TE OGH 2020/10/8 3Ob125/20h

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Veröffentlicht am 08.10.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Dr. Roch als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verein für Konsumenteninformation, *****, vertreten durch Brauneis Klauser Prändl Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei V***** AG, *****, vertreten durch Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, Rechtsanwälte in Wien, wegen 4.090.707 EUR sA und Feststellung, über die Revisionsrekurse der klagenden und der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 28. Mai 2019, GZ 4 R 34/19b-19, mit dem der Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 12. Februar 2019, GZ 26 Cg 109/18m-9, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I. Das Revisionsrekursverfahren wird fortgesetzt.

II. Dem Revisionsrekurs der beklagten Partei wird nicht Folge gegeben.

III. Der Revisionsrekurs der klagenden Partei wird zurückgewiesen.

IV. Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Text

Begründung:

[1]            Der klagende Verein nach § 29 KSchG macht gegen die Beklagte mit Sitz in Deutschland wegen von ihr zu verantwortender Abgasmanipulationen aufgrund von Zessionen durch 729 Verbraucher als (zum Teil ehemalige) Eigentümer von betroffenen Fahrzeugen verschiedener Marken Schadenersatzansprüche auf Leistung und Feststellung geltend. Der Kläger wirft der Beklagten vor, dass sie durch den Einbau einer Manipulationssoftware schadensstiftende, unerlaubte Handlungen gesetzt habe. Der Schaden bestehe darin, dass die Verbraucher dem Händler bzw Voreigentümer einen Kaufpreis für ein nicht manipuliertes Fahrzeug bezahlt hätten, während die Fahrzeuge tatsächlich bedingt durch die Ausstattung des Motors mit einer verbotenen und zulassungswidrigen Software um zumindest 30 % weniger wert seien. Die internationale Zuständigkeit stützt der Kläger auf Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012. Der Abschluss des Kaufvertrags, die Zahlung des Kaufpreises und die Übergabe und Auslieferung der Fahrzeuge seien jeweils im Sprengel des angerufenen Gerichts erfolgt. Dort habe sich das deliktische Verhalten der Beklagten erstmals ausgewirkt, sodass es sich dabei um den Erfolgsort handle. Mangels Abschlusses eines Kaufvertrags und Übergabe der Fahrzeuge in Deutschland habe den Verbrauchern dort noch kein Schaden entstehen können.

[2]            Die Beklagte bestritt die „internationale und örtliche“ Zuständigkeit, weil weder der Handlungs- noch der Erfolgsort „in Österreich“ gelegen seien und auch kein deliktischer Schadenersatzanspruch iSd Art 7 Abs 2 EuGVVO 2012 bestehe; auch die sachliche Zuständigkeit sei wegen Unzulässigkeit der gebündelten Geltendmachung von Ansprüchen verschiedener Verbraucher nicht gegeben.

[3]            Das Erstgericht erklärte sich – soweit in dritter Instanz noch relevant – für „international unzuständig“ und wies die Klage zurück. Die Klägerin könne sich nicht auf Art 7 Nr 2 EuGVVO stützen. Nach der Judikatur des EuGH sei der Erfolgsort eines reinen Vermögensschadens nicht eng anhand der konkreten Rechtsgutverletzung zu ermitteln, sondern der Geschehensablauf im jeweiligen Einzelfall gesamthaft zu analysieren. Dass der Kläger an die Übergabe der Fahrzeuge anknüpfe, greife zu kurz, weil der reine Vermögensschaden der Fahrzeugkäufer dadurch zum Sachschaden am Fahrzeug umfunktioniert werde. Aus Sicht der Prozesseffizienz könne hier grundsätzlich das Gericht am Sitz der Beklagten sach- und beweisnah entscheiden, weil sich die strittigen Fragen unabhängig vom Ort der Übergabe der Fahrzeuge stellten. Es lägen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der geltend gemachte Vermögensschaden, der im Ausland verursacht worden sei, in Österreich besser abgehandelt werden könne als am Ort der schädigenden Handlung; damit fehle eine inländische Gerichtsbarkeit nach Art 7 Nr 2 EuGVVO.

