeiten.

Am 20.12.2019 wurde der Beschwerdeführer durch das Landesgericht für Strafsachen Graz wegen der Verbrechen des Suchtgifthandels und des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Jahren verurteilt. Einer Berufung dagegen wurde durch das Urteil des Oberlandesgerichts Graz vom 09.06.2020 keine Folge gegeben.

Mit Schreiben vom 17.06.2020 wurde der Beschwerdeführer neuerlich von der beabsichtigten Erlassung einer „Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot für den gesamten Schengenraum“ in Kenntnis gesetzt. Er wurde zugleich zur Beantwortung von Fragen zum Aufenthalt und persönlichen und familiären Verhältnissen in Österreich aufgefordert. Außerdem solle er eine Stellungnahme zum Länderbericht abgeben, der während der Amtsstunden bei einer Dienststelle des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark (in der Folge als Bundesamt bezeichnet) zur Einsicht aufliege. Eine Stellungnahme seitens des Beschwerdeführers unterblieb.

Mit angefochtenem Bescheid vom 17.07.2020 erteilte das Bundesamt dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen (Spruchpunkt I.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz (FPG) (Spruchpunkt II.), stellte fest, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG „nach Herkunftsstaat“ zulässig ist (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG gegen ihn ein unbefristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt IV.) und erkannte einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt V.).

Begründet wurde die Entscheidung im Wesentlichen mit der strafgerichtlichen Verurteilung und damit, dass der Beschwerdeführer aufgrund dessen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Einer Rückkehrentscheidung stünde Art. 8 EMRK nicht entgegen, da ein Privat- und Familienleben in Österreich nicht bestehe.

Zum italienischen Aufenthaltstitel und den familiären und privaten Verbindungen des Beschwerdeführers in Italien wurden weder Feststellungen getroffen, noch sind Überlegungen dazu in die rechtliche Beurteilung miteingeflossen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde vom 18.08.2020 in der lediglich die Schlussfolgerung, dass der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat abzuschieben sei, bestritten wird. Es wurde moniert, dass die privaten und familiären Verhältnisse in Italien nicht gewürdigt worden seien. Ein unbefristetes Einreiseverbot, das für den gesamten Schengenraum Geltung habe, hätte vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK nicht erlassen werden dürfen. Der Beschwerde wurden Kopien von italienischen Aufenthaltstiteln der minderjährigen Kinder und der Lebensgefährtin beigefügt, außerdem Auszahlungsbelege über Überweisungen an die Lebensgefährtin, ein italienischer Mietvertrag, ein Protokoll über die Gründung des Unternehmens des Beschwerdeführers sowie dessen Statuten und Steuerunterlagen.

Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 24.08.2020 zur Entscheidung vorgelegt und aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 12.10.2020 die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung I401 neu zugewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Feststellungen und Beweiswürdigung:

Der oben angeführte Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Dieser ergibt sich bedenkenlos aus dem vorgelegten Verwaltungsakt.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A):

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg. cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 1 BFA-VG (Bundesgesetz, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden, BFA-Verfahrensgesetz, BFA-VG), BGBl I 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist, die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss. Gemäß Abs. 3 sind auf die Beschlüsse des Verwaltungsgerichtes § 29 Abs. 1 zweiter Satz, Abs. 4 und § 30 sinngemäß anzuwenden. Dies gilt nicht für verfahrensleitende Beschlüsse.

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (...). (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013) § 28 VwGVG 11).

Zur aktuellen Judikatur zu § 28 Abs. 3 VwGVG ist festzuhalten, dass mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Sachentscheidungspflicht des Verwaltungsgerichtes ausgeführt wurde, dass die nach § 28 Abs. 3 VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme zur grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte darstellt. Das in § 28 VwGVG verankerte System verlange im Sinne der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.

Im angeführten Erkenntnis des VwGH wird diesbezüglich ausgeführt:

"Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden [...]".

Bei aufenthaltsbeendender Maßnahmen kommt der Verschaffung eines persönlichen Eindruckes besondere Bedeutung zu (VwGH 16.10.2014, Ra 2014/21/0039, 30.06.2015, Ra 2015/21/0002).

Bei der Dauer der Festsetzung eines Einreiseverbotes hat die Behörde abgesehen von der Bewertung des bisherigen Verhaltens des Fremden darauf abzustellen, wie lange die von ihm ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist (VwSlg. 8.295A mit weiteren Hinweisen). Diese Prognose ist nachvollziehbar zu begründen (VwGH a.a.O.).

