TE Bvwg Beschluss 2020/7/20 W175 2149739-2

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Veröffentlicht am 20.07.2020
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Entscheidungsdatum

20.07.2020

Norm

AsylG 2005 §5
BFA-VG §21 Abs3 Satz2
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W175 2149739-2/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Neumann über die Beschwerde der XXXX , alias XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , nigerianische Staatsangehörige, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2020, Zahl: 1139173600-200208569, beschlossen:

A) Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 2. Satz BFA-VG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin (BF), eine nigerianische Staatsangehörige, stellte am 29.12.2016 den ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, welcher nach einem entsprechenden Ermittlungsverfahren mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 27.02.2017 wegen festgestellter Zuständigkeit Italiens gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen wurde; zugleich wurde ihre Außerlandesbringung angeordnet beziehungsweise ihre Abschiebung nach Italien als zulässig erachtet. Die dagegen fristgerecht eingebrachte Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 15.03.2017 als unbegründet abgewiesen.

Am 16.05.2017 wurde die BF nach Italien überstellt.

In weiterer Folge reiste die BF erneut nach Österreich und stellte hier am 23.02.2020 den gegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Hierbei gab sie an, der Einvernahme ohne (gesundheitliche) Probleme folgen zu können. Sie habe sich von 16.05.2017 bis 20.02.2020 in Italien aufgehalten, wo sie etwa im Februar 2018 um Asyl angesucht habe. Das Verfahren sei noch nicht abgeschlossen.

Sie habe Angst vor einem in Rom lebenden Zuhälter, von dem sie zusammengeschlagen worden sei. Man habe sie zur Prostitution gezwungen, weshalb sie aus Italien geflohen sei. Eine dieser Organisation angehörige Frau lebe in Österreich, diese habe sie seinerzeit nach Europa gebracht. Im Gegenzug habe sie man sie zur Prostitution gezwungen. Sie stehe auch unter dem Einfluss eines Voodoo-Zaubers, der sie töten würde, sobald sie ihr Schweigen bräche.

Aufgrund der Aktenlage stellte das BFA am 05.03.2020 ein Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Dublin III-VO an Italien und stimmte Italien mit Schreiben vom 17.03.2020 zu, die BF gemäß der genannten Bestimmung wiederaufzunehmen, wobei mitgeteilt wurde, dass die BF in Italien auch unter einem anderslautenden Datensatz registriert sei.

Aus einem Mail der Vertreterin der BF (LEFÖ-Interventionsstelle für Frauenhandel) geht hervor, dass es sich bei der BF um eine Betroffene des Frauenhandels handle und dass sie sich im Stand der Schubhaft an LEFÖ gewandt habe. Sie habe einen Antrag auf Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gestellt, welcher in Bearbeitung sei. Es werde um Mitteilung ersucht, welchem Zweck die vorgesehene Befragung am 20.05.2020 diene.

Am 20.05.2020 wurde die BF vor dem BFA in Anwesenheit einer Rechtsberaterin und einer Vertreterin der LEFÖ im Rahmen des Parteiengehörs zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich befragt. Dabei gab die BF an, von LEFÖ untergebracht worden zu sein. Nach dem Grund befragt, weshalb sie nicht in Italien geblieben sei, beziehungsweise sie nicht nach Italien zurückkehren könne, gab sie an, dass die Frau, die die BF nach Österreich gebracht habe, in Österreich lebe. Die BF sei vom „Bruder“ der Frau in Italien zur Prostitution gezwungen worden. Diese Frau habe dem „Bruder“ auch von der seinerzeitigen Überstellung der BF nach Italien unterrichtet, da die BF ihr davon erzählt habe. Die Frage, ob sie auch in Österreich der Prostitution zugeführt worden sei, bejahte die BF.

In einer Stellungnahme vom 10.06.2020 wird ausgeführt, dass die BF nach ihrer Überstellung nach Italien erneut sexuell ausgebeutet worden sei. Sie habe vor dem BFA vorgebracht, dass sie Opfer von Menschenhandel iSd § 104a StGB sowohl in Italien als auch in Österreich geworden sei. In beiden Ländern sei sie gezwungen worden, der Prostitution nachzugehen. Die BF sei über Italien nach Österreich verschleppt worden.

Von den österreichischen Strafverfolgungsbehörden werde ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt, die BF gelte in diesem Verfahren als besonders schutzbedürftiges Opfer gemäß § 66a StPO und sei als Zeugin vom Landeskriminalamt Wien einvernommen worden.