[4]            Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Klägers Folge, verwarf die „Einrede der internationalen Unzuständigkeit“ und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu.

[5]       Erst jüngst habe es in einem Parallelverfahren derselben Parteien unter Beteiligung derselben Parteienvertreter zu AZ 2 R 31/19x seine Rechtsprechung zu vergleichbaren Klagen von Einzelpersonen gegen die Beklagte referiert und an dieser Judikatur auch im dortigen Sammelklageverfahren festgehalten, weil eine Abtretung der Ansprüche den Gerichtsstand nicht ändere und die Beklagte keine wesentlichen neuen, nicht bereits berücksichtigten Argumente vorgebracht habe. Die weiters von der Beklagten erhobene, vom Erstgericht noch nicht entschiedene Einrede der sachlichen Unzuständigkeit werde in weiterer Folge zu beachten sein.

[6]       Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil zur internationalen Zuständigkeit für Schadenersatzklagen von Pkw-Käufern gegen die Herstellerin wegen behaupteter Abgasmanipulationssoftware noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung existiere.

[7]            Der Kläger erhebt in seinem Revisionsrekurs den Vorwurf, dass es das Rekursgericht unterlassen habe, auch über die von der Beklagten erhobene Einrede der örtlichen Unzuständigkeit zu entscheiden und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen. Ein inhaltlich gleich lautender Ergänzungsantrag des Klägers an das Rekursgericht blieb erfolglos.

[8]            Die Beklagte macht in ihrem Revisionsrekurs im Wesentlichen geltend, eine Lokalisierung des Erfolgsorts in Österreich nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 widerspreche der Rechtsprechung des EuGH, die den Deliktsgerichtsstand als Ausnahme vom Grundsatz „actor sequitur forum rei“ eng auslege. Der Gerichtsstand müsse für den Beklagten vorhersehbar sein, er habe den Zweck das Verfahren an einem Ort durchzuführen, der sich durch Sach- und Beweisnähe auszeichne. Hier sei von der größeren Sach- und Beweisnähe der deutschen Gerichte auszugehen. Der Ort der Übergabe des Fahrzeugs in Österreich stelle keinen zuständigkeitsbegründenden Anknüpfungspunkt iSd Art 7 Z 2 EuGVVO 2012 dar. Aufgrund des vom Landesgericht Klagenfurt in einem Parallelfall gestellten Vorabentscheidungsersuchen werde die Unterbrechung des Verfahrens bis zur Entscheidung des EuGH darüber beantragt.

[9]            In ihren Revisionsrekursbeantwortungen beantragen die Streitteile jeweils, den Revisionsrekurs der Gegenseite als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Zu I.

[10]     Mit Beschluss vom 11. September 2019, AZ 3 Ob 156/19s, hat der erkennende Senat das Revisionsrekursverfahren bis zur Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Verfahren zu C-343/19 unterbrochen. Nun hat der EuGH mit Urteil vom 9. Juli 2020, C-343/19, VKI, die Vorabentscheidung gefällt. Das Revisionsrekursverfahren ist daher fortzusetzen.

Zu II.

[11]           Der Revisionsrekurs der Beklagten ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, nach dem Ergebnis des Vorabentscheidungsverfahrens aber nicht berechtigt.

[12]           1. Der EuGH hat mit Urteil vom 9. Juli 2020, C-343/19, VKI, ausgesprochen, dass Art 7 Nr 2 der Verordnung (EU) Nr 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EUGVVO 2012) dahin auszulegen ist, dass sich der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs in einem Fall, in dem Fahrzeuge von ihrem Hersteller in einem Mitgliedstaat rechtswidrig mit einer Software ausgerüstet worden sind, die die Daten über den Abgasausstoß manipuliert, und danach bei einem Dritten in einem anderen Mitgliedstaat erworben werden, in diesem letztgenannten Mitgliedstaat befindet.

