TE OGH 2019/5/28 2Ob226/18a

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Veröffentlicht am 28.05.2019
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S***** H*****, vertreten durch Dr. Irmgard Mairinger, Rechtsanwältin in Salzburg, gegen die beklagte Partei mj J***** D*****, geboren am ***** 2002, *****, vertreten durch ihren Vater K***** D*****, ebendort, dieser vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen zuletzt 15.443,16 EUR sA und Feststellung (Streitwert 1.500 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 23. August 2018, GZ 6 R 85/18i-34, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 16. Mai 2018, GZ 8 Cg 65/17b-29, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 501,91 EUR (darin enthalten 83,65 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 26. 8. 2016 ereignete sich im Gemeindegebiet von Mattsee auf dem Geh- und Radweg neben der Landesstraße L 101 ein Verkehrsunfall, bei welchem es im Begegnungsverkehr zu einer Kollision zwischen den Streitteilen als Radfahrerinnen kam. Dabei wurde die Klägerin verletzt.

Die Klägerin fuhr mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 25 km/h im Abstand von 2 bis 3 m hinter ihrem Ehemann. Beide hielten eine äußerst rechts gelegene Fahrlinie ein. In Fahrtrichtung der Klägerin schloss an den rechten Rand des 2,2 m breiten Radwegs heranwachsendes Gebüsch an. Die entgegenkommende Beklagte folgte ihrem vorausfahrendem Vater mit etwa 20 km/h. In Fahrtrichtung der Beklagten befand sich rechts des Radwegs ein ca 2,8 m breiter Wiesenstreifen, der im Bereich der Unfallstelle durch eine asphaltierte Verbindung zur Landesstraße unterbrochen war. Während ihr Vater den äußerst rechten Bereich des Radwegs benutzte, fuhr die Beklagte in ihrer Fahrtrichtung gesehen leicht nach links versetzt. Der Breitenplatzbedarf der Radfahrer betrug jeweils ca 0,8 m.

Die Klägerin bemerkte aus einer Entfernung von 30 bis 40 m die beiden entgegenkommenden Radfahrer, nahm diese aber nicht als Gefahr wahr. Der Vater der Beklagten passierte gefahrlos die Klägerin und ihren Ehemann. Der seitliche Abstand zur Klägerin betrug dabei 0,4 bis 0,5 m. Die Beklagte fuhr jedoch – beginnend 5 m vor Passieren des Ehemanns der Klägerin und 1,3 bis 1,6 s vor der Kollision – immer weiter nach links in die Mitte des Radwegs. Der Ehemann der Klägerin konnte eine Berührung der Fahrräder durch ein Auslenken nach rechts unter Abfahren vom Radweg verhindern. Auch die Klägerin reagierte rechtzeitig, bremste noch und lenkte ihr Fahrrad nach rechts, konnte aber die Kollision nicht mehr verhindern und kam durch das Streifen und Verhaken der Lenkstangen zu Sturz. Bei sorgfältiger und aufmerksamer Beobachtung wäre für die Beklagte der Gegenverkehr erkennbar gewesen. Ein „ausreichender“ Tiefenabstand der Klägerin hätte 10 bis 12,5 m betragen. Wenn die Klägerin in einem Tiefenabstand von 10 bis 14 m hinter ihrem Ehemann gefahren wäre, hätte dies ausgereicht, um vor der Begegnung mit der die Fahrlinie verlagernden Beklagten entsprechend nach rechts unfallvermeidend auszuweichen.

Die Klägerin erlitt durch den Unfall einen Speichenbruch rechts mit Beteiligung der Gelenksfläche sowie Prellungen und Hautabschürfungen. Ihr verblieb eine Bewegungseinschränkung des rechten Handgelenks, Spätfolgen können nicht ausgeschlossen werden.

Die Klägerin begehrte die Zahlung von 15.443,16 EUR sA an Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle künftigen Schäden aus dem Unfall. Das Alleinverschulden am Zustandekommen des Unfalls treffe die Beklagte, die, obwohl sie auf ihre Radwegseite ausweichen hätte können und Sichtkontakt bestanden habe, geradewegs auf die Klägerin zugefahren sei.

Die Beklagte wandte das überwiegende Verschulden der Klägerin am Zustandekommen des Unfalls ein. Bei ausreichendem Tiefenabstand zu ihrem vor ihr fahrenden Ehemann hätte die Klägerin die Kollision durch Abbremsen und Rechtsauslenken vermeiden können. Der schmale Radweg hätte ein vorsichtiges und defensives Fahren erfordert, weshalb die Klägerin bei Annäherung an die Beklagte ihre Fahrgeschwindigkeit verringern und die Begegnung sorgfältig beobachten hätte müssen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im Umfang von 11.420,80 EUR sA und dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt. Das darüber hinausgehende Zahlungsbegehren wies es ab. Die Beklagte treffe aufgrund des Überschreitens der Radwegmitte nach links in die Fahrlinie der Klägerin das Alleinverschulden am Unfall. Die Klägerin habe, trotz des zu geringen Tiefenabstands zu ihrem Gatten, kein Mitverschulden zu verantworten, weil der Schutzzweck des § 18 Abs 1 StVO die Beklagte, die trotz Erkennbarkeit des Gegenverkehrs auf die linke Radweghälfte gefahren sei, nicht umfasse.

Im Umfang eines Zuspruchs von 4.306,93 EUR und der Feststellung der Haftung zu einem Drittel bekämpfte die Beklagte dieses Urteil mit Berufung, in der sie ein Mitverschulden der Klägerin im Ausmaß von einem Drittel geltend machte.