In der Stellungnahme wurde auf Richtlinie 2011/36/EU verwiesen und ausgeführt, dass die BF eindeutig Opfer von Menschenhandel geworden und selbst in Italien nicht sicher vor den Menschenhändlern sei, zumal sie auch dort von diesen aufgefunden worden sei. Ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz sei bereits gestellt worden. Eine Abschiebung nach Italien hätte die große Gefahr, neuerlich Opfer von Menschenhandel zu werden, und demnach einen Verstoß gegen Art. 4 EMRK sowie gegen Art. 3 EMRK zur Folge. Die Voraussetzungen für einen Selbsteintritt Österreichs in das Verfahren gem. Art. 17 der Dublin III-VO würden vorliegen, weshalb das Verfahren in Österreich zuzulassen sei.

Mit Bescheid vom 26.06.2020 wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Italien für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Dublin III-VO zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die BF gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Im Bescheid wurde zusammengefasst festgehalten, dass aus den Angaben der BF keine stichhaltigen Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden seien, dass diese tatsächlich konkret Gefahr liefe, in Italien Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden oder dass ihr eine Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte dadurch drohen könnte.

Sie habe angegeben, auch in Österreich zur Prostitution gezwungen worden zu sei, anders als in Österreich habe sie sich in Italien nicht an die Behörde gewandt, sohin habe sie es unterlassen, Schutz und Hilfe bei den italienischen Behörden zu suchen, falls die angeführte Person sie nochmals finden würde. Die Behörde sehe keinen Grund, weshalb der BF die italienische Polizei bei Bedarf nicht helfen sollte. Sie habe jederzeit die Möglichkeit, sich bei Bedarf auch in Italien an die dortigen Polizeibehörden zu wenden.

Auf ein anhängiges Verfahren beim BFA in Hinblick auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels besonderer Schutz gem. § 57 AsylG oder auf eine eventuelle Stellung der BF als Opfer/Zeugin von Menschenhandel wurde nicht eingegangen und findet sich dazu auch nichts im gegenständlichen Akt.

Gegen den oben genannten Bescheid des BFA wurde am 09.07.2020 fristgerecht Beschwerde erhoben und zusammengefasst vorgebracht, dass Österreich zum Schutz von Opfern von Menschenhandel verpflichtet sei und dass das BFA in Hinblick auf das Vorbringen der BF diesbezüglich ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren in Bezug auf eine Verletzung von Art. 3 EMRK geführt habe. Die BF habe Anzeige wegen Menschenhandels erstattet, ein Strafverfahren sei eingeleitet worden und die BF sei vom Landeskriminalamt Wien einvernommen worden. Im Zuge der Einvernahme sei sie als besonders schutzbedürftiges Opfer gemäß § 66a StPO eingestuft worden. Ein Antrag auf entsprechenden Aufenthaltstitel sei anhängig. Die BF habe – sowohl im Rahmen ihrer Einvernahme vor dem BFA als auch im Zuge ihrer Antragstellung gem. § 57 AsylG – angegeben, Opfer von Menschenhandel geworden beziehungsweise zur Prostitution gezwungen worden zu sein. Die belangte Behörde habe sich nicht ausreichend damit auseinandergesetzt, was dies für die BF im Fall einer Außerlandesbringung nach Italien bedeuten würde, was als grob mangelhaft erscheine und sämtlichen völkerrechtlichen Abkommen und verbindlichen europäischen Rechtsakten, zu deren Umsetzung Österreich verpflichtet sei, widersprechen würde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu A) Stattgebung der Beschwerde:

II.1. Mit 1.1.2014 sind das BVwG (BVwGG) sowie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Verfahrensgesetz (BFA-VG) in Kraft getreten.

Das Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist im vorliegenden Fall in der Fassung nach dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 24/2016 anzuwenden. Die maßgeblichen Bestimmungen lauten:

„§ 5 (1) Ein nicht gemäß §§ 4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-VO zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des § 9 Abs. 2 BFA-VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen würde.

(2) Gemäß Abs. 1 ist auch vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-VO dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.

(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesamt oder beim Bundesverwaltungsgericht offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.“

§ 21 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idF BGBl. I Nr. 24/2016 lautet:
„§ 21 (3) Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.“

Die maßgeblichen Bestimmungen der Dublin III-VO lauten:

Gemäß Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO normiert, dass sich für den Fall, dass sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen lässt, der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde für dessen Prüfung zuständig ist.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedsstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass die Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedsstaat oder an den ersten Mitgliedsstaats, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

Gemäß Art. 3 Abs. 3 der Dublin III-VO behält jeder Mitgliedstaat das Recht, einen Antragsteller nach Maßgabe der Bestimmungen und Schutzgarantien der Richtlinie 32/2013/EU in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen.

