TE Bvwg Beschluss 2020/6/19 W144 2140884-3

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Veröffentlicht am 19.06.2020
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Entscheidungsdatum

19.06.2020

Norm

AsylG 2005 §12a Abs2
AsylG 2005 §22 Abs10
BFA-VG §22
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W144 2140884-3/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. HUBER als Einzelrichter in dem von Amts wegen eingeleiteten Verfahren über die durch den mündlich verkündeten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.06.2020, Zl. XXXX , erfolgte Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes betreffend XXXX , XXXX alias XXXX geb., StA Afghanistan, beschlossen:

A) Die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 Asylgesetz 2005 idgF (AsylG) ist NICHT rechtmäßig. Der Bescheid wird gem. § 22 Abs. 10 AsylG iVm § 22 BFA-VG ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 17.08.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz, der letztlich im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des BVwG vom 22.02.2018 gem. §§ 3, 8, 10 und 57 AsylG iVm §§ 46 und 52 FPG abgewiesen wurde.

Zur Versagung subsidiären Schutzes führte das BVwG im zitierten Erkenntnis im Wesentlichen aus, dass der aus Kabul stammende BF dort keine maßgeblich wahrscheinliche Bedrohung im Sinne des Art. 3 EMRK zu befürchten habe und in Kabul auch die Versorgungslage und die Möglichkeiten zur Existenzsicherung als ausreichend zu bezeichnen seien:

„In Übereinstimmung mit dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl geht das Bundesverwaltungsgericht nach den in das Verfahren eingeführten Länderfeststellungen (s. v.a. den Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation [Pkt. II.1.3.1.], den Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme eines Ländersachverständigen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul [Pkt. II.1.3.4.] und den Auszug aus den Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan von Dezember 2016 [Pkt. II.1.3.6.]) in Zusammenschau mit den – vom Beschwerdeführer glaubhaft dargelegten (vgl. Pkt. II.2.1.) – persönlichen Lebensumständen und unter Berücksichtigung der dahingehenden Ausführungen in der Beschwerde aus folgenden Gründen davon aus, dass dem Beschwerdeführer, der in der Stadt Kabul geboren ist und einen großen Teil seines Lebens dort verbracht hat, im Fall seiner Abschiebung nach Afghanistan und einer Rückkehr in die Stadt Kabul keine reale Gefahr einer gegen Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention verstoßenden Behandlung droht:

3.2.4.1. Es wird seitens des Bundesverwaltungsgerichtes im Hinblick auf die o.a. Länderfeststellungen und das in der Beschwerde dargelegte Berichtsmaterial zwar keineswegs verkannt, dass die Sicherheitslage (auch) in der Stadt Kabul nach wie vor angespannt ist und sich langfristig betrachtet sogar verschlechtert hat. Dennoch ist festzuhalten, dass die afghanische Regierung nach wie vor die Kontrolle über die Stadt Kabul und größere Transitrouten innehat, zudem ist die Stadt Kabul auf Grund des vorhandenen Flughafens über den Luftweg sicher erreichbar. Aus dem vorliegenden Berichtsmaterial geht hervor, dass Terroranschläge, insbesondere auf Einrichtungen mit Symbolcharakter, in der Stadt Kabul nicht auszuschließen sind und in unregelmäßigen Abständen auch stattfinden. Hierzu ist anzuführen, dass die Zunahme von Terroranschlägen für sich alleine betrachtet noch nicht die Schlussfolgerung zu tragen vermag, dass eine Ausweisung in einen von Terroranschlägen betroffenen Staat (bzw. ein bestimmtes Gebiet innerhalb eines Staates) automatisch eine Verletzung des Art. 3 EMRK nach sich ziehen würde bzw. für den Betroffenen unzumutbar wäre. Die in der Stadt Kabul verzeichneten Anschläge ereignen sich – wie sich aus einer Gesamtschau des vorliegenden Länderberichtsmaterials und dem notorischen Amtswissen ableiten lässt – hauptsächlich im Nahebereich staatlicher Einrichtungen und richten sich in der Regel gezielt gegen die Regierung und internationale Organisationen sowie Restaurants, Hotels oder ähnliche Einrichtungen, in denen vorwiegend ausländische Personen verkehren. Diese Gefährdungsquellen sind jedoch in reinen Wohngebieten nicht in einem solchen Ausmaß anzunehmen, dass die Lage im gesamten Gebiet der Stadt Kabul insgesamt als nicht ausreichend sicher zu bewerten ist.

