TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/9 L526 1304063-5

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.11.2020
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Entscheidungsdatum

09.11.2020

Norm

BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55
VwGVG §28 Abs1

Spruch


L526 1304063-5/39E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. Sunar, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.07.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.06.2020 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf sechs Jahre hinaufgesetzt wird.

II. Gemäß 28 Abs. 1 VwGVG, Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz), BGBl I 33/2013 idgF und § 18 (5) BFA-VG, BGBl I Nr. 87/2012 idgF wird festgestellt, dass die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid zu recht erfolgte.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. Sunar, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.07.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.06.2020 den Beschluss gefasst:

A III) Der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

I.1. Die beschwerdeführende Partei (in weiterer Folge kurz als bP bezeichnet), ist Staatsangehöriger der Republik Türkei.

Sie stellte am 24.08.2005 durch seine anwaltliche Vertreterin einen schriftlichen Asylantrag mit der Begründung, sie werde als Kurde in der Türkei verfolgt. Sie brachte den Antrag am 10.10.2005 persönlich bei der belangten Behörde (bB) ein. Zu den Ausreisegründen befragt schilderte die bP in der Folge, dass sie an einer Kundgebung der (ehemaligen kurdischen Partei) DEHAP teilgenommen habe, die jedoch von der Polizei aufgelöst wurde. Einige Teilnehmer seien auch festgenommen und später wieder freigelassen worden, sie selbst habe aber flüchten können und sich danach in Istanbul aufgehalten. Es werde in der Türkei offiziell nicht nach ihr gesucht, auch sei kein Verfahren gegen sie anhängig, das Heimatdorf stehe aber unter Kontrolle des Militärs, weshalb die bP bei einer Rückkehr behördliche Maßnahmen gegen sie befürchte.

I.2. Mit Bescheid vom 13.07.2006 hat das Bundesasylamt den Asylantrag der bP gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs 1 AsylG 1997 wurde die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der bP in die Türkei für zulässig erklärt (Spruchpunkt II.) und diese gemäß § 8 Abs 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

Im Rahmen ihrer Beweiswürdigung führte die Behörde aus, das Vorbringen der bP zu den angeblich fluchtauslösenden Ereignissen als nicht glaubhaft zu qualifizieren gewesen sei.

Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 07.06.2011, Zl. XXXX wurde die Beschwerde der bP gegen den Bescheid vom 13.07.2016 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich Spruchpunkt I und II gemäß § 7 und § 8 Abs. 1 AsylG 1997 idgF als unbegründet abgewiesen. Der Beschwerde wurde hinsichtlich Spruchpunkt III gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 1997 iVm § 10 Abs. 2 und Abs. 5 AsylG 2005 idgF stattgegeben und festgestellt, dass die Ausweisung der bP aus dem Bundesgebiet in die Türkei auf Dauer unzulässig ist.

Festgehalten wurde in diesem Erkenntnis unter anderem, dass eine Verfolgungsgefahr nicht festgestellt werden könne. Dem Vorbringen der bP wurde nicht gefolgt. Selbst bei Wahrunterstellung der von der bP erstinstanzlich behaupteten Ereignisse sei nicht davon auszugehen, dass sich aus diesen früheren behördlichen Maßnahmen ein bis heute andauerndes Verfolgungsinteresse von asylrelevanter Intensität, das gegen die bP selbst gerichtet wäre, ableiten ließe.

Im Hinblick auf die Integration der bP, insbesondere vor dem Hintergrund der Lebensgemeinschaft und Ehe der bP mit einer Österreicherin mit türkischen Wurzeln und der seit 2008 bestehenden selbstständigen Beschäftigung der bP ging der Asylgerichtshof jedoch davon aus, dass durch die Ausweisung der bP gravierend in ihr Privat- und Familienleben eingegriffen werden würde.

In Abwägung weiter angeführter Umstände (Erwerbstätigkeit, Deutschkenntnisse, soziale Kontakte) war aus Sicht des Asylgerichtshofes zum Ergebnis zu gelangen, dass das Interesse an der Weiterführung des bestehenden Privat- und Familienlebens in Österreich das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts nach Abweisung des Schutzbegehrens überwog. Die bestehende Verurteilung wurde als Bagatelldelikt eingestuft. Es wurde auch davon ausgegangen, dass Integration und Bindungen in Österreich von Dauer sind, woraus gefolgert wurde, dass die Ausweisung der bP gemäß § 10 Abs. 5 AsylG 2005 idgF auf Dauer unzulässig zu erklären war.

I.3. Die bP wurde zwischen 2010 und 2018 insgesamt 7 Mal strafrechtlich in Österreich verurteilt. Zuletzt wurde über sie mit 23.11.2018 eine unbedingte Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verhängt und wurde die zuvor gewährte bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe wegen der Verurteilung im Jahr 2017 widerrufen.

I.4. Bereits am 10.11.2017 wurde die belangte Behörde (in weiterer Folge kurz „bB“ genannt) vom Stadtmagistrat XXXX als Niederlassungsbehörde um Prüfung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen die bP ersucht.

I.5. Mit Schreiben der bB vom 30.11.2017 wurde der bP mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen die bP zu erlassen. Es wurde ihr ein Fragenkatalog zur Beantwortung übermittelt.

Eine Stellungnahme langte am 14.12.2017 ein.

Die bP gab im Wesentlichen an, seit Oktober 2005 in Österreich zu sein, einen Sohn zu haben und bei der Lebensgefährtin zu wohnen. Sie sei in einem Cafe beschäftigt und verdiene ca. 1.400,-- Euro. Vorher sei sie in anderen Lokalen beschäftigt oder selbständig gewesen, hätte aber nie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder Mietbeihilfe bekommen. Weder im Heimatland noch in anderen Ländern in Europa sei sie gerichtlich verurteilt worden.

Sie sei gesund, habe sehr viele Freunde und Stammgäste und ein gutes Verhältnis zu ihrem Sohn. Sie möchte den Sohn aufwachsen sehen und hätte auch zu den Töchtern der Lebensgefährtin ein gutes Verhältnis. Sie sei Kurde und habe es deshalb in der Türkei sicher schwer. Sie spreche gut Deutsch, hätte sich gut angepasst und mache Tirolerabende im Lokal. Sie habe aus ihren Fehlern gelernt und hoffe, nochmals eine Chance zu bekommen und keine Straftaten mehr zu begehen.