In Kapitel 3 beziehungsweise den Artikeln 7 ff der Dublin III-VO werden die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats sowie deren Rangfolge aufgezählt.

Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO lautet: „Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Art. 22 Abs. 3 genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts.“

Art. 18 Pflichten des zuständigen Mitgliedstaats

(1) Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet:

a) einen Antragsteller, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Artikel 21, 22 und 29 aufzunehmen;

b) einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen;

c) einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen;

d) einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen.

(2) Der zuständige Mitgliedstaat prüft in allen dem Anwendungsbereich des Absatzes 1 Buchstaben a und b unterliegenden Fällen den gestellten Antrag auf internationalen Schutz oder schließt seine Prüfung ab.

Hat der zuständige Mitgliedstaat in den in den Anwendungsbereich von Absatz 1 Buchstabe c fallenden Fällen die Prüfung nicht fortgeführt, nachdem der Antragsteller den Antrag zurückgezogen hat, bevor eine Entscheidung in der Sache in erster Instanz ergangen ist, stellt dieser Mitgliedstaat sicher, dass der Antragsteller berechtigt ist, zu beantragen, dass die Prüfung seines Antrags abgeschlossen wird, oder einen neuen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, der nicht als Folgeantrag im Sinne der Richtlinie 2013/32/EU behandelt wird.

In diesen Fällen gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Prüfung des Antrags abgeschlossen wird. In den in den Anwendungsbereich des Absatzes 1 Buchstabe d fallenden Fällen, in denen der Antrag nur in erster Instanz abgelehnt worden ist, stellt der zuständige Mitgliedstaat sicher, dass die betreffende Person die Möglichkeit hat oder hatte, einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 46 der Richtlinie 2013/32/EU einzulegen.

II.2. Im gegenständlichen Verfahren ging das BFA unter der Annahme, dass die BF in Italien erkennungsdienstlich behandelt wurde und dort einen Asylantrag stellte sowie aufgrund der Zustimmung Italiens zur Wiederaufnahme der BF zunächst zurecht von der Zuständigkeit Italiens zur Führung des Asylverfahrens der BF beziehungsweise von der diesbezüglichen Unzuständigkeit Österreichs aus. Allerdings erweist sich der angefochtene Bescheid in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt als mangelhaft, weshalb eine Behebung und Zurückverweisung nach § 21 Abs. 3, 2. Satz BFA-VG zu erfolgen hatte.

Dies aus folgenden Erwägungen:

Im vorliegenden Fall wurde die BF laut eigenen Angaben vom Landeskriminalamt Wien zum Verdacht des Menschenhandels nach § 104a StGB einvernommen und im Zuge dessen als besonders schutzbedürftiges Opfer nach § 66a StPO eingestuft. Das BFA hat sich damit nicht auseinandergesetzt und dies auch nicht bestritten. In Österreich ist daher offenbar bereits ein strafrechtliches Verfahren anhängig, in dem die BF sowohl als Opfer als auch als Zeugin geführt wird; die BF ist in einer Schutzeinrichtung von LEFÖ untergebracht.

Aus dem Akteninhalt ergibt sich somit die Annahme, dass sich bei der BF der - durch ein in Österreich geführtes Verfahren begründete - Verdacht ergibt, dass sie Opfer von Menschenhandel geworden ist. Von der BF sei ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „besonderer Schutz“ gem. § 57 Abs. 1 Z 2 AsylG gestellt worden, ob für dessen Erteilung die Voraussetzungen vorliegen würden oder nicht, geht aus dem Akt nicht hervor und kann auch nicht durch das BVwG beurteilt werden.

Insgesamt hat sich die erstinstanzliche Behörde mit diesem wesentlichen Aspekt bei der Beurteilung des Antrages der BF auf internationalen Schutz in keiner Weise auseinandergesetzt.

