TE Vwgh Beschluss 2020/5/18 Ra 2020/18/0136

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Veröffentlicht am 18.05.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AVG §14
AVG §15
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S N, vertreten durch Mag. Andreas Lepschi, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. März 2020, W185 2217076-1/20E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 3. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 15. März 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4 Begründend führte das BVwG - soweit entscheidungsrelevant - aus, es habe sich betreffend den Herkunftsstaat des Revisionswerbers keine asylrelevante Verfolgung ergeben. Es sei nicht feststellbar, ob der Vater des Revisionswerbers noch am Leben sei. Der Revisionswerber habe nicht glaubhaft darlegen können, dass er von Taliban verfolgt worden sei oder aktuell verfolgt werde. Zum einen habe der Revisionswerber im Rahmen der Erstbefragung kein Vorbringen zu seinem Vater erstattet, zum anderen weise dieses erst später erstattete Vorbringen zahlreiche Unplausibilitäten und Widersprüche sowie zeitliche Diskrepanzen auf. Zur Nichtgewährung von subsidiärem Schutz hielt das BVwG unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 (im Folgenden: UNHCR-Richtlinien) sowie die EASO-Richtlinien für Afghanistan (EASO Country Guidance: Afghanistan, Juni 2018 sowie Juni 2019) fest, dass die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers, Kunduz, volatil sei. Es stünde ihm jedoch eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den afghanischen Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zur Verfügung. Diese Städte seien sicher erreichbar und stünden unter der Kontrolle der Regierung, sie seien zudem als ausreichend sicher zu bewerten. Beim Revisionswerber handle es sich um einen arbeitsfähigen Mann im erwerbsfähigen Alter, der in Afghanistan aufgewachsen und sozialisiert worden sei. Seine Familie, der es wirtschaftlich sehr gut gehe, halte sich nach wie vor in Afghanistan auf und könne ihn in gewissem Umfang unterstützen. Zudem habe der Revisionswerber durch seinen vergleichsweise guten Bildungsstand, eine siebenjährige Schulbildung, in den genannten Städten Vorteile am Arbeitsmarkt. Die psychische Erkrankung des Revisionswerbers, eine Posttraumatische Belastungsstörung und Schlafstörungen, seien in den genannten Städten grundsätzlich behandelbar. Betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung kam das BVwG zu dem Ergebnis, dass eine Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK zu Ungunsten des Revisionswerbers ausfalle. 5 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich in ihrer Begründung der Zulässigkeit zum einen gegen die Beweiswürdigung des BVwG richtet und in diesem Zusammenhang ausführt, sie hege Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Protokollierung in der Erstbefragung. Zudem wendet sich die Revision gegen die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative und führt dazu ins Treffen, das BVwG habe in seiner Prüfung einerseits die UNHCR-Richtlinien und zum anderen die persönlichen Umstände des Revisionswebers nicht ausreichend berücksichtigt. Schließlich sei auch die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unverhältnismäßig gewesen.

6 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.

7 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. 9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. 10 Sofern der Revisionswerber eingangs ausführt, er habe Zweifel an der Richtig- und Vollständigkeit der Niederschrift über die polizeiliche Erstbefragung, ist ihm entgegen zu halten, dass aus der im Zuge der Erstbefragung angefertigten Niederschrift hervorgeht, dass ihm diese rückübersetzt und von ihm auf jeder Seite unterschrieben wurde. Gemäß § 15 AVG liefert, soweit nicht Einwendungen erhoben wurden, eine gemäß § 14 AVG aufgenommene Niederschrift über den Verlauf und den Gegenstand der betreffenden Amtshandlung vollen Beweis, wobei der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des bezeugten Vorganges zulässig bleibt (vgl. VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0398, mwN). Fallbezogen sind Einwendungen des Revisionswerbers weder protokolliert, noch wird in der Revision behauptet, der Revisionswerber habe Einwendungen im Sinne des § 14 Abs. 3 AVG erhoben. Der Revisionswerber zeigt insofern keine konkreten Gründe zur Erschütterung der Beweiskraft der Niederschrift auf.