[13]           Er hat dies im Wesentlichen wie folgt begründet (Rz 29 ff):

„Im Ausgangsverfahren ergibt sich jedoch – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Würdigung des Sachverhalts – aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass der vom VKI geltend gemachte Schaden in einer Wertminderung der fraglichen Fahrzeuge besteht, die sich aus der Differenz zwischen dem Preis, den der Erwerber für ein solches Fahrzeug gezahlt hat, und dessen tatsächlichem Wert aufgrund des Einbaus einer Software, in der die Daten über den Abgasausstoß manipuliert wurden, ergibt.

Folglich ist, obwohl diese Fahrzeuge bereits beim Einbau dieser Software mit einem Mangel behaftet waren, davon auszugehen, dass sich der geltend gemachte Schaden erst zum Zeitpunkt des Erwerbs dieser Fahrzeuge durch ihren Erwerb zu einem Preis, der über ihrem tatsächlichen Wert lag, verwirklicht hat.

Ein solcher Schaden, der vor dem Kauf des Fahrzeugs durch den sich als geschädigt ansehenden Endabnehmer nicht bestand, stellt einen Primärschaden im Sinn der Rn 26 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung dar und keine unmittelbare Folge des ursprünglich von anderen Personen erlittenen Schadens im Sinn der in Rn 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung.

Im Übrigen stellt dieser Schaden entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts auch keinen reinen Vermögensschaden dar.

[…]

Somit handelt es sich im vorliegenden Fall nicht um einen reinen Vermögensschaden, sondern um einen materiellen Schaden, der zu einem Wertverlust jeden betroffenen Fahrzeugs führt und sich daraus ergibt, dass mit der Aufdeckung des Einbaus der Software zur Manipulation der Abgasdaten die Gegenleistung der für den Erwerb eines solchen Fahrzeugs geleisteten Zahlung ein Fahrzeug ist, das mit einem Mangel behaftet ist und daher einen geringeren Wert hat.

Somit ist festzustellen, dass im Fall des Vertriebs von Fahrzeugen, die von ihrem Hersteller mit einer Software ausgerüstet sind, die Daten über den Abgasausstoß manipuliert, der Schaden des Letzterwerbers weder ein mittelbarer Schaden noch ein reiner Vermögensschaden ist und beim Erwerb eines solchen Fahrzeugs von einem Dritten eintritt.“

[14]           2. Diese Grundsätze, die der EuGH aufgrund des Vorabentscheidungsersuchens des Landesgerichts Klagenfurt in einem vergleichbaren Sachverhalt formulierte, gelten auch hier. Der klagende Verein kann sich daher auf den Deliktsgerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 am Erfolgsort in Österreich berufen. Für die Bestimmung des nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 zuständigen Gerichts ist es ohne Bedeutung, dass die Forderung vom Geschädigten abgetreten wurde. Die Zession ändert nichts daran, dass der Rechtsstreit weiterhin eine enge Verbindung mit dem Ort aufweist, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist. Die vom ursprünglichen Gläubiger vorgenommene Forderungsabtretung wirkt sich auf die Bestimmung des zuständigen Gerichts nicht aus (EuGH C-147/12, ÖFAB, Rn 57 ff).

[15]     3. Die Entscheidung des Rekursgerichts steht mit diesen nunmehr vom EuGH vorgegebenen Grundsätzen im Einklang. Die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 wurde zutreffend bejaht. Dem Revisionsrekurs der Beklagten war daher der Erfolg zu versagen.

Zu III.

