TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/18 W114 2179352-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.02.2020
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Entscheidungsdatum

18.02.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
FPG §55a

Spruch

W114 2179352-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Bernhard DITZ über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch den XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland, vom 22.11.2017, Zl. 1102042809-160073539/BMI-BFA_BGLD_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.01.2020 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. XXXX , (im Weiteren: Beschwerdeführer oder BF), ein afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, geboren in eine moslemisch sunnitische Familie, stellte am 14.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei der am 14.01.2016 erfolgten Erstbefragung vor dem Polizeianhaltezentrum Linz/Support, gab der Beschwerdeführer an, am XXXX geboren zu sein. Seine Muttersprache sei Dari; er verstehe ebenso die Sprache Paschtu. Er stamme aus dem Dorf XXXX , welches sich im Distrikt Nijrab, in der afghanischen Provinz Kapisa befinde. Sein Vater sei bereits verstorben. Seine Mutter, seine fünf Brüder und seine Schwester würden noch in Afghanistan leben. Er habe acht Jahre lang in Afghanistan eine Grundschule besucht. Anfang Dezember 2015 habe er Afghanistan verlassen und sei ohne Hilfe eines Schleppers über Griechenland, Kroatien und Slowenien, nach Österreich gereist. Die Kosten für die gesamte Reise hätten ca. EUR 400.-- betragen.

Befragt nach seinen Fluchtgründen führte er aus, dass in seinem Herkunftsstaat Krieg herrsche und sein Leben dort in Gefahr sei.

3. Am 04.07.2016 fand eine Einvernahme zum Antrag auf internationalen Schutz vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) statt. Der BF gab an, vor seiner Flucht verlobt gewesen zu sein. Seine Verlobte sei bei einem Brand in ihrem gemeinsamen Wohnhaus gestorben. Im Rahmen dieser Einvernahme wurde der BF darüber informiert, dass Kroatien für die Führung seines Asylverfahrens zuständig sei.

4. Mit Bescheid des BFA, BFA-RD Salzburg, vom 04.07.2016, Zl. 1102042809, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG, als unzulässig zurückgewiesen, da für die Prüfung dieses Antrages gemäß Art. 13 (1) der EU-Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates Kroatien zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gemäß § 61 Abs. 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass gemäß § 61 Abs. 2 FPG eine Abschiebung des BF nach Kroatien zulässig sei (Spruchpunkt II.).

5. Gegen diesen Bescheid vom BFA erhob der BF Beschwerde.

6. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 18.04.2017, Zl. W184 2132877-1/3E wurde der Beschwerde des Beschwerdeführers stattgegeben und der angefochtene Bescheid behoben.

7. Gegen diese Entscheidung wurde vom BFA weder eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH), noch eine ordentliche oder außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichthof (VwGH) erhoben.

8. Am 16.11.2017 fand eine neuerliche Einvernahme vor dem BFA, Regionaldirektion Burgenland, statt. Betreffend seine Familie, gab der BF an, dass seine Mutter und zwei seiner Brüder vor etwa einem halben Jahr verstorben wären. Zwei weitere Brüder würden inzwischen in Pakistan leben, ein Bruder sei in den Iran geflüchtet. Seine Schwester sowie ein Onkel mütterlicherseits würden sich noch in seinem Heimatdorf, in der Provinz Kapisa, befinden. Kontakt habe der Beschwerdeführer lediglich mit seinem im Iran lebenden Bruder. Befragt nach seiner Berufserfahrung, führte der Beschwerdeführer an, von 2013 bis 2015 als Schweißer-Hilfsarbeiter sowie in der Landwirtschaft gearbeitet zu haben. Der Beschwerdeführer gab in dieser Einvernahme erstmalig an, zum Christentum konvertiert zu sein und legte eine undatierte Taufbestätigung der Evangelikalen Freikirche Hamgam Wien vor, welche die Taufe des BF am 09.10.2016 bestätigte.

Der Beschwerdeführer wiederholte, dass er aufgrund der schlechten Sicherheitslage Afghanistan verlassen habe. Er führte weiters aus, dass seine Ehefrau bei einem Gefecht zwischen Taliban und Regierungstruppen getötet worden sei. Vor den Taliban habe der BF große Angst.