Hinsichtlich der in der Stadt Kabul bestehenden Versorgungslage und der allgemeinen Lebensbedingungen der Bevölkerung ist – unter Berücksichtigung der in der Beschwerde dargelegten Länderberichte und Judikate – auszuführen, dass die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung, häufig nur sehr eingeschränkt möglich ist und dass Personen, die sich ohne jegliche familiäre Bindung, Fachausbildung und Geldmittel in der Stadt Kabul ansiedeln, mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein werden.

3.2.4.2. Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen erwachsenen Mann im erwerbsfähigen Alter mit mehrjähriger Schulbildung und mehrjähriger Berufserfahrung (als Autowäscher, Verkäufer und v.a. Arbeiter im Baugewerbe); beim Beschwerdeführer kann daher die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden. Der Beschwerdeführer könnte sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan seine Existenz – wie vor seiner Ausreise – mit Arbeit in der Stadt Kabul sichern, wobei ihm seine Schulbildung und v.a. seine mehrjährige Berufserfahrung zu Gute kommen würden. Der Beschwerdeführer ist alleinstehend und hat keine Kinder, weshalb er nur für seinen eigenen Lebensunterhalt aufkommen muss.

Darüber hinaus kann der Beschwerdeführer durch die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe zumindest übergangsweise in der Stadt Kabul das Auslangen finden, weshalb auch nicht zu befürchten ist, dass er bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr und noch bevor er in der Lage wäre, selbst für seinen Unterhalt zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnte; es wird hierzu keineswegs verkannt, dass es sich bei solchen Rückkehrhilfen lediglich um temporäre Unterstützungen beim Wiedereinstieg und nicht um längerfristige Unterstützungsleistungen handelt.

Der Beschwerdeführer hat einen großen Teil seines Lebens in der Stadt Kabul gelebt und verfügt daher über gute Kenntnisse der dortigen infrastrukturellen Gegebenheiten. Da er einen großen Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht hat, ist er mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und der dortigen Sprache bestens vertraut.

3.2.4.3. Im Falle des Beschwerdeführers besteht aus folgenden Gründen auch keine besondere Vulnerabilität…. […].“

Mit Urteil des LG XXXX wurde der BF zu Zahl XXXX , rechtskräftig seit 28.08.2018, wurde der BF wegen §§ 83 Abs. 1 , 105 Abs. 1 , 106 Abs. 1, 107 Abs. 1 und 125 StGB, sowie § 15 iVm §§ 105 Abs. 1, 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 und 269 Abs. 1 3. Fall, zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt.

Am 05.12.2018 wurde seitens der afghanischen Botschaft für den BF ein Heimreisezertifikat ausgestellt.

Am 05.05.2020 wurde der BF aus der Strafhaft entlassen und wurde in der Folge die Schubhaft über ihn verhängt.

Am 28.05.2020 stellte er aus dem Stande der Schubhaft einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz

Mit dem angefochtenen, mündlich verkündeten Bescheid wurde der faktische Abschiebeschutz des BF im gegenständlichen Verfahren gem. § 12a Abs. 2 AsylG aufgehoben.

Begründend führte das BFA zur Lage im Herkunftsstaat (bezugnehmend auf „unbedenkliche objektive Zusammenstellungen und Auskünfte der österr. Staatendokumentation“) Folgendes aus:

„Die Lage in Ihrem Herkunftsstaat ist seit der Entscheidung über Ihren vorherigen Antrag auf internationalen Schutz bzw. Erlassung einer Rückkehrentscheidung im Wesentlichen unverändert bzw. hat sich sogar verbessert.“

In rechtlicher Hinsicht subsumierte das BFA u.a., dass sich die allgemeine Lage im Herkunftsland nicht entscheidungswesentlich geändert habe. Bereits in seinem Vorverfahren sei festgestellt worden, dass dem BF bei der Rückkehr in sein Herkunftsland keine Verletzung seiner Integrität drohe. Da sich weder die allgemeine Lage noch die persönlichen Verhältnisse, noch der körperliche Zustand des BF seit der letzten Entscheidung des BFA entscheidungswesentlich geändert hätten, könne davon ausgegangen werden, dass eine Abschiebung in seinen Herkunftsstaat für den BF zu keiner Bedrohung der angeführten Menschenrechte führen werde.

