RS Vfgh 2020/2/27 A8/2019

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Veröffentlicht am 27.02.2020
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17 VEREINBARUNGEN GEMÄSS ART. 15a B-VG

Norm

B-VG Art 15a
B-VG Art137 / Klagen
Grundversorgungsvereinbarung Art2, Art10
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Stattgabe einer Klage des Landes Wien gegen den Bund auf Ersatz von anteiligen Kosten für vom Land erbrachte Grundversorgungsleistungen nach der Grundversorgungsvereinbarung; Hilfs- und Schutzbedürftigkeit von Fremden ohne Aufenthaltsrecht unabhängig von deren Mitwirkung an der Ausreise gegeben

Rechtssatz

Der "Generalerlass" des BMI ist als Weisung ausschließlich an die (als Bundesbehörden iSd Art102 Abs1 B-VG zu qualifizierenden) Fremdenpolizeibehörden zu verstehen. Als Weisung an die Länder im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung - nur dann könnte sie zulässig sein - sind der Erlass bzw das dazu ergangene Schreiben schon deshalb nicht zu betrachten, weil sie nicht entsprechend Art103 Abs1 und 3 B-VG an die Landeshauptleute gerichtet sind.

Nach dem Wortlaut unterscheidet Art2 Abs1 Z2 und Z4 des Grundversorgungsvereinbarung (GVV) zur Umschreibung jener Fremder, denen Grundversorgung zu gewähren ist und die aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht abschiebbar sind, nicht danach, ob sie deswegen nicht abschiebbar sind, weil sie nicht am Ausreiseverfahren mitwirken. Weder der vom Bund apostrophierte Schutzzweck der Vereinbarung noch eine systematische oder historische Interpretation erlauben es, die betreffende Gruppe von Fremden von der Grundversorgung auszuschließen.

Die Erläuterungen zur Regierungsvorlage der GVV (412 dB 22. GP) halten zu Art2 Abs1 Z2 leg cit fest, dass hier an Fremde gedacht ist, die entweder einen Asylausschlussgrund gesetzt haben und denen deshalb auch trotz Refoulementschutz keine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß §15 AsylG erteilt wird oder Fremde, die nicht abgeschoben werden können, weil etwa nicht bekannt ist, aus welchem Herkunftsstaat sie stammen. Zu Art2 Abs1 Z4 GVV halten die Erläuterungen fest, dass Fremde gemeint sind, die einen faktischen Abschiebschutz genießen, weil ihre Staatsangehörigkeit nicht geklärt ist.

In beiden Fällen handelt es sich typischerweise um Personengruppen, die deswegen nicht abschiebbar sind, weil sie am Ausreiseverfahren nicht mitwirken. Historisch betrachtet sind sie daher von der Grundversorgung jedenfalls erfasst; dem entsprach auch die Vollzugspraxis des Bundes bis zum Jahr 2011.

Auch die vom Bund für seine Argumentation bemühte Judikatur des VwGH ist nicht heranziehbar, weil sie einen anderen Fall betrifft: In allen vom Bund genannten Fällen ging es um die Berechtigung eines Abschiebungsaufschubes gemäß §56 FremdenG 1997, welches als zum Zeitpunkt des Abschlusses geltendes Gesetz (idF BGBl I 134/2002) der Interpretation der GVV zugrunde zu legen ist. Bei diesem Tatbestand geht es jedoch darum, ob eine tatsächlich durchführbare Abschiebung aufzuschieben ist, und nicht darum - wie in jenen Fällen, für die das Land Wien die Grundversorgungskosten geltend macht -, ob eine Abschiebung tatsächlich durchführbar ist.

Das vom Bund zum Vergleich herangezogene Instrument der "Duldung" gemäß §46a FPG 2005 ist schon deswegen interpretativ nicht maßgeblich, weil es erst deutlich nach Abschluss der GVV gesetzlich vorgesehen wurde. Dort, wo die Materialien untechnisch von Duldung sprechen, ist daher nicht diese erst später eingeführte Rechtsvorschrift gemeint, sondern bloß der sachverhaltsgemäße Umstand, dass der Aufenthalt der betreffenden Personen geduldet werden muss, weil sie eben rechtlich oder faktisch nicht abschiebbar sind. Im Übrigen ist §46a FPG 2005 mit §56 FremdenG 1997 auch deswegen nicht vergleichbar, weil die Voraussetzungen und die Zielrichtung völlig andere sind, ganz abgesehen davon, dass es sich bei letzterem um eine sogenannte "Rechtswohltat" handelt, die durch ein Fehlen der Mitwirkung gleichsam verwirkt wird.

Vor diesem Hintergrund widerspricht die Vorgangsweise des Bundes, mit der dieser seine Vollzugspraxis nachträglich und einseitig geändert hat, dem Zweck der Vereinbarung, wie er insgesamt aus den Materialien und den Tatbeständen in Art2 Abs1 GVV erhellt. Im Ergebnis erweist sich daher die Rechtsansicht des Bundes, wonach bei den sogenannten "Nichtmitwirkungsfällen" keiner der Tatbestände des Art2 Abs1 GVV verwirklicht sei, als unzutreffend.

Zur Verjährung ist auf die stRsp des VfGH hinzuweisen, wonach die Institution der Verjährung im öffentlichen Recht nur dort besteht, wo das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Klagen, Grundversorgung, Vereinbarungen nach Art 15a B-VG, Auslegung, Finanzausgleich, Kostentragung, Aufwandersatz

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:A8.2019

Zuletzt aktualisiert am

25.08.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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