Befragt zu seinem christlichen Glauben, gab der Beschwerdeführer an, an Jesus zu glauben, jedoch nicht zu beten oder zu fasten. Im Rahmen dieser Einvernahme konnte der BF einfache, grundlegende Fragen zum Christentum nicht beantworten.

9. Mit Bescheid des BFA, Regionaldirektion Burgenland vom 22.11.2017, Zl. 1102042809-160073539/BMI-BFA_BGLD_RD, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft dargelegt habe. Sein Fluchtvorbringen stütze sich lediglich auf die allgemeine Situation in Afghanistan. Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Paschtunen könne er Unterstützung anderer Paschtunen in ganz Afghanistan erhalten. Der Beschwerdeführer sei jung, gesund und arbeitsfähig, sodass ihm eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar sei.

Zur Frage einer vom BF angegebenen drohenden Verfolgung wegen seiner Konversion zum Christentum, führte das BFA aus, dass dieses Vorbringen nicht glaubhaft sei, weil er selbst einfache Fragen zum Christentum nicht habe beantworten können.

Dieser Bescheid wurde dem BF am 27.11.2017 durch persönliche Übernahme zugestellt.

10. Gegen diese Entscheidung erhob der BF, vertreten durch den XXXX , mit Schriftsatz vom 05.12.2017 Beschwerde.

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer Afghanistan aus wohlbegründender Furcht verlassen habe und diese Furcht auch glaubwürdig und nachvollziehbar dargetan habe. Es wurde auf die schlechte allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan verwiesen. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung hätte die Behörde, dem BF jedenfalls den Status eines subsidiär Schutzberechtigten erteilen müssen.

11. Die Beschwerde und die Unterlagen des Verwaltungsverfahrens wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 12.12.2017, mit Schreiben des BFA vom 06.12.2017, zur Entscheidung vorgelegt.

12. Mit einer Beschwerdeergänzung vom 11.01.2018, übermittelte der Beschwerdeführer den Bescheid des AMS Oberwart vom 20.12.2017, ABB-Nr: 3893732, mit welchem dem Beschwerdeführer die Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Kochlehrling erteilt wurde. Der Beschwerdeführer befindet sich seitdem in einem aufrechten Lehrverhältnis.

13. Mit Schriftsatz vom 22.01.2019 wurde vom BF eine Bestätigung des XXXX , unterfertigt durch die XXXX vom 15.01.2020, vorgelegt. Aus diesem Schreiben kann entnommen werden, dass der Beschwerdeführer evangelische Gottesdienste besucht hat.

14. In einer weiteren Beschwerdeergänzung vom 27.01.2020, führte der BF aus, dass er aufgrund seiner Konversion zum Christentum, bei einer Abschiebung nach Afghanistan, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt wäre. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei für den BF nicht zumutbar, zumal konvertierte Christen in ganz Afghanistan verfolgt werden würden. Ebenfalls wären die Grundbedürfnisse, wie sauberes Trinkwasser, Nahrung oder Wohnraum, in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat nicht mehr gesichert. Weiters wurden Auszüge aus dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 sowie ein Medienbericht aus dem Internet, betreffend die allgemeine schlechte Situation in Afghanistan beigefügt. Der BF habe bereits nachvollziehbar dargelegt, dass er aus innerer Überzeugung zum Christentum konvertiert sei, sodass die Konversion als asylrelevanter Nachfluchtgrund zu qualifizieren wäre.

15. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 28.01.2020 wurde der Beschwerdeführer vom XXXX vertreten. Die Verhandlung, bei der auch ein Vertreter des BFA anwesend war, fand im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt.

In dieser Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seiner Identität und Herkunft sowie zu seinen Fluchtgründen, insbesondere zur behaupteten Konversion zum Christentum befragt.

Zu seinen Fluchtgründen vor der Konversion, gab der Beschwerdeführer an, dass die Taliban seit fünf Jahren und acht Monaten in seinem Heimatdort aktiv wären. Sein Haus sei von den Taliban zerstört worden. An der Stelle, wo sich der Hof der Familie befunden habe, führe nun eine Straße. Der BF wiederholte abermals, dass in Afghanistan Krieg herrsche und die Situation dort gefährlich sei. Sein Vater sowie zwei seiner Brüder wären Polizisten gewesen, sodass die Situation für ihn als Familienmitglied gefährlich gewesen sei. Persönlich sei er jedoch nie bedroht oder verfolgt worden.