I.6. Am 10.08.2018 wurden der bB die verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen der bP vom Magistrat XXXX (insgesamt 16) sowie der LPD XXXX (insgesamt 11) übermittelt.

I.7. Am 09.08.2018 wurde vom Bezirksgericht XXXX , XXXX über das Vermögen der bP ein Schuldenregulierungsverfahren eröffnet.

I.8. Am 30.08.2018 wurde die bP zur Prüfung eines Aufenthaltsverbotes im Beisein der Lebensgefährtin als Vertrauensperson von einem Organwalter des BFA in deutscher Sprache einvernommen.

Insbesondere gab die bP an:

F: Wie ist Ihr aktuelles Verhältnis zu XXXX – es gab im letzten Jahr einmal einen Polizeieinsatz und eine Wegweisung?

A: Da gab es aber keine Anzeige, es war einfach ein normaler Streit, da ich nicht wollte dass Carmen so viel trinkt.

F: Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer geschiedenen Frau?

A: Nein, überhaupt keinen.

F: Wo wohnt Ihre Ex-Frau?

A: Ich glaube sie ist zurück bei Ihrer Familie in Dornbirn.

F: Wie geht es Ihrem Sohn?

A: Es geht ihm gut.

F: Wie ist das Verhältnis zu seiner Mutter – Frau XXXX ?

A: Das Verhältnis ist normal, wir haben Kontakt wegen dem Sohn.

F: Wie oft sehen Sie Ihren Sohn?

A: Zwei – bis dreimal wöchentlich. Ich hole ihn oft Vormittag ab.

F: Welchen Kindergarten besucht Ihr Sohn?

A: Vorher in der XXXX neben dem Spar und dann in der XXXX Straße wo auch die Schule ist.

F: Was machen Sie in dieser gemeinsamen Zeit?

A: Schwimmen, einkaufen,

F: Was ist das Lieblingsspielzeug Ihres Sohnes?

A: Das Handy.

F: Und sonst – ein fünfjähriger wird doch auch was anderes haben.

A: Lego spielen und Video spielen – Playstation und so.

F: Bezahlen Sie die Alimente derzeit?

A: Ja, 365,-- Euro im Monat. Im November habe ich die Verhandlung wegen meinem Privatkonkurs, aufgrund der Schulden, welche ich noch von meiner früheren Firma, einer Pizzeria habe.

F: Was macht ihr Sohn im Herbst?

A: Er geht noch Kindergarten, da er erst im Dezember 6 Jahre alt wird.

F: Haben Sie ein Foto von ihm?

A: Ja, viele. Aber ich habe blöderweise mein Handy zu Hause und nicht mit,. Auf dem Handy wären auch die Anrufe nachverfolgbar. Er ruft mich immer wieder an.

F: Ist Ihnen bewusst, dass ich Frau XXXX zu diesen Aussagen befragen kann.

A: Ja, das können Sie ruhig tun. Sie wird es bestätigen, Sie können auch die Oma von XXXX fragen.

F: Was machen Sie in der Pizzeria von XXXX XXXX ?

A: Ich mache eigentlich alles – Koch und Kellner.

F: Haben Sie noch andere Angehörige in Österreich?

A: Ja mein Bruder wohnt auch in XXXX , ich habe aber seit ca. 2 Jahren keinen Kontakt mehr mit ihm, da wir gestritten haben. Ich habe auch eine Schwester in XXXX in der Steiermark, mit der habe ich guten Kontakt.

F: Gab es nach Ihrer Entlassung aus der JA irgendwelche sicherheitsrelevanten Vorfälle?

A: Wir hatten Streit im Lokal, da XXXX wieder trank. Meine Lebensgefährtin rief die Polizei, diese fragte ob Sie eine Aussage machen möchte, was sie verneineinte und sagte es war nur eine „Rauschpartie. Am nächsten musste ich zur Einvernahme zur PI Flughafen. Ca. eine Woche später gab es eine anonyme Anzeige wegen Drogen, das stimmte aber nicht.

F: Wieviel trinken Sie Alkohol?

A: Seit meiner Entlassung aus der JA nichts mehr.

I.9. Am 03.09.2018 wurde das mit 18.09.2017 eingeleitete Verfahren gegen die bP mit Aktenvermerk von der bB eingestellt, da die Behörde erwogen hat, dass das Interesse am Privat- und Familienleben das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegt.

I.10. Am 27.09.2018 und 28.09.2018 bedrohte und verletzte die bP ihre Lebensgefährtin im Rahmen eines Streites, weshalb gegen die bP ein Betretungsverbot gem. § 38a SPG ausgesprochen wurde.

I.11. Am 30.09.2018 wurde über die bP die Untersuchungshaft verhängt und mit Rechtskraft vom 23.11.2018 wurden die bP wegen gefährlicher Drohung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

I.12. Mit Schreiben vom 18.12.2018 wurde der bB ein weiteres Parteiengehör gewährt und langte am 22.12.2018 eine Stellungnahme ein. Ausgeführt wurde, dass die bP Kurde sei und seit 14 Jahren in Österreich lebe. Sie sei in einem Cafe bis zur Inhaftierung beschäftigt gewesen und stehe ihr dieser Arbeitsplatz auch nach der Verbüßung der Haftstrafe zur Verfügung. Sie sei sozial integriert und lebe seit langer Zeit mit XXXX in einer Lebensgemeinschaft. Sie würden auch während der Haft regelmäßigen Kontakt haben. Zudem pflege die bP zu ihrem Kind und der Kindesmutter ein gutes soziales Verhältnis und sehe sie den Sohn mehrmals wöchentlich. Die Unterhaltsverpflichtungen würden pünktlich erfüllt. Die bP pflege auch aufrechten Kontakt mit der in Österreich lebenden Schwester.