11 Wenn der Revisionswerber weiters einen Fehler in der Beweiswürdigung ortet und dazu vorbringt, die hg. Rechtsprechung zu den Anforderungen an eine Erstbefragung und das Alter des Revisionswerbers seien vom BVwG nicht berücksichtigt worden, vermag er ebenso nicht die Zulässigkeit der Revision aufzuzeigen. Zutreffend ist, dass der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederholt Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung erhoben hat, weil sich diese Einvernahme nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Gleichwohl hat der Verwaltungsgerichtshof aber betont, dass es nicht generell unzulässig ist, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen (vgl. VwGH 18.2.2020, Ra 2020/18/0032, mwN).

12 Im vorliegenden Fall stützte sich das BVwG neben dem Argument der Steigerung des Fluchtvorbringens nach der Erstbefragung auf mehrere, in sich tragende Erwägungen, insbesondere Divergenzen und Unstimmigkeiten in den (späteren) Aussagen des Revisionswerbers und den persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung. Diesen Erwägungen tritt auch die Revision nicht entgegen. Dabei berücksichtigte das BVwG - entgegen dem Revisionsvorbringen - auch, dass der Revisionswerber bei der Erstbefragung erst sechzehn Jahre alt gewesen sei. Auf Basis dieser beweiswürdigenden Erwägungen hielt das BVwG fest, dass der Revisionswerber in Afghanistan keiner Verfolgung durch Taliban ausgesetzt gewesen sei oder in Zukunft wäre. Dass die Beweiswürdigung des BVwG unvertretbar wäre, vermag die Revision nicht aufzuzeigen (vgl. zum diesbezüglichen Prüfmaßstab etwa VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0350, mwN).

13 Insofern die Revision die Annahme, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative, und damit die Nichtgewährung subsidiären Schutzes angreift, ist darauf hinzuweisen, dass es, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, nach der hg. Rechtsprechung nicht ausreicht, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0017, mwN). 14 Ob sich die vom BVwG im gegenständlichen Fall angestrengten Erwägungen, der Revisionswerber finde in Kabul oder Herat eine innerstaatliche Fluchtalternative, als tragfähig erweisen, kann dahingestellt bleiben, zumal schon die Annahme, dem Revisionswerber stünde eine zumutbare und erreichbare innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif offen, das Erkenntnis trägt.

15 Wenn der Revisionswerber in diesem Zusammenhang rügt, das BVwG habe die UNHCR-Richtlinien und die persönliche Situation des Revisionswerbers nicht ausreichend berücksichtigt, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass UNHCR die Verfügbarkeit einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative für (andere) afghanische Großstädte - anders als für Kabul - nicht grundsätzlich ausschließt, sondern von einer sorgfältigen Prüfung für den jeweiligen bestimmten Einzelfall abhängig macht (vgl. in diesem Sinne VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533). Dass das BVwG eine solche sorgfältige Prüfung unterlassen hätte, vermag die Revision - angesichts der Erwägungen des BVwG, in denen es sowohl die allgemeine Lage, als auch die persönlichen Umstände des Revisionswerbers und seine festgestellte psychische Erkrankung unter Einbeziehung der UNHCR-Richtlinien sowie die EASO-Richtlinien für Afghanistan (EASO Country Guidance: Afghanistan, Juni 2018 sowie Juni 2019) berücksichtigte - nicht darzutun. 16 Wenn die Revision schließlich die der Rückkehrentscheidung zu Grunde liegende Interessenabwägung bemängelt, ist auszuführen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (vgl. VwGH 2.3.2020, Ra 2019/18/0450, mwN).

17 Im Rahmen der vom BVwG angestrengten Interessenabwägung berücksichtigte es die Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers von etwa vier Jahren, die Kontakte zu einem im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Onkel des Revisionswerbers, wobei keine finanzielle oder sonstige Abhängigkeit von diesem bestehe, und näher genannte Integrationsbestrebungen durch ehrenamtliche Tätigkeiten, abgelegte Kurse und Prüfungen sowie die Unbescholtenheit des Revisionswerbers. Diese privaten Interessen stellte das BVwG den öffentlichen Interessen gegenüber und kam zu dem Ergebnis, dass das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremden- und Aufenthaltswesens gegenüber den - durch den unsicheren Aufenthaltsstatus des Revisionswerbers - relativierten persönlichen Interessen des Revisionswerbers überwöge. Dass diese Interessenabwägung unvertretbar wäre, vermag die Revision vor dem Hintergrund der zuvor genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht aufzuzeigen.

18 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 18. Mai 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180136.L00

Im RIS seit

23.06.2020

Zuletzt aktualisiert am

23.06.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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