Darüber hinaus ist bei der Entscheidung über die Dauer des Einreiseverbotes auch auf die privaten und familiären Interessen des Fremden Bedacht zu nehmen; im Hinblick darauf, dass die Maßnahme grundsätzlich das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten umfasst, ist auch auf das in einem anderen Mitgliedsstaat, für den die Rückführungsrichtlinie gilt, geführte Familienleben Bedacht zu nehmen (VwGH 28.05.2015, Ra 2014/22/0037).

Die Frage nach dem Eingriff in das Privat- und Familienleben eines Drittstaatsangehörigen darf nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt worden, sondern ist auch die Situation in anderen Mitgliedsstaaten in den Blick zu nehmen. Dies folgt unzweifelhaft daraus, dass Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot grundsätzlich auf das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten bezogen sein soll (VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, 26.03.2015, 2013/22/0284).

Dabei ist auch auf die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu verweisen (EGMR Urteil vom 16.04.2013, Udeh gg. Schweiz, Nr. 12020/09), wonach eine Ausweisung in einem zum Beschwerdeführer ähnlich gelagerten Fall, eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellt. Im genannten Urteil handelte es sich nämlich um einen Staatsbürger von Nigeria, der unter falscher Identität 2001 in die Schweiz eingereist war, zuvor in Österreich wegen Drogenhandels jedoch strafrechtlich verurteilt worden war und auch sein Asylantrag war abgewiesen worden. 2003 heiratete er eine Schweizer Staatsangehörige, mit der er gemeinsame Zwillingstöchter hat (2003 geboren); mittlerweile war er geschieden und hat mit einer anderen Schweizerin ein weiteres Kind. Der Beschwerdeführer wurde 2006 in Deutschland erneut wegen Drogenhandels zu drei Jahren und sechs Monaten Haftstrafe verurteilt, jedoch bereits 2008 entlassen und ist wieder in die Schweiz zurückgekehrt. 2009 wurde gegen den Beschwerdeführer eine Ausweisungsanordnung erlassen. Laut EGMR liegt es aber im höherrangigen Interesse der Kinder, bei beiden Elternteilen aufzuwachsen, daher ist eine Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz für den Beschwerdeführer die einzige Möglichkeit, um einen regelmäßigen Kontakt zu seinen Zwillingstöchtern aufrechterhalten zu können. Unter Beachtung seiner familiären Beziehung zu seinen Kindern, seiner Straflosigkeit nach Begehung der schweren Straftat im Jahr 2006 und somit einer positiven Zukunftsprognose stellt der EGMR im Falle der Ausweisung des Beschwerdeführers eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest.

Erstmals benannte der EGMR im Urteil Üner in Erweiterung der BOULTIF-Kriterien das Kindeswohl als eigenständiges Kriterium der Interessensabwägung. In diesem Urteil wurde das Kindeswohl (als untergeordnetes Element) sowie das sehr stark ausgeprägte Privat- und Familienleben des Vaters (noch) von den ebenfalls sehr gewichtigen öffentlichen Interessen an einem Aufenthaltsverbot überwogen. Im Urteil Rodrigues da Silva und Hoogkamer überwog das explizit genannte Kindeswohl die öffentlichen Interessen an einer Ausweisung. [...] Aus diesen Urteilen ist erkennbar, dass der EGMR in zunehmender Intensität die Bedeutung der Beziehung zwischen Kindern und dem Elternteil, welches die wichtigste Bezugsperson für diese ist, für das Kindeswohl anerkannt hat. Mit den Urteilen Nunez und Udeh hat der EGMR nunmehr hervorgehoben, dass es für das Kindeswohl von großer Bedeutung ist, mit beiden Elternteilen aufzuwachsen. Gleichzeitig wurde das Recht des Beschwerdeführers auf ein gemeinsames Leben (mit der Kernfamilie) als eines der grundlegenden Aspekte des Rechtes auf Achtung des Familienlebens hervorgehoben. In einer Gesamtbetrachtung in der das Kindeswohl zu berücksichtigen ist, tritt jedoch die Frage, ob das Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist (bzw. das Kind zu einem Zeitpunkt geboren wurde), in dem der Aufenthalt eines Elternteils unsicher war, in den Hintergrund (Chmielewski, Kindeswohl als Kriterium der Interessensabwägung, MIGRALEX, 03/2013, 71).