In der Türkei drohe der bP aufgrund der kurdischen Abstammung und der instabilen politischen Situation eine politische Verfolgung und möglicherweise eine Haft. Sie bP sei selbsterhaltungsfähig und voll integriert. Es werde beantragt, den weiteren Aufenthalt zu genehmigen, auch zur Aufrechterhaltung des Kindeswohls des Sohnes sowie des sozialen Gefüges der Familie und um eine politische Verfolgung ihrer Person in der Türkei abzuwenden.

I.13. Die Mutter des Kindes in Österreich teilte der bB über deren Anfrage mit 07.01.2019 mit, dass die bP ständig für die Fürsorge des Sohnes da gewesen sei. Sie sei ein fleißiger Mann, welcher durch die kriminelle Energie der aktuellen Lebensgefährtin ins Verderben geführt worden wäre.

I.14. Mit Bescheid der bB vom 22.02.2019 wurde aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten weiteren Verurteilung ein Aufenthaltsverbot gegen die bP erlassen. Dieser Bescheid wurde vom BVwG behoben und die Angelegenheit an die bB zurückverwiesen, da die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts in wesentlichen Punkten unterlassen worden wäre.

I.15. Der bB wurden mit Schreiben vom April 2019 die zwei konkrete Anzeigen gegen die bP vom 15.11.2016 und 15.06.2017 übermittelt. Mitgeteilt wurde, dass seit der letzten Übermittlung 2018 keine weiteren Taten hinzugekommen sind.

I.16. Mit Bescheid vom 03.05.2019 wurde neuerlich ein Aufenthaltsverbot gegen die bP erlassen. Dieser Bescheid wurde vom BVwG mit Entscheidung vom 28.06.2019 unter Berücksichtigung der Judikatur des VwGH behoben, wonach auch türkische Staatsangehörige mit Aufenthaltsberechtigung nach dem Assoziationsabkommen sonstige Drittstaatsangehörige sind und daher dem Wortlaut nach § 52 FPG unterliegen.

I.17. Mit Schreiben der bB vom 08.07.2019 wurde der bP eine weitere Gelegenheit geboten, eine Stellungnahme abzugeben.

Im Wesentlichen wurden die Angaben der letzten Stellungnahme wiederholt, insbesondere zum strafrechtsrelevanten Verhalten. Es wurden verschiedene Verwandte der bP angeführt, welche in Österreich bzw. innerhalb der EU leben. Die bP verfüge über einen Aufenthaltstitel für Österreich und sei in der Türkei in XXXX geboren. Sie sei kranken- und unfallversichert und stehe als Freigänger in einer Beschäftigung in einem Hotel. Sie sei gesund und weise einen hohen Integrationsgrad auf. Sie werde bald mit der Lebensgefährtin, welche Österreicherin sei, eine Ehe schließen und habe zum Herkunftsland keine Bindungen mehr, während in Österreich auch der Sohn lebe.

I.18. Mit im Spruch genannten Bescheid wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 iVm § 9 BFA-VG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig ist. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde ein auf 3 Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen und gemäß § 55 keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt. Die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG aberkannt.

I.18.1. Von der belangten Behörde (bB) wurde der Inhalt der Fremdenakte, die Verurteilungen der verschiedenen Gerichte, Auszüge aus der BM.I Anfrage-Plattform (KPA, IZR, SA, ZMR, AJ-WEB), die Anfragebeantwortungen hinsichtlich der Verwaltungsstrafen bzw. dem Waffenverbot und die von der bP vorgelegten Unterlagen bzw. Stellungnahmen zugrunde gelegt.

I.18.2. Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die belangte Behörde das Verhalten der bP als schwerwiegende und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und sei aus diesem Grund die Erlassung von Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbotes auch gegen die gemäß Art. 6 ARB privilegierte bP geboten. Die bP würde zwar familiäre und sonstige Bindungen zu Österreich aufweisen, die schwere Straffälligkeit würde im Rahmen der Interessensabwägung jedoch eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen.

I.18.3. Konkret hielt die bB vor allem in Bezug auf das Einreiseverbot fest:

Die Feststellungen, dass Sie verwaltungsrechtlich bestraft wurden ist Mitteilungen der LPD Tirol und des Stadtmagistrates XXXX , jeweils datiert vom 10.08.2018, entnommen.

Die Feststellung, dass Sie diese Taten teilweise unter Alkoholeinfluss gesetzt haben ergibt sich aus den Gerichtsurteilen und Ihren Aussagen. Sie haben in Ihrer Einvernahme ausgesagt nichts mehr zu trinken, hatten auch einige Monate in der Justizanstalt keinen Zugang zu Alkohol und hatten trotzdem in der Nacht zum 28.09.2018 0,62 mg/l Atemalkoholgehalt. Dieser wurde von Polizeibeamten gemessen, nachdem Ihre Lebensgefährtin aufgrund Ihrer gefährlichen Drohungen die Polizei verständigt hatte.

Sie respektieren die Gesetzesordnung und die staatliche Ordnung in Österreich nicht und zeigen dies fortgesetzt. Sie stellen deswegen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Aus der Vielzahl der Verurteilungen ergibt sich daher für die Behörde zur Beurteilung Ihres Unrechtbewusstseins folgendes Bild:

Ihre Verurteilungen werden nicht alleinig als Begründung für die Erlassung des Einreiseverbotes herangezogen, sie dienen zur Veranschaulichung, dass Sie nicht gewillt sind, sich an die österreichischen Gesetze zu halten. Es ist deutlich ersichtlich, dass Sie nicht gewillt sind, sich den österreichischen Rechtsnormen zu unterwerfen. Die Behörde gelangt zur Überzeugung, dass von Ihnen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgeht und somit die Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot gegen Ihre Person eine geeignete Maßnahme zur Wahrung von Ordnung und Sicherheit im Bundesgebiet von Österreich ist.