Im vorliegenden Fall ergeben die Angaben der BF in der Niederschrift und in den Stellungnahmen zumindest den Anschein, dass die BF in Österreich tatsächlich Opfer von Menschenhandel beziehungsweise grenzüberschreitender Prostitution wurde. Sie hat laut eigene Angaben in Österreich Anzeige erstattet, ist von der Polizei einvernommen worden und es wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Dem Akt sind keine diesbezüglichen Unterlagen, Erhebungen oder Erwägungen der belangten Behörde zu entnehmen, die dem Vorbringen widersprechen oder sich mit diesem überhaupt in irgendeiner Weise auseinandersetzen, sodass sich das erkennende Gericht nur auf die Angaben der BF stützen kann, die diese nicht erst in der Beschwerde, sondern auch im laufenden Verfahren vor dem BFA vorbrachte.

Unter Berücksichtigung all dieser Erwägungen sind die oben wiedergegebenen Überlegungen in der Beweiswürdigung des BFA, wonach die BF jedenfalls die Möglichkeit habe, sich in Italien an die dortigen (wohl nicht örtlich zuständigen) Polizeibehörden zu wenden und eine drohende Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte im Falle einer Überstellung nach Italien nicht ersichtlich sei, nicht ausreichend.

Art. 4 EMRK verbietet Menschenhandel als solchen. Der EGMR hat in seiner Entscheidung Rantsev gg. Zypern und Russland, Urteil vom 7.1.2010, Bsw.Nr. 25965/04 dargelegt, dass die Staaten verpflichtet sind, einen rechtlichen und administrativen Rahmen zu seiner Bekämpfung zu schaffen und (potentielle) Opfer zu schützen. Bestehen Gründe für die Annahme, eine bestimmte Person sei Opfer von Menschenhandel oder in Gefahr Opfer zu werden, so müssen die Behörden operative Maßnahmen zu ihrem Schutz treffen und eine Untersuchung durchführen.

Die Beschwerde verweist jeweils zutreffend darauf, dass bei Opfern von Menschenhandel ein Eingriff nach Art. 4 EMRK vorliegt und diesbezüglich auch weitere Übereinkommen und Richtlinien gelten, die bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen zu einem Selbsteintritt Österreichs gemäß Art. 17 Dublin III-VO führen können.

Im vorliegenden Fall kann zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG aufgrund der mangelnden Sachverhaltserhebungen durch die erstinstanzliche Behörde nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, ob bei der BF eine reale Gefährdung ihrer insbesondere durch Art. 4 EMRK gewährleisteten Rechte im Falle ihrer Überstellung nach Italien beziehungsweise ob die Voraussetzungen für einen Selbsteintritt Österreichs nach Art. 17 Dublin III-VO vorliegen. Die BF hat laut eigenen Angaben einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „besonderer Schutz“ gemäß § 57 Abs. 1 Z 2 AsylG gestellt und ist über einen solchen Antrag gemäß § 57 Abs. 3 AsylG binnen sechs Wochen zu entscheiden, wobei vor einer allfälligen Erteilung eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion eingeholt werden muss und bis zum Einlangen dieser Stellungnahme der sechswöchige Fristenlauf gehemmt ist. Das Ergebnis über den eingebrachten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „besonderer Schutz“ ist im vorliegenden Fall nach Ansicht des erkennenden Gerichts untrennbar mit der gegenständlich angefochtenen Entscheidung verbunden. Im konkreten Fall der BF wäre daher unter Einbeziehung der vorherigen Erwägungen eine vorangehende Klärung der Frage notwendig, ob der BF ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG erteilt wird. Auch wenn gemäß § 58 Abs. 13 AsylG ein Antrag gem § 57 AsylG kein Aufenthalts- oder Bleiberecht begründet, ist nicht auszuschließen, dass unter Berücksichtigung der zur alten Rechtslage ergangenen höchstgerichtlichen Judikatur des VwGH (VwSlg 17777 A/2009) ein allgemeines Recht abgeleitet werden kann, die Entscheidung über einen Antrag nach § 57 AsylG im Inland abzuwarten (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, Kommentar (Wien-Graz 2016), § 57 AsylG 2005, K5).

Wie dargelegt, wurde im gegenständlichen Fall der entscheidungsrelevante Sachverhalt trotz bestehender Möglichkeit nicht ausreichend ermittelt, weshalb zwingend nach § 21 Abs. 3 2. Satz BFA-VG vorzugehen war.

Eine mündliche Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 6a und 7 BFA-VG unterbleiben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im Übrigen trifft § 21 Abs. 3 BFA-VG eine klare, im Sinne einer eindeutigen, Regelung (vgl. OGH 22.03.1992, 5Ob105/90), weshalb keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliegt.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht individuelle Verhältnisse Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Menschenhandel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W175.2149739.2.00

Im RIS seit

06.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

06.11.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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