In diesem Zusammenhang ist aber auch besonders das Kindeswohl (vgl. auch Urteil des EGMR v. 28.06.2011, Nunez gegen Norwegen, Kammer IV, Bsw Nr. 55-597/09) zu berücksichtigen, das in diesem Zusammenhang auf Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention verweist, wo das Wohl des Kindes als vorrangiger Gesichtspunkt hervorgestrichen wird (vgl. z. B. auch AsylGH vom 17.04.2012, Zl. D3 401794-1/2008/9E, AsylGH vom 04.06.2012, Zl.: D3 414251-2/2011/5E u.a.).

Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR-Urteil vom 16.04.2013, Udeh gegen Schweiz, Nr. 12020/09) besteht eine gewisse Priorität zumindest des Familienlebens gegenüber der Unbescholtenheit (siehe zum Beispiel auch BVwG vom 30.10.2015, W159 1248124-2/15E).

Wenn auch im fremdenpolizeilichen Verfahren keine so eindeutige gesetzliche Regelung hinsichtlich der Verpflichtung der persönlichen Einvernahme vor den wie in Asylverfahren (§ 19 AsylG 2005), so ergibt sich aus der oben angeführten ständigen eindeutigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes doch das unabdingbare Erfordernis der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vor Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, was nur durch eine persönliche Einvernahme gewährleistet wird, welche im vorliegenden Verfahren von der belangten Behörde völlig unterlassen wurde.

Darüber hinaus hat sich das Bundesamt auch in keiner Weise mit dem Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers in Italien und seinen dortigen Lebensverhältnissen (Ausüben einer Erwerbstätigkeit) auseinandergesetzt. Es musste dem Bundesamt nach Anfrage an das Polizeikooperationszentrum für Österreich-Italien-Slowenien (AS 25 ff) bekannt gewesen sein, dass der Beschwerdeführer über einen italienischen Aufenthaltstitel verfügt. Spätestens nach seiner Stellungnahme zu dem ihm gewährten Parteiengehör vom 02.07.2019, in der er die in Italien lebende Lebensgefährtin und die zwei minderjährigen Kinder angab sowie seine Tätigkeit als Musikeventmanager schilderte, war für das Bundesamt erkennbar, dass diesbezüglich detailliertere Ermittlungen angestellt hätten werden müssen. Auch wenn der Beschwerdeführer seine Eingabe in englischer Sprache verfasste, hätte sich unmittelbar ergeben, dass er die italienische Staatsangehörigkeit seiner Kinder und den Umstand, dass er über einen italienischen Aufenthaltstitel verfügt, nicht bloß behauptete. Diese Angaben wären zu prüfen gewesen und bei Sprachbarrieren jedenfalls eine niederschriftliche Einvernahme unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers geboten gewesen.

Stattdessen forderte es den Beschwerdeführer nach Bekanntwerden des Berufungsurteiles auf, Stellung zu seinen persönlichen und familiären Verhältnissen in Österreich zu machen. Fragen zu seinen Angehörigen und dem Privatleben in Italien wurden nicht gestellt. Auch das aktuelle Länderinformationsblatt wurde dem Beschwerdeführer nicht übermittelt, jedoch zur Abgabe einer Stellungnahme dazu aufgefordert. Obwohl er sich in Haft befand, hätte er Einsicht in einer Geschäftsstelle des Bundesamts nehmen können.

Zum Privat- und Familienleben werden insbesondere die Widersprüche zwischen den erteilten italienischen Aufenthaltstiteln der Familienangehörigen („permesso di soggiorno - soggiornante di lungo periodo-UE“ [dt. Aufenthaltstitel - EU-Landzeitbewohner]) und den Angaben des Beschwerdeführers, dass seine Kinder italienische Staatsangehörige („italian citizens“, AS 121) seien, zu prüfen sein.

Im fortgesetzten Verfahren bedarf es auch einer Beurteilung, ob im vorliegenden Fall nicht mit einer Anordnung nach § 52 Abs. 6 FPG, dass der Beschwerdeführer sich nach Entlassung aus der Strafhaft unverzüglich in das Hoheitsgebiet Italiens begibt, das Auslangen gefunden werden kann, wenn sich tatsächlich das Bestehen eines Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers in Italien ergeben sollte.

Im Übrigen gilt es darauf hinzuweisen, dass im Spruchpunkt III. gemäß § 52 Abs. 9 FPG zwar die Abschiebung gemäß § 46 FPG für zulässig erachtet wird, jedoch ohne einen bestimmten Herkunftsstaat anzuführen („nach Herkunftsstaat“). Im Lichte des Kindeswohls, wie oben ausgeführt, werden auch Ermittlungen anzustellen sein, inwieweit sich eine Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem (unbefristeten) Einreiseverbot auf das Fortkommen der Frau und Kinder in Italien auswirkt, sollte der Beschwerdeführer (permanent) von seiner Familie getrennt werden.