Die erkennende Behörde verkennt nicht, dass sie die Taten, wegen derer Sie verurteilt wurden teilweise im Zustand schwerer Alkoholisierung und dadurch nur mit eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit begangen haben. Dessen ungeachtet unternahmen Sie offenbar jedoch nichts gegen Ihr Alkoholproblem uns setzten Ihre strafbaren Handlungen, wie aus den Verurteilungen ersichtlich, stetig und sogar intensiver fort. Somit steht fest, dass Ihr Verhalten klar erkennen lässt, dass Sie nicht gewillt sind die österreichischen Rechtsvorschriften einzuhalten. Sie haben Ihre negative Einstellung zur geltenden Rechtsordnung mehrmals bewiesen.

In Ihrer Beschwerde vom 03.06.2019 geben Sie an, nach der Haftentlassung die Arbeitszeiten so zu wählen, dass sie nach 19:00 Uhr nicht mehr im Betrieb anwesend sein müssen, um den Konsum von Alkohol zu vermeiden. Die erkennende Behörde stellt diese grundsätzlich positive Entwicklung nicht in Frage, es besteht aufgrund der Häufigkeit und Fortgesetztheit Ihres bisherigen Verhaltens über mehrere Jahre trotzdem die latente Gefahr, dass Sie auch hinkünftig gleichartige Vergehen und Verbrechen begehen werden. Jedenfalls spricht zum momentanen Zeitpunkt zu wenig dafür, dass Sie Ihren Lebensstil dahingehend ändern werden, weshalb gegen Sie das Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren der Behörde als angemessen erscheint.

I.18.4. Zur abschieberelevanten Lage in der Republik Türkei traf die belangte Behörde Feststellungen und ging die Behörde davon aus, dass nichts gegen eine Rückkehr in die Heimat spricht.

I.18.5. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass die Rückkehrentscheidung keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK darstelle und aufgrund der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein Einreiseverbot in der Höhe von 3 Jahren zu erlassen sei.

I.19. Gegen den Bescheid der bB vom 19.07.2019 wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben und beantragt, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Die bP führte aus, dass die Straffälligkeit der bP auf die Tätigkeit in der Gastronomie bis in die späten Nachtstunden und auf den Alkoholkonsum zurückzuführen sei. Der Lebensgefährtin der bP zufolge sei die bP der „beste Mensch“, wenn er nicht zu viel Alkohol konsumiert habe. Zumindest die letzten beiden Verurteilungen hätten einen beruflichen Hintergrund bzw. resultierten aus einem Beziehungsstreit mit der Lebensgefährtin. Festzuhalten sei, dass die Lebensgefährtin immer noch zur bP halte und sie unterstützte. Nach Haftentlassung wolle das Paar auch eine Ehe schließen und erhelle sich daraus, dass sich die bP geändert hat, da ansonsten die Lebensgefährtin einer Heirat nicht zustimmen würde. Die bP werde nach der Haftentlassung nicht mehr in der Gastronomie beschäftigt sein und in ein anderes Berufsfeld wechseln, um die Ursache für ihr Fehlverhalten aufzuheben. Es sei in Betracht zu ziehen, das die bP aus der Türkei geflohen sei und aufgrund der negativen Erlebnisse dort traumatisiert wäre. Trotz dieses Umstandes sei sie stets um Beschäftigung bemüht gewesen. Sie habe auch die komplizierten Zusammenhänge im Bereich der selbstständigen Beschäftigung gut erfasst. Die Integration sei der bP gelungen und bestehe der Freundeskreis fast ausschließlich aus Österreichern.

Die den Verurteilungen zwischen 2014 und 2016 zugrunde liegenden Sachverhalte seien von den Strafgerichten sehr milde beurteilt worden. Die letzte Verurteilung sei auf einen Sachverhalt in der Beziehungsebene mit der Lebensgefährtin zurückzuführen und habe diese zwar im Strafverfahren gegen die bP ausgesagt, sei jedoch entschlossen, die Lebensgemeinschaft in ein Eheleben zu verwandeln, weshalb davon auszugehen sei, dass die „bedrohte Person“ die Drohung nicht ernst nimmt und von einer Äußerung ausgeht, die situationsbedingt getätigt worden ist. Zudem sei die bP bei der Begehung der Straftaten in den Jahren 2014 und 2017 vermindert zurechnungsfähig gewesen.

Die bB habe bereits am 03.09.2018 eine positive Zukunftsprognose gestellt. Es könne nicht sein, dass nun aufgrund einer Verurteilung vom XXXX .2018 nunmehr eine negative Zukunftsprognose ausgestellt wird, obwohl die letzte Verurteilung auf einen Sachverhalt zurückgeht, der sich auf Beziehungsebene ereignet habe und wobei das Opfer ihn nunmehr heiraten wolle.

Der bP stünde eine Rechtsposition aus Art. 6 ARB zu und habe Lebensgefährtin und Sohn in Österreich. Die bP weise einen hohen Integrationsgrad auf und habe keinen Kontakt zum Herkunftsland, wobei sie seit 2005 lediglich 2 Mal im Herkunftsland gewesen sei. Zum Vater bestünde kaum Kontakt. Die Vollziehung des „Aufenthaltsverbotes“ würde sich auf das Familienleben mit dem Kind in Österreich unverhältnismäßig hart auswirken. Die bB habe die Einvernahme der Lebensgefährtin zu Unrecht unterlassen. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass durch den Aufenthalt der bP die öffentliche Sicherheit nachhaltig und maßgeblich gefährdet werden würde.

Zu den Länderfeststellungen wurde ausgeführt, dass es im Bereich der Reformen in der Türkei nach den Gezi Park Protesten 2013 zu einem Stillstand gekommen sei. Aufgrund der Eskalation des Konfliktes mit der PKK und PYD in Syren und der massenhaften Migration aus Syrien bestünde die Gefahr des Ausbruchs eines Bürgerkrieges. Es gäbe gesellschaftliches Konfliktpotential und sei die Wahrung der Menschenrechte in der Türkei zunehmend nicht möglich. Es käme zu Problemen bei Demonstrationen und müsse insgesamt von einer terroristischen Gefährdung und lebensbedrohenden Situation in allen Teilen der Türkei ausgegangen werden. Die Türkei entferne sich von rechtsstaatlichen Strukturen und Prinzipien. Wenn für die bP nun schon vor 14 Jahren Gründe vorlagen, aus dem Heimatland zu flüchten, so wären nun erheblich mehr Gründe gegeben, um nicht in die Türkei zurückzukehren. Die zeugenschaftliche Einvernahme der Lebensgefährtin im Rahmen einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.