Betreffend die Konversion zum Christentum, berichtete der BF, dass der primäre Grund für sein Interesse an einem Glaubenswechsel zum Christentum, die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen gewesen sei. Durch Freunde und durch das Lesen der Bibel habe er Zugang zum christlichen Glauben und insbesondere zu Jesus gefunden. Fragen zum Aufbau und zum Anfang der Bibel (Altes Testament) konnte der BF nicht beantworten. Er gab an, die Bibel nicht chronologisch gelesen zu haben, sondern willkürlich Seiten der Bibel aufgeschlagen und anschließend diese gelesen zu haben. Als dem BF eine Bibel (Neues Testament) in der Sprache Farsi mit der Bitte gegeben wurde, seine Lieblingsstelle vorzulesen, begann der Beschwerdeführer, entgegen seiner vorherigen Angabe, nicht gezielt eine bestimmte Seite aufzuschlagen, sondern am Anfang des Neuen Testamentes zu lesen. Grundlegende Sachkenntnisse über das Leben Jesu, insbesondere über die Geburt, die Kreuzigung und die Auferstehung Jesu sowie, dass Jesus für die Sünden der Menschheit gestorben ist, konnte der BF vortragen. Ebenfalls vermochte der BF die Nächstenliebe, als eines der Grundprinzipien des Christentums, zu benennen. Näher befragt zur Erbsünde, konnte der Beschwerdeführer - nach einer Hilfestellung des Richters - die Geschichte des Beginns der Erbsünde inklusive wichtiger Details richtig wiedergeben. Der Beschwerdeführer konnte das "Vater Unser" auf Deutsch fehlerfrei rezitieren. Befragt zu den Auswirkungen seines neuen Glaubens auf sein tägliches Leben, führte der BF an, dass er als Christ in der Ausübung seines Glaubens freier sei; er habe insbesondere die Freiheit Alkohol zu trinken und Schweinefleisch zu essen. Diese zwei Aspekte führte der BF ebenfalls als größten Unterschied zwischen dem Islam und dem Christentum an.

Der Beschwerdeführer gab weiters an, er habe als sunnitischer Moslem, als er noch in Afghanistan aufhältig war, weder regelmäßig gebetet, noch gefastet, noch im Koran gelesen, noch regelmäßig eine Moschee besucht. Konfrontiert, ob der BF deshalb mit dem Tode bedroht worden sei, gab der Beschwerdeführer an, dass er zwar nicht bedroht worden sei, jedoch zunehmend vom Mullah und anderen Dorfbewohnern ignoriert worden wäre. Der BF erklärte, dass in seinem Heimatdorf der Moscheebesuch obligatorisch sei. Aus diesem gesellschaftlichen Zwang heraus, habe der Beschwerdeführer drei- bis viermal in jeder Woche die Moschee besucht. Befragt zu den Konsequenzen bei Nichteinhaltung, führte der BF aus, dass der Mullah zuerst Gespräche mit der betreffenden Person führen würde und anschließend den regelmäßigen Moscheebesuch anordnen würde. In letzter Konsequenz würde die Person bei weiterer Nichteinhaltung aufgefordert werden, die Region zu verlassen bzw. zur Zahlung einer Geld- oder Sachleistung verpflichtet bzw. gezwungen zu werden.

Die Frage, wie er in Afghanistan seinen Glauben ausleben würde, wurde von ihm ausweichend damit beantwortet, dass er seinen Glauben nicht verheimlichen würde. Erneut nachgefragt, antwortete er, dass er in Afghanistan vorsichtig mit anderen Personen über seinen Glauben sprechen würde. Er habe auch seinen Brüdern von der Konversion zum Christentum erzählt. Seitdem habe er zu seinen Brüdern in Pakistan nur ein- bis zweimal im Jahr Kontakt, mit seinem Bruder im Iran bestehe ein intensiverer Kontakt. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde er aufgrund der Konversion sowohl von der Bevölkerung, als auch von der Regierung verfolgt werden und schlussendlich getötet werden.

Zur Frage, ob er außergewöhnliche Integrationsschritte in Österreich gesetzt habe, rechtfertigte sich der BF damit, dass er ohne Aufenthaltstitel nicht berechtigt gewesen sei, die Führerscheinprüfung abzulegen. Ebenfalls könne er ohne Aufenthaltstitel sonstige Integrationsschritte nicht setzen.