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass das Bundesamt jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit hinsichtlich der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks und des Bestehens eines Privat- und Familienlebens in einem Mitgliedsstaat, im konkreten Fall in Italien, unterlassen hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof zu der quasi eine Vorgängerbestimmung des anzuwendenden § 28 Absatz 3 VwGVG darstellenden § 66 Absatz 2 AVG ausgeführt hat, dass es nicht im Sinne des Gesetzgebers wäre, wenn nahezu das gesamte Verfahren vor die Berufungsbehörde (nunmehr Verwaltungsgericht) verlagert würde und die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen zur bloßen Formsache würde, [...] bzw. dass eine ernsthafte Prüfung des Antrages erst bei der "obersten Berufungsbehörde (nunmehr: Verwaltungsgericht) beginnen würde (VwGH 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315; 21.12.2000, Zl. 2000/20/0084).

In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass im vorliegenden Verfahren jedenfalls die in der eingangs zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs genannten besonders gravierenden Ermittlungslücken vorliegen. Der Beschwerdeführer wäre für das Bundesamt jederzeit greifbar gewesen, da er sich seit 27.04.2019 in Untersuchungs- bzw. Strafhaft befindet. Es ist nicht ersichtlich, warum das Bundesamt dem Beschwerdeführer lediglich die Möglichkeit einräumte, schriftlich Stellung zu nehmen, noch dazu nur zu Fragen, die auf seine Lebensumstände in Österreich Bezug nahmen. Seine, auch dem Bundesamt bekannten, familiären und privaten Verhältnisse in Italien, insbesondere unter Zugrundelegung des nachweislich bekannten Aufenthaltstitels von Italien, blieben gänzlich unberücksichtigt. Zudem hat der Beschwerdeführer bereits in seiner Antwort auf das erste Parteiengehör angegeben, der deutschen Sprache nicht mächtig zu sein und wäre schon deshalb die Einvernahme mittels eines Dolmetschers (in italienischer oder englischen Sprache) angezeigt gewesen.

Eine Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall ist weder im Interesse der Raschheit gelegen noch mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden, da abgesehen von den dargelegten umfassenden Ermittlungen auch eine weitere Befragung des Beschwerdeführers unumgänglich ist und würde überdies im Falle einer Ersetzung der verwaltungsbehördlichen Einvernahme durch eine Beschwerdeverhandlung dem Beschwerdeführer die Rechtsmittelinstanz verlustig werden.

Deshalb war der angefochtene Bescheid wegen des engeren Zusammenhangs aller Spruchteile zur Gänze gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG mit Beschluss aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen. Da der angefochtene Bescheid zur Gänze aufzuheben war, erübrigte sich auch eine Entscheidung zur Frage der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.

Im vorliegenden Fall konnte die Verhandlung im Sinne des § 24 Abs. 2 VwGVG entfallen, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststand, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben war.

Zu Spruchpunkt B) - Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt.

Weder noch fehlt es an einer Rechtsprechung, noch weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfragen vor.

In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchpunkt A) wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausgeführt, dass im Verfahren vor dem Bundesamt notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt keine grundsätzliche Rechtsfrage vor, weil § 28 Abs. 3 2. Satz inhaltlich § 66 Abs. 2 AVG (mit Ausnahme des Wegfalls des Erfordernisses der Durchführung einer mündlichen Verhandlung) entspricht und die Judikatur des VwGH betreffend die Zurückverweisung wegen mangelhafter Sachverhaltsermittlungen heranzuziehen ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat überdies bereits festgehalten, dass die Revision wegen der Einzelfallbezogenheit der Entscheidung über die Anwendung des § 28 Abs. 3 VwGVG keine grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG begründet (vgl. VwGH 25.01.2017, Ra 2016/12/0109).

Im Übrigen wurde die gegenständliche Entscheidung mit der gefestigten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, aber auch insbesondere mit aktueller Judikatur des EGMR begründet.

Schlagworte

aktuelle Länderfeststellungen aufenthaltsbeendende Maßnahme aufschiebende Wirkung - Entfall Behebung der Entscheidung Einreiseverbot Ermittlungspflicht Gesamtbetrachtung Interessenabwägung Kassation mangelhaftes Ermittlungsverfahren mangelnde Sachverhaltsfeststellung öffentliche Interessen öffentliche Ordnung öffentliche Sicherheit persönlicher Eindruck Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung Zurückverweisung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:I401.2234293.1.00

Im RIS seit

10.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

10.03.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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