I.20. Eine Anfrage des Bundesverwaltungsgeriches ergab, dass das voraussichtliche Haftende mit 28.11.2020 festgesetzt ist.

Die Beschwerdevorlage langte am 19.08.2019 beim Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Linz ein.

I.21. Mit Schreiben des BVwG vom 20.07.2019 wurde die bP zur Mitwirkung im Rahmen des Verfahrens aufgefordert und wurde ihr eine Frist von 1 Woche gewährt zur Auskunftserteilung betreffend allfällig in Anspruch genommener Therapien oder einer vorzeitigen Haftentlassung.

I.22. Nach einer Fristerstreckung auf Antrag der rechtsfreundlichen Vertretung der bP langte am 16.09.2019 eine Stellungnahme durch die rechtsfreundliche Vertretung der bP ein.

Ausgeführt wurde, dass die bP bereits nach der vorletzten Verurteilung eine Beratungsstelle aufgesucht habe und nunmehr keinen Alkohol mehr konsumiere. Sie werde die Therapie nach Enthaftung fortsetzen und auch versuchen, eine Gewalttherapie machen zu können. Unterlagen hierzu würden nachgereicht werden.

I.23. Am 23.09.2019 langte eine Urkundenvorlage und Mitteilung ein. Vorgelegt wurden eine Kopie des Reisepasses und Schreiben des Suchthilfevereins, welchen die bP im Rahmen einer Gesprächstherapie besuche. Die bP sei bemüht, vom Alkoholkonsum abzukommen und würde sich die Neigung zur Gewalt von selbst erledigen, wenn sie ihr Alkoholkonsumverhalten in den Griff bekommt.

I.24. Für den 02.06.2020 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Beschwerdeverhandlung. Die RI teilt mit, dass die für Vormittag geplante Zeugenbefragung wegen Maßnahmen aufgrund der Corona-Pandemie wieder abgesagt werden musste (siehe Akt). Der von der bP beantragten Zeugin, Frau XXXX , wurde jedoch freigestellt, die bP zu begleiten und im Zuge der Befragung der bP eine Aussage zu machen. Die Lebensgefährtin wurde in Folge zeugenschaftlich einvernommen.

Die Verhandlung wurde Großteils in deutscher Sprache mit der bP durchgeführt und wurde nur teilweise auf den anwesenden Dolmetscher zurückgegriffen.

Es wurden die bisherigen Verfahrensergebnisse erörtert und das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei vom 29.11.2019, Stand 8.4.2020 in das Verfahren eingeführt. Die bP hat trotz der bereits erfolgten Übermittlung der Länderfeststellung keine Stellungnahme eingebracht und wurde diese auch nicht im Rahmen der Verhandlung nachgeholt, sondern auf die Beschwerde verwiesen.

Die Vertretung regte an, dass der ehemalige Arbeitgeber der bP befragt wird. Wenn das von Amts wegen erfolgt, bspw. telefonisch, würde sie nicht auf eine Zeugeneinvernahme bestehen.

Hingewiesen wurde auf eine Persönlichkeitsanalyse von Neustart, welche nicht im Vorfeld übermittelt hätte werden können. Eine „Persönlichkeitsanalyse“ wurde bis dato nicht vorgelegt.

Vorgelegt wurden in der Verhandlung:

?        Vier Bestätigungen über die Teilnahme der bP an einer Alkoholberatung

?        Eine Bestätigung über die Anfrage wegen einem Beratungsplatz (Aggressionsbewältigung), woraus ersichtlich ist, dass die bP auf die Warteliste von der Männerberatung gesetzt wurde

I.25. Mit Schreiben vom 04.06.2020 gab die bP die Kontaktdaten des vorherigen Arbeitgebers der bP bekannt und legte eine Stellungnahme des Vereins Neustart vom 19.05.2020 vor.

I.26. Im Rahmen eines Telefonates des Bundesverwaltungsgericht mit dem ehemaligen Arbeitgeber der bP wurde ein Aktenvermerk vom 02.07.2020 erstellt, aus welchem sich ergibt, dass das Arbeitsverhältnis nur aufgrund der Corona-Pandemie beendet wurde und der Arbeitgeber auch sehr zufrieden mit der bP war.

I.27. Mit Urkundenvorlage vom 18.08.2020 wurden Schreiben der Suchthilfe Tirol vom 03.08.2020 und ein Schreiben des Arbeitgebers der bP vom 07.08.2020 (Hilfsarbeit der bP bei einem Elektriker) übermittelt.

I.28. Am 07.10.2020 wurde ein neuerlicher Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gestellt.

I.29. Am 8.10.2020 wurde dem Bundesverwaltungsgericht mitgeteilt, dass der BF am 7.10.2020 einen Asylantrag stellte.

I.30. Am 16.10.2020 teilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit, dass der Antrag der bP ad acta gelegt und die bP bereits abgeschoben wurde. Ferner wurde das Bundesverwaltungsgericht davon informiert, dass der Asylantrag in der Folge zurückgezogen wurde.

I.31. Auf Aufforderung des Gerichtes, eine Stellungnahme zu den Auskünften der Behörde abzugeben, teilte der BF im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung mit, dass das Verfahren eingestellt worden und kein Asylverfahren mehr anhängig sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

II.1.1. Die beschwerdeführende Partei

Bei der bP handelt es sich um einen türkischen Staatsangehörigen, welcher sich zum Mehrheitsglauben des Islam bekennt. Sie gehört der kurdischen Volksgruppe an und ist Fremder iSd § 2 Abs. 4 Z 1 FPG. Die Identität der bP steht fest. Sie ist im Besitz eines gültigen türkischen Reisepasses, ausgestellt vom türkischen XXXX , gültig bis XXXX 2022.