[16]           1. Der Revisionsrekurs des Klägers ist zurückzuweisen, weil die hier behauptete Unvollständigkeit der Entscheidung des Rekursgerichts keine erhebliche Rechtsfrage aufwirft:

[17]           2. Grundsätzlich regelt Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 nicht nur die internationale, sondern zugleich auch die örtliche Zuständigkeit (RS0111094). Die Bestimmung verdrängt die einschlägigen Vorschriften der JN über die örtliche Zuständigkeit, die weder zur Interpretation noch zur Lückenfüllung heranzuziehen sind (1 Ob 123/17w [zu Art 7 Nr 1 lit b EuGVVO 2012] = RS0111094 [T7] = RS0118240 [T3]). Damit ist die Verwirklichung des Zuständigkeitstatbestands nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 einheitlich in Bezug auf die internationale und örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts zu beurteilen. Ist die Zuständigkeit nach diesem Tatbestand – etwa wegen des Eintritts des Erfolgs der schädigenden Handlung am Ort des angerufenen Gerichts – erfüllt, sind sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit dieses Gerichts zu bejahen. Der zu 5 Ob 240/18g entschiedene Fall war anders gelagert, weil dort – rechtswidrig – der Prüfungsumfang des Gerichts, an das nach § 261 Abs 6 ZPO überwiesen wurde, durch einen bereits rechtskräftigen Überweisungsbeschluss des Erstgerichts erweitert worden war.

[18]           3. Auf Basis dieser höchstgerichtlichen Rechtsprechung hat das Rekursgericht entschieden. Mit der Verwerfung der Einrede der internationalen Unzuständigkeit hat es gleichzeitig die örtliche Zuständigkeit bejaht, selbst wenn eine ausdrückliche Erwähnung der örtlichen Unzuständigkeit im Spruch unterblieb. In erster Instanz hatte die Beklagte ihr Vorbringen zur Einrede der „internationalen und örtlichen“ Unzuständigkeit darauf beschränkt, es gebe keinen Handlungs- und keinen Erfolgsort in Österreich und ein deliktischer Schadenersatzanspruch im Sinn des Art 7 Abs 2 EuGVVO 2012 gegen sie bestehe nicht. Dass im Gegensatz zu den Klageangaben ein anderes Gericht in Österreich örtlich zuständig wäre, wendete die Beklagte nicht ein. Mit einer gesondert erhobenen Einrede (nur) der „örtlichen Unzuständigkeit“ unabhängig von der Frage der internationalen Unzuständigkeit nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 hatte sich das Rekursgericht daher gar nicht zu befassen. Eine im Einzelfall aufzugreifende Unvollständigkeit der rekursgerichtlichen Entscheidung ist im Ergebnis daher nicht zu erkennen.

[19]           4. Einen ausdrücklichen Auftrag an das Erstgericht, das Verfahren unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund fortzusetzen, hat das Rekursgericht zwar nicht erteilt. Dadurch hat es ebenso wenig tragende Grundsätze des Verfahrensrechts missachtet; die ohnedies dem Standpunkt des Klägers folgende abändernde Entscheidung des Rekursgerichts hat nach deren Bestätigung durch den Obersten Gerichtshof von Gesetzes wegen (§ 261 Abs 4 ZPO) die Folge, dass das Verfahren unter Abstandnahme vom Zurückweisungsgrund der internationalen (und örtlichen) Unzuständigkeit nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 fortzusetzen ist. Dies brachte das Rekursgericht in seiner Begründung auch zum Ausdruck, wonach das Erstgericht über die Einrede der sachlichen Unzuständigkeit zu entscheiden und im Fall der Verneinung auch dieser Prozesseinrede das gesetzmäßige Verfahren über die Klage einzuleiten haben wird.

[20]           5. Damit war der Revisionsrekurs des Klägers mangels erheblicher Rechtsfragen zurückzuweisen.

Zu IV.

[21]           Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsrekursverfahrens beruht auf §§ 41, 43 Abs 1 und 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels des Klägers hingewiesen, der wiederum mit seinem Rechtsmittel nicht durchgedrungen ist. Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens waren daher gegeneinander aufzuheben. Über die mit dem Fortsetzungsantrag (der auch eine Urkundenvorlage für das Verfahren erster Instanz betraf) verzeichneten Kosten wird im Rahmen der Endentscheidung zu entscheiden sein.

Textnummer

E129676

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0030OB00125.20H.1008.000

Im RIS seit

17.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

17.11.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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