Am 18.06.2020 wurde dieser Bescheid dem BVwG vorgelegt, das BFA wurde noch am selben Tag von der erfolgten Vorlage verständigt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Festgestellt wird zunächst der dargelegte Verfahrensgang.

Weiters wird festgestellt, dass sich die negative Entscheidung des BVwG vom 22. Februar 2018 im Hinblick auf die Versagung von Subsidiärschutz u.a. auf Ausführungen des UNHCR vom Dezember 2016 zu Kabul sowie auf die Umstände, dass der arbeitsfähige, nicht vulnerable BF in Kabul geboren wurde und dort großteils aufhältig gewesen ist, bezog.

Hinsichtlich der aktuellen Lage im Herkunftsstaat des BF sind gegenüber den im rechtskräftig negativ abgeschlossenen Vorverfahren getroffenen Feststellungen bezüglich der Lage in Kabul Änderungen eingetreten. So hat UNHCR in seinen nachfolgenden Ausführungen zu Afghanistan vom 30. August 2018 zur „Relevanz und Zumutbarkeit von Kabul als interner Schutzalternative“ abschließend unter „Schlussfolgerung betreffend die Verfügbarkeit einer internen Schutzalternative im Kabul“ Folgendes ausgeführt:

„UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist.“

2. Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich aus den Verwaltungs- und Gerichtsakten.

Die Feststellung, dass UNHCR gegenwärtig in der Stadt Kabul eine innerstaatliche Fluchtalternative bzw. Schutzalternative als grundsätzlich nicht gegeben erachtet, ergibt sich aus den notorischen Ausführungen des UNHCR vom 30. August 2018, „UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender“.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gesetzliche Grundlagen:

Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 leg cit die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß den Abs. 2 bis 4 dieser Bestimmung findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.

§ 12 Abs 1 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, ("Faktischer Abschiebeschutz") lautet:

Ein Fremder, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, kann, außer in den Fällen des § 12a, bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung, bis zur Gegenstandslosigkeit des Verfahrens oder nach einer Einstellung bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Fortsetzung des Verfahrens gemäß § 24 Abs. 2 nicht mehr zulässig ist, weder zurückgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben werden (faktischer Abschiebeschutz); § 32 bleibt unberührt. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet ist zulässig. Ein auf Grund anderer Bundesgesetze bestehendes Aufenthaltsrecht bleibt unberührt. § 16 Abs. 4 BFA-VG gilt."

§ 12a AsylG 2005 lautet (auszugsweise):

(1) ….

(2) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gestellt und liegt kein Fall des Abs. 1 vor, kann das Bundesamt den faktischen Abschiebeschutz des Fremden aufheben, wenn

1. gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht,

2. der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist, und

3. die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(3) - (6) [...]"

§ 22 AsylG:

Eine Entscheidung des Bundesamtes, mit der der faktische Abschiebeschutz eines Fremden aufgehoben wurde (§ 12a Abs. 2 AsylG 2005), ist vom Bundesverwaltungsgericht unverzüglich einer Überprüfung zu unterziehen. Das Verfahren ist ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden. § 20 gilt sinngemäß. § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG ist nicht anzuwenden.

(2) Die Aufhebung des Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 und eine aufrechte Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG oder eine Ausweisung gemäß § 66 FPG sind mit der Erlassung der Entscheidung gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 durchsetzbar. Mit der Durchführung der die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung umsetzenden Abschiebung gemäß § 46 FPG ist bis zum Ablauf des dritten Arbeitstages ab Einlangen der gemäß § 22 Abs. 10 AsylG 2005 zu übermittelnden Verwaltungsakten bei der zuständigen Gerichtsabteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuzuwarten. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Bundesamt unverzüglich vom Einlangen der Verwaltungsakten bei der zuständigen Gerichtsabteilung und von der im Rahmen der Überprüfung gemäß Abs. 1 getroffenen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes zu verständigen.