Sie war von 2008 – 31.08.2010 und von 28.03.2011 – 30.04.2011 als gewerblich Selbstständiger bei der österreichischen Sozialversicherung gemeldet. Im Anschluss ging er verschiedene kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse ein. Am 05.07.2012 wurde die bP die Gewerbeberechtigung zur Ausübung des Gewerbes „Gastgewerbe“ erteilt und ging sie entsprechenden Beschäftigungen nach (Versicherungszeit von 01.08.2012 – 27.10.2014). Zwischen 29.10.2014 und 27.10.2015 war die bP als Arbeiter beschäftigt. Von 12.11.2015 – 26.07.2017 und 21.12.2017 – 29.09.2018 war sie bei ihrer Lebensgefährtin, Frau XXXX , als Arbeiter gemeldet. Zwischen 28.01.2020 und 23.03.2020 ging die bP einer Beschäftigung im Gastgewerbe nach, welche wegen der Corona-Pandemie beendet wurde, im Anschluss bezog sie 2 Monate Arbeitslosengeld. Die bP war dem Schreiben ihres Arbeitgebers vom 07.08.2020 zufolge stets pünktlich und führte die aufgetragenen Arbeiten zuverlässig aus. Von 04.05.2020 bis 31.08.2020 arbeitete die bP als Hilfskraft bei einem Elektriker. Seit 24.08.2020 ist die bP wiederum bei ihrer Lebensgefährtin in deren Gastronomiebetrieb angestellt. Am 09.08.2018 wurde hinsichtlich des Vermögens der bP ein Schuldenregulierungsverfahren eröffnet, welches noch nicht abgeschlossen ist. Die bP besitzt kein Vermögen und hat Schulden.

Die bP stammt aus einem von etwa zur Hälfte von Kurden bewohnten Dorf, wo sie aufwuchs, die Schule besuchte, arbeitete und bis zur Ausreise im August 2005 mit den Eltern und Geschwistern aufhältig war. Sie reiste illegal in Österreich ein und stellte einen letztlich unbegründeten Asylantrag.

Der Vater der bP, zwei Kinder sowie weitere Verwandte leben nach wie vor in der Türkei, wo der Vater eine Landwirtschaft betreibt und in einem ihm gehörenden Haus lebt. Die bP hat vor der Ausreise nach dem Schulbesuch in der Landwirtschaft des Vaters mitgearbeitet. Geschwister der bP leben innerhalb der EU. Die bP steht mit den Angehörigen in Kontakt, insbesondere mit dem Vater in der Türkei und der in Österreich lebenden Schwester. Mit dem in Österreich lebenden Bruder hat sie weniger Kontakt. Die bP hat das letzte Mal ihre Verwandten im Jahr 2015 (Aufenthalte gemäß vorgelegten Reisepass von XXXX 2013 und vom XXXX 2015) in der Türkei besucht.

Die bP hat 2007 nach islamischem Ritus und am 30.01.2008 auch standesamtlich eine österreichische Staatbürgerin türkischer Herkunft geheiratet. Die Ehe wurde am 09.03.2012 geschiedenen. Der Beziehung mit Frau XXXX entstammt der Sohn der bP XXXX , geb. XXXX . Der aufgrund einer psychischen Erkrankung der Mutter bei seiner Großmutter lebende Sohn besucht den Kindergarten. Die Großmutter hat aktuell die Obsorge inne. Die bP kam ihren Unterhaltsverpflichtungen gegenüber dem Sohn nicht durchgehend nach. Die bP war zwischen 28.07.2014 und 27.10.2014 gemeinsam mit Mutter und Sohn an einer Meldeadresse gemeldet. Sie sah vor der aktuellen Inhaftierung den Sohn regelmäßig und hält die Beziehung mit ihm aufrecht.

Seit ca. fünf Jahren ist die bP mit ihrer aktuellen Lebensgefährtin Frau XXXX zusammen, mit welcher sie auch von November 2017 bis zur Inhaftierung einen gemeinsamen Wohnsitz hatte. Mit Beginn des elektronisch überwachten Hausarrestes im Jänner 2020 bis 18.08.2020 lebte die bP in einer eigenen Wohnung, da ihr dies aufgrund der Wohnverhältnisse der Lebensgefährtin aufgetragen wurde. Eine gemeinsame Adresse mit Frau XXXX besteht seit 18.08.2020.

Am 12.06.2017 wurde gegen die bP ein Betretungsverbot gemäß § 38a SPG ausgesprochen, da sie ihre Lebensgefährtin bedroht und mit der Faust in das Gesicht geschlagen hat. Ein Zeuge bestätigte den Übergriff und blutete die Lebensgefährtin aus der Nase. Dem einschreitenden Beamten zufolge war die bP alkoholisiert, uneinsichtig und aggressiv.

Am XXXX . 2017 wurde gegen die bP ein Waffenverbot verhängt. Seit 2011 wurde sie insgesamt 11 Mal von der LPD und 14 Mal vom Stadtmagistrat rechtskräftig verwaltungsstrafrechtlich bestraft. Unter anderem wurde sie am 15.11.2016 gemäß § 81 Abs. 1 SPG zur Anzeige gebracht und bestraft, weil sie in einem Lokal einem Gast zwei Mal ins Gesicht schlug und sich gegen die einschreitenden Beamten äußerst aggressiv verhielt. Sie suchte die Konfrontation mit den Beamten und sagte mehrfach zu einem Beamten, er solle aufpassen, da er nicht wisse, mit wem er es zu tun habe. Der Beamte wurde aufgefordert, die Uniform abzulegen, um sich die Sache vor dem Lokal auszumachen. Lediglich wegen der ruhigen Art des Beamten konnte eine weitere Eskalation verhindert werden.

Die bP war seit der Asylantragstellung 2005 vorläufig aufgrund des AsylG rechtmäßig in Österreich aufhältig und ist seit 27.07.2011 rechtmäßig mit Aufenthaltstitel in Österreich aufhältig. Ihr wurde erstmalig am 27.07.2011 ein auf ein Jahr befristeter Aufenthaltstitel als Familienangehöriger nach Feststellung des Asylgerichthsofes, dass die Ausweisung auf Dauer unzulässig ist, ausgestellt. Mit 28.07.2012 erhielt sie eine für ein Jahr gültige Rot-Weiß-Rot Karte plus, welche in der Folge über entsprechende Anträge fast durchgängig verlängert wurde. Der Aufenthalt war nur zwischen 01.08.2017 und 05.09.2018 wegen nicht rechtzeitiger Verlängerungsanstragsstellung nicht rechtmäßig, danach wurde jedoch wieder ein Titel ausgestellt. Zuletzt erhielt sie eine bis 05.09.2019 gültige Rot-Weiß-Rot Karte. Aus dem IZR ergibt sich, dass die bP am 05.08.2019 einen Verlängerungsantrag gestellt hat.