16. Mit Schriftsatz des BFA vom 30.01.2020, wurde dem Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme vorgelegt. Das BFA äußerte sich zur behaupteten Konversion des BF, zur Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative sowie zur Situation im Herkunftsstaat und forderte das Beschwerdebegehren abzuweisen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie der Einvernahmen des Beschwerdeführers vor dem BFA vom 04.07.2016 und vom 16.11.2017, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der Beschwerdeergänzungen vom 11.01.2018 und vom 27.01.2020, des Schriftsatzes des BF vom 22.01.2019, der im Asyl- bzw. Beschwerdeverfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG vom 28.01.2020, der Stellungnahme des BFA vom 30.01.2020 und der Einsichtnahme in die Bezug habenden Unterlagen des Verwaltungsverfahrens, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019, den EASO-Länderleitfaden und EASO-Berichte betreffend Afghanistan, EASO Country Guidance: Afghanistan; Guidance note and common analysis vom Juni 2019, einen Bericht des Generalsekretariats der UNO zur Situation in Afghanistan und deren Auswirkungen auf den internationalen Frieden und die Sicherheitslage vom 14.06.2019, einen UNAMA-Bericht über den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten vom Juli 2019, einen Amnesty International-Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019) vom 30.01.2020, einer ACCORD Anfragebeantwortung zur Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul, in die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, eine ACCORD Anfragebeantwortung zur Situation vom 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen , 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa vom 01.06.2017 und eine ACCORD Anfragebeantwortung zur Situation von muslimischen Familienangehörigen von vom Islam abgefallenen Personen (ApostatInnen), christlichen KonvertitInnen und Personen, die sich kritisch zum Islam äußerten vom 09.11.2017, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zum Beschwerdeführer:

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und war - nach eigenen Angaben - bei der Erstbefragung durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Weiters spricht er die Sprachen Farsi und Paschtu. Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX , welches sich im Distrikt Nijrab, in der afghanischen Provinz Kapisa befindet, geboren und hat bis zu seiner Ausreise dort gelebt. Er besuchte acht Jahre lang eine Grundschule in Nijrab und ist ebenfalls befähigt Farsi zu lesen. Er hat bereits Erfahrung als Hilfsarbeiter gesammelt, insbesondere hat er als Schweißer und in der Landwirtschaft gearbeitet. Seine Eltern und einer seiner Brüder sind bereits verstorben. Zwei Brüder des Beschwerdeführers leben in Pakistan, ein Bruder ist im Iran aufhältig und seine Schwester und ein Onkel mütterlicherseits befinden sich in seinem Heimatdorf.

Der Beschwerdeführer hat keine Kinder. Es konnte nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer verwitwet oder ledig ist.

1.1.2. Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig. Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice Oberwart vom 20.12.2017, ABB-Nr: 3893732, erteile ihm das AMS die Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Kochlehrling. Der Beschwerdeführer befindet sich in einem aufrechten Lehrverhältnis und ist somit selbsterhaltungsfähig.

Er ist strafrechtlich unbescholten.

1.1.3. Der Beschwerdeführer lebt in Österreich in keiner Beziehung. Er hat in Österreich weder Verwandte noch sonstige Bezugspersonen, mit welchen er einen gemeinsamen Wohnsitz hat oder hinsichtlich derer ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.

1.1.4. Der Beschwerdeführer stellte am 14.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.5. Der Beschwerdeführer wurde am 09.10.2016 - nach einem nur neunmonatigen Aufenthalt in Österreich in der Evangelikalen Freikirche Hamgam in Wien, getauft. Bei der Evangelikalen Freikirche Hamgam handelt es sich um eine Freikirche, welche nicht mit der Evangelischen Kirche in Österreich gleichzusetzen ist.

Der Beschwerdeführer verfügt über Wissen über christliche Glaubensinhalte; dieses Wissen ist jedoch nicht derart, dass man davon ausgehen könnte, dass er den christlichen Glauben bereits wirklich verinnerlicht hat und dieser Glaube Teil seiner Persönlichkeit geworden ist.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der BF seinen behaupteten christlichen Glauben, bei einer Rückkehr nach Afghanistan, in einer nach außen erkennbaren Weise ausleben würde oder nach außen hin erkennbar ausleben müsste, sodass er rasch und einfach als Christ erkannt werden würde. Es kann daher nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines Interesses für den christlichen Glauben mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Verfolgung bzw. psychischer und/oder physischer Gewalt, durch staatliche Behörden oder durch die Gesellschaft, ausgesetzt wäre.