(3) Über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes im Rahmen der Überprüfung gemäß Abs. 1 hat das Bundesverwaltungsgericht binnen acht Wochen zu entscheiden."

Zur Prüfung der Voraussetzungen des § 12a Abs. 2 AsylG 2005

Mit Erk des BVwG vom 22.02.2018 wurde gegen den BF rechtskräftig eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG getroffen.

Die Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes wäre damit rechtens, wenn zum einen der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen wäre, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist, und zum anderen die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung für den Asylwerber keine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeutet und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde (§ 12a Abs 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl etwa VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063 mwN). Um von der realen Gefahr ("real risk") einer drohenden Verletzung der durch Art 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüberhinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl etwa VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479, und 23.09.2009, 2007/01/0515, mwN).

Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen (vgl VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).

Wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, ist die Lage im Herkunftsstaat, konkret zur in casu maßgeblichen Lage in der Stadt Kabul nicht dergestalt, dass seit der letzten Entscheidung keine Änderung eingetreten ist, sodass die Feststellung des BFA, wonach keine entscheidungswesentliche Änderung vorliege, unzutreffend ist. Vielmehr ist UNHCR von seiner früheren Auffassung, wonach die Rückkehr von alleinstehenden, arbeitsfähigen Männern nach Kabul grundsätzlich möglich sei, im August 2018 – somit nach Erlassung des Erkenntnisses des BVwG vom Februar 2018 – abgegangen. Schon aus diesem Grund vermag bei der hier vorzunehmenden Grobprüfung der Bescheid betreffend die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes keinen Bestand zu haben. Das BFA hat in der überprüften Entscheidung auch die gegenwärtige Pandemiesituation in Afghanistan lediglich unter dem Aspekt der Vulnerabilität der Erkrankten betrachtet und ist zum Schluss gekommen, dass der BF als im Wesentlichen junge gesunde Person kein diesbezügliches Risiko einer Art. 3 EMRK Verletzung hat, wenn er erkranken würde. Das BFA hat jedoch nicht beachtet, dass die Möglichkeiten einer Existenzsicherung im Falle einer Rückkehr durch die pandemiebedingten Verschärfungen der Rückkehrsituation und des dortigen Arbeitsmarktes gegenwärtig zu einer Unmöglichkeit der Existenzerwirtschaftung führen könnten.

Entsprechend den obigen Ausführungen stellt – nach einer hier vorzunehmenden Grobprüfung des Aktes – aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat, etwa nach Kabul für ihn gegenwärtig (!) somit eine hinreichend reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK dar. Die Annahme einer IFA in Herat oder Mazar-e-Sharif erscheint im Hinblick auf die pandemiebedingte Verschärfung der Möglichkeiten zur Existenzsicherung derzeit (!), wenngleich auch unter der Schwelle der für Art. 3 EMRK relevanten Gravität liegend, doch jedenfalls unzumutbar.

Somit sind die Voraussetzungen des § 12a Abs. 2 AsylG 2005 nicht gegeben, sodass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes nicht rechtmäßig war. Da § 22 Abs. 10 AsylG 2005 dies ausdrücklich vorsieht, war die vorliegende Entscheidung nicht mit Erkenntnis, sondern mit Beschluss zu treffen.

Gemäß § 22 Abs. 1 2. Satz BFA-VG war ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden.

Da der BF laut Erstbefragungsprotokoll vom 28.05.2020 die Sprache Deutsch „in Wort und Schrift“ „gut (C1)“ beherrscht, war keine Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung vorzunehmen.

Zu B) Zur Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung ersatzlose Behebung faktischer Abschiebeschutz - Aufhebung nicht rechtmäßig non refoulement Pandemie Rechtswidrigkeit Rückkehrsituation Versorgungslage

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W144.2140884.3.00

Im RIS seit

22.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

22.10.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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