Sie war durchgängig im ZMR gemeldet und wurde bereits mit 13.07.2017 über sie die Untersuchungshaft wegen einer Straftat verhängt und wurde sie mit 21.12.2017 bedingt aus der Haft entlassen. Am 29.06.2018 wurde sie neuerlich in Haft genommen. Als voraussichtliches Haftende war der 28.11.2020 vorgesehen. Am 9.10.2020 wurde die bP im Luftweg abgeschoben. Davor befand sie sich im gelockerten Vollzug mit Fußfessel (elektronisch überwachter Hausarrest seit 28.01.2020). Im Schreiben des Vereins Neustart wird dargelegt, dass sich die bP bisher sehr gut an die Strukturen und Verbindlichkeiten des Vollzugswesens im Rahmen des elektronisch überwachten Hausarrestes gehalten hat. Zudem unterziehe sie sich einer adäquaten Auseinandersetzung und Aufarbeitung der strafrechtlichen Vorgeschichte und habe bereits regelmäßige Gesprächstermine im Rahmen der Suchtberatung absolviert. Sie stehe zudem auf der Warteliste bei einem Verein, um sich mit dem bisherigen Umgang mit Gewalt und Aggression auseinander zu setzen.

Die bP ist gesund, nimmt keine Medikamente ein und besuchte im Jahr 2018 und nach Haftentlassung eine monatliche Gesprächstherapie bzw. Alkoholberatung bei der Suchthilfe.

Während der Haftverbüßung wurde die bP von der Lebensgefährtin in Haft regelmäßig besucht.

Die bP möchte offensichtlich ihr künftiges Leben in Österreich gestalten und spricht Türkisch, Kurdisch und Deutsch. Eine besondere, berücksichtigungswürdige Abhängigkeit zur Lebensgefährtin und dem Kind besteht im Rahmen der Interessensabwägung nicht.

Sie verfügt in Österreich über normale soziale Kontakte und gute Deutschkenntnisse. Die bP ist ein junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann mit Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherten Existenzgrundlage.

II.1.2. Strafrechtsrelevantes Verhalten

Im Strafregister scheinen folgende Eintragungen auf (Ergänzungen aus den Inhalten der Urteile):

01) LG XXXX 2010

PAR 164/1 164/2 StGB

Datum der (letzten) Tat 25.04.2009

Geldstrafe von 100 Tags zu je 7,00 EUR (700,00 EUR) im NEF 50 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Vollzugsdatum 22.03.2010

(Hehlerei im Zusammenhang mit dem Kauf eines gestohlenen Fahrrades)

zu XXXX

(Teil der) Geldstrafe nachgesehen, endgültig

Vollzugsdatum 22.03.2010

LG XXXX

02) LG XXXX

§ 107 (1) StGB

§ 83 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 15.12.2013

Geldstrafe von 200 Tags zu je 8,00 EUR (1.600,00 EUR) im NEF 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, davon Geldstrafe von 100 Tags zu je 8,00 EUR (800,00 EUR) im NEF 50 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Vollzugsdatum 22.08.2016

(Verurteilung wegen gefährlicher Drohung bzw. wiederholter Bedrohung der Mutter ihres Sohnes mit dem Umbringen, Verletzung einer weiteren Person durch Kopfstoß, was zum Nasenbeinbruch führte; mildernd: teilweise Geständigkeit und eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit wegen Alkoholisierung; erschwerend Zusammentreffen mehrere Vergehen)

zu LG XXXX

Unbedingter Teil der Geldstrafe vollzogen am 15.05.2015

LG XXXX

XXXX

Der bedingt nachgesehene Teil der Geldstrafe wird widerrufen

LG XXXX

03) LG XXXX

§ 15 StGB § 105 (1) StGB

§ 83 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 17.01.2015

Geldstrafe von 300 Tags zu je 4,00 EUR (1.200,00 EUR) im NEF 150 Tage Ersatzfreiheitsstrafe

Vollzugsdatum 24.02.2017

(Verurteilung wegen Körperverletzung und Drohung; Verletzung einer Person durch Zuschlagen der Autotür trotz deren Fußes im Spalt und Werfen der Kellnertasche ins Gesicht der Person sowie Drohung mit dem Umbringen, falls die Polizei verständigt werde; erschwerend: Vorstrafen und die Tatwiederholung sowie das Zusammentreffen von zwei Vergehen; mildernd: dass es teilweise beim Versuch geblieben ist)

04) BG XXXX

§ 83 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 06.02.2016 Geldstrafe von 360 Tags zu je 5,00 EUR (1.800,00 EUR) im NEF 180 Tage Ersatzfreiheitsstrafe

Vollzugsdatum 25.08.2017

(Verurteilung wegen Körperverletzung; Würgen des Betreibers eines Lokales und Versetzen eines Kopfstoßes, welcher zu einem Sturz und Bewusstlosigkeit führte. Das Opfer erlitt eine Gehirnerschütterung, ein blaues Auge und Prellungen. Leugnen der bP und Herunterspielen ihrer Rolle beim vom Strafgericht festgestellten Sachverhalt; Auslöser der Attacke war ein Kauf einer gebrauchten Spülmaschine und der Umstand, dass die bP trotz Aufforderung durch den Lokalbesitzer den dem Personal vorbehaltenen Barbereich nicht verlassen hat. Vielmehr ist die bP dem Lokalbesitzer in die Küche gefolgt, wo dieser die Polizei rufen wollte; mildernd: keine Umstände, erschwerend: rasche Rückfall und zwei einschlägige Vorstrafen)