Der Beschwerdeführer hat insbesondere in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 28.01.2020 den Eindruck hinterlassen, dass für den BF, betreffend seinen christlichen Glauben, Rechte und Freiheiten, wie die Freiheiten Alkohol zu trinken und Schweinefleisch zu essen, im Vordergrund stehen. Der Beschwerdeführer hat nicht erkennen lassen, dass er an einer Spiritualität des christlichen Glaubens interessiert ist.

1.1.6. Der BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung des Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch einen konkreten Akteur ausgesetzt. Der Beschwerdeführer würde ebenfalls nicht aufgrund seiner Zugehörigkeit zu seiner Familie asylrelevant verfolgt werden.

Es kann nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit finanzieller oder sonstiger Unterstützung von Familienmitgliedern oder Verwandten rechnen kann.

1.1.7. Ausgehend von den Länderfeststellungen zu Afghanistan, den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 und dem EASO-Bericht zur sozioökonomischen Lage (Angaben zu Kabul-Stadt; Herat-Stadt und Mazar-e Sharif; interne Mobilität; Wirtschaftslage; Beschäftigung; weitere Themen) vom April 2019 berücksichtigend, kann der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls nach Herat oder in Mazar-e Sharif, Städte in Afghanistan, die über einen für Zivilflugzeuge erreichbaren Flughafen verfügen, zurückkehren und sich dort eine neue Existenz aufbauen. Die Vor-Ort-Verhältnisse, die Versorgungslage und auch die Sicherheitslage in diesen Städten ist nicht derart, dass der BF als alleinstehender, junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann, mit Schulbildung und Arbeitserfahrung, welcher sowohl die Sprachen Dari, Farsi und Paschtu versteht und spricht, bei einer Wiederansiedelung - entsprechende erforderliche Bemühungen des BF vorausgesetzt - in diesen Städten auf Dauer in eine aussichtslose Situation geraten würde, wenn auch eine Wiederansiedelung am Beginn mit Schwierigkeiten verbunden sein könnte.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019:

Politische Lage:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 07.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 03.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid KARZAI in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah ABDULLAH das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.09.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess:

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid KARZAI und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 06.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 06.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 06.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 07.03.2016; UNGASC 03.03.2017; UNGASC 28.02.2018; UNGASC 28.02.2019))

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Für den Berichtszeitraum 10.05.2019-08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02-09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05.-08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-08.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))

 

2016

2017

2018

2019

Jänner

2111

2203

2588

2118

Februar

2225

2062

2377

1809

März

2157

2533

2626

2168

April

2310

2441

2894

2326

Mai

2734

2508

2802

2394

Juni

2345

2245

2164

2386

Juli

2398

2804

2554

2794

August

2829

2850

2234

2443

September

2493

2548

2389

-

Oktober

2607

2725

2682

-

November

2348

2488

2086

-

Dezember

2281

2459

2097

-

insgesamt

28.838

29.866

29.493

18.438

Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-08.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))

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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 04.11.2019):

Abb. 3: Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 01.01.2018-30.09.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 04.11.2019)

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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast 2 Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer:

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01.-30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).

Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 01.01.2009-30.09.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.02.2019; UNAMA 17.10.2019))

Jahr

Tote

Verletzte

Insgesamt

2009

2.412

3.557

5.969

2010

2.794

4.368

7.162

2011

3.133

4.709

7.842

2012

2.769

4.821

7.590

2013

2.969

5.669

8.638

2014

3.701

6.834

10.535

2015

3.565

7.470

11.035

2016

3.527

7.925

11.452

2017

3.440

7.019

10.459

2018

3.804

7.189

10.993

2019*

2.563*

5.676*

8.239*

Insgesamt

32114

59561

91675

* 2019: Erste drei Quartale 2019 (01.01.2019-30.09.2019)

High-Profile Angriffe (HPAs):

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 06.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 06.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 06.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten:

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur 2 derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 06.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 06.2019):

Taliban:

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 06.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah AKHUNDZADA (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad YAQUB - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah OMAR - und Serajuddin HAQQANI (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in 2 Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden und Teilzeitkämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest ein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger, in 8 Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah un

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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