05) BG XXXX

§ 198 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 18.11.2016

Freiheitsstrafe 6 Wochen, bedingt, Probezeit 3 Jahre

zu BG XXXX

Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre

LG XXXX

(keine oder nur unzureichende Unterhaltszahlungen für Sohn, lediglich Zahlung iHv Eur 10 für den Zeitraum von 01.11.2015 bis 18.11.2016 mit der Begründung, die bP hätte keinen Nerv gehabt, mehr als halbtags zu arbeiten und der Unterhaltsverpflichtung nachzukommen; Die bP hätte jedoch urteilsgemäß aufgrund des Einkommens aus der halbtagesbeschäftigung bzw. mit Annahme einer zumutbaren weiteren Beschäftigung dem Unterhalt nachkommen können; mildernd: kein Umstand, erschwerend: der lange Tatzeitraum)

06) LG XXXX

§§ 83 (1), 84 (2) StGB

§ 83 (1) StGB

§ 15 StGB § 269 (1) 1. Fall StGB

§§ 83 (1), 84 (2 u 4) StGB

Datum der (letzten) Tat 12.07.2017 Freiheitsstrafe 15 Monate

(Verurteilung wegen Körperverletzung und Vergehen sowie Verbrechen der schweren Körperverletzung sowie Widerstand gegen die Staatsagewalt; Verletzung einer Person durch mehrere Schläge am Kopf und Widerstand gegen die einschreitenden Polizeibeamten durch Fußtritte. Die verletzte Person hatte dadurch eine blutende Wunde am Kopf. Die einschreitenden Polizeibeamten sprachen gegen die bP die Festnahme aus, welcher sie sich mit Gewalt – u.a. mit gezielten Fußtritten – widersetzte. Einer der drei verletzten Polizeibeamten (Abschürfungen, Schwellungen, Rötungen, Sehneneinrisse, Entzündungen) erlitt eine Gesundheitsschädigung von ca. 6 Wochen. Mildernd: Widerstand blieb beim Versuch, verminderte Zurechnungsfähigkeit durch die starke Alkoholisierung, die der bP nicht zum Vorwurf gebracht werden konnte, weil sie alkoholkrank ist; Erschwerend: einschlägige Vorstrafen, Zusammentreffen eines Verbrechens mit mehreren Vergehen und die Tatsache, dass sich der Widerstand gegen mehrere Polizeibeamte richtete)

zu LG XXXX

Aus der Freiheitsstrafe entlassen am 27.02.2018, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Anordnung der Bewährungshilfe

LG XXXX

zu XXXX

Aufhebung der Bewährungshilfe

LG XXXX

zu XXXX

Bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe wird widerrufen

LG XXXX

07) LG XXXX

§§ 107 (1), 107 (2) StGB

Datum der (letzten) Tat 29.09.2018

Freiheitsstrafe 1 Jahr 3 Monate

(Verurteilung wegen gefährlicher Drohung; Mehrfache Bedrohung der Lebensgefährtin, deren Kinder und Enkel mit dem Umbringen und der Vergewaltigung von Familienangehörigen; Drohung gegen eine weitere Person, ihr den Kopf abzuschneiden; Diese Taten erfolgten an drei aufeinanderfolgenden Tagen vom 27.09.2018 – 29.09.2018. Vom Vorwurf der versuchten Körperverletzung wurde die bP im Zweifel freigesprochen, da die Zeugin ihre ursprüngliche Aussage bestritt. Diese Person hatte vorher angezeigt, dass die bP sie mehrmals mit dem Kopf gegen das Lenkrad gedrückt hätte.

Erschwerend; Tatwiederholung, einschlägige Vorstrafen, rascher Rückfall nach bedingter Entlassung und Fortsetzung der strafbaren Handlung trotz anhängigem Verfahren; Mildernd: teilweises Geständnis)

II.1.3. Die Lage im Herkunftsstaat im Herkunftsstaat Türkei

II.1.3.1. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat werden nachstehende Feststellungen getroffen:

1.       Politische Lage

Letzte Änderung am 29.11.2019

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).

Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischerweise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Stimmen stärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).

Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands sind viele seiner Verordnungen in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen worden. Das neue Präsidialsystem hat etliche der bisher bestehenden Elemente der Gewaltenteilung aufgehoben und die Rolle des Parlaments geschwächt. Dies hat zu einer stärkeren Politisierung der öffentlichen Verwaltung und der Justiz geführt. Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen; gegen Gesetze Veto einzulegen, und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z.B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind inzwischen dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019).

Zunehmende politische Polarisierung, insbesondere im Vorfeld der Gemeinderatswahlen vom März 2019, verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft. Laut europäischer Kommission muss die parlamentarische Immunität gestärkt werden, um die Meinungsfreiheit der Abgeordneten zu gewährleisten (EC 29.5.2019).

Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018).

Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands in Gewahrsam genommen und mehr als 78.000 wegen Terrorismusbezug verhaftet, von denen 50.000 noch im Gefängnis sitzen (EC 29.5.2019). Die rund 50.000 wegen Terrorbezug Inhaftierten machen 17% aller Gefängnisinsassen aus (AM 4.12.2018).

[siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 4.10.2019

?        Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/1513613, Zugriff 4.10.2019

?        AM – Al Monitor (4.12.2018): Turkey can't build prisons fast enough to house convict influx, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/11/turkey-overcrowded-prisons-face-serious-problems.html, Zugriff 4.10.2019

?        bpb – Bundeszentrale für politische Bildung (9.7.2018): Das "neue" politische System der Türkei, https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/255789/das-neue-politische-system-der-tuerkei, Zugriff 3.10.2019

?        CoE-VC – council of europe - european commission for democracy through law (venice commission) (13.7.2017): Turkey - Opinion - The Amendments to the Constitution adopted by the Grand National Assembly on 21 January 2017 and to be submitted to a National Referendumon 16 April 2017 [Opinion No. 875/2017], S.29, Abs.130, https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=cdl-ad(2017)005-e, Zugriff 3.10.2019

?        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 3.10.2019

?        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in-istanbul-16250529.html, Zugriff 4.10.2019

?        HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 4.10.2019

?        HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 4.10.2019

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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