Das Berufungsgericht billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts und gab der Berufung nicht Folge. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands insgesamt 5.000 EUR, nicht jedoch 30.000 EUR übersteige. Es ließ die ordentliche Revision mit der Begründung zu, dass es von der vergleichbaren Entscheidung 5 Ob 76/58 abgegangen sei.

In ihrer Revision strebt die Beklagte weiterhin eine Verschuldensteilung von 1:2 zu ihren Lasten an; hilfsweise stellt sie im angefochtenen Umfang einen Aufhebungsantrag.

Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dazu fehlt, ob § 18 Abs 1 StVO Unfälle wie den vorliegenden verhindern soll. Sie ist aber nicht berechtigt.

Die Beklagte macht geltend, die Klägerin habe ihre Beobachtungspflicht verletzt und ihre Geschwindigkeit nicht herabgesetzt, obwohl dies aufgrund des Gegenverkehrs erforderlich gewesen wäre. Für die Klägerin habe eine unklare und bedenkliche Verkehrssituation vorgelegen, eine gefahrlose Begegnung sei aufgrund des beiden Beteiligten zuzugestehenden Sicherheitsabstands zum jeweils rechten Fahrbahnrand nicht möglich gewesen. Das Berufungsgericht sei von der vergleichbaren Entscheidung 5 Ob 76/58 abgewichen. Dadurch, dass die Klägerin zu knapp hinter ihrem vorausfahrenden Ehemann gefahren sei, habe sie sich selbst die Möglichkeit genommen, rechtzeitig unfallvermeidende Maßnahmen zu setzen. Der gegenständliche Zusammenstoß im Begegnungsverkehr sei daher vom Schutzzweck des Gebots nach § 18 Abs 1 StVO erfasst.

Hiezu wurde erwogen:

1. Begegnungsverkehr, Durchfahrtsbreite und Seitenabstand:

1.1 Gemäß § 10 Abs 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeugs einem entgegenkommenden Fahrzeug rechtzeitig und ausreichend nach rechts auszuweichen. Nach Abs 2 der Bestimmung sind einander begegnende Fahrzeuge, wenn nicht oder nicht ausreichend ausgewichen werden kann, anzuhalten. Auch das Verhalten einander begegnender Radfahrer auf Radfahranlagen ist nach § 10 StVO zu beurteilen (2 Ob 100/16v).

Rechtzeitig ist das Ausweichen, wenn es so frühzeitig erfolgt, dass der entgegenkommende Verkehrsteilnehmer bei Einhaltung der „richtigen Straßenseite“ auf eine größere Strecke freie Bahn hat. Dabei muss so weit ausgewichen werden, dass der Begegnende seine Fahrt ohne Gefährdung und vermeidbare Behinderung fortzusetzen vermag; dies setzt voraus, dass der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen so groß ist, dass nicht schon eine geringfügige Abweichung von der Fahrlinie zum Zusammenstoß führt und dass darüber hinaus der Entgegenkommende unter der Annahme durchschnittlicher Fahrfähigkeit auch nicht unsicher gemacht wird (2 Ob 100/16v).

1.2 Bei Gegenverkehr besteht eine Anhaltepflicht oder eine Pflicht zur Geschwindigkeitsverminderung nur, wenn kein ausreichender Raum für eine gefahrlose Begegnung besteht (2 Ob 68/16p; vgl 2 Ob 100/16v; 2 Ob 41/93; RS0073541). Ob ausreichend Platz vorhanden ist, richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. In der Rechtsprechung wurde etwa bei Begegnung zweier PKW mit 15 bis 20 km/h ein insgesamt verbleibender freier Raum von 45 cm für das Ausweichen ohne Begründung einer Anhaltepflicht als ausreichend (2 Ob 12/70 ZVR 1971/4; RS0073492) erachtet, nicht hingegen eine Durchfahrtsbreite von 20 cm (2 Ob 68/16p).

Im vorliegenden Fall verblieb für die Beklagte vom 2,2 m breiten Radweg bei eigenem Platzbedarf von 0,8 m eine Radwegbreite von 1,3 m. Angesichts der örtlichen Gegebenheiten konnte von der Beklagten verlangt werden, unmittelbar am rechten Radwegrand zu fahren. Eine gefahrlose Begegnung mit der Klägerin innerhalb des Radwegs wäre somit möglich gewesen. Dementsprechend problemlos verlief zuvor auch die Begegnung der Klägerin mit dem am rechten Radwegrand fahrenden Vater der Beklagten.

1.3 Es muss grundsätzlich nur mit einem den Verkehrsvorschriften entsprechenden Gegenverkehr gerechnet werden (RS0073698 [T1]). Von einem entgegenkommenden Fahrzeug ist, selbst wenn es zunächst aus irgendeinem Grund nicht die ihm zukommende Fahrbahnhälfte benützt, die Rückkehr auf seine rechte Fahrbahnhälfte zu erwarten, es wäre denn, dass sich aus besonderen Gründen das Gegenteil ergibt (2 Ob 45/88; RS0073503).

Auch wenn die Beklagte bei erstmaliger Wahrnehmung durch die Klägerin aus einer Entfernung von 30 bis 40 m nicht am äußerst rechten Rand des Radwegs fuhr, sondern gegenüber ihrem Vater „leicht nach links versetzt“, konnte die Klägerin mit einem vorschriftsgemäßen Ausweichen der Beklagten und einer gefahrlosen Begegnung innerhalb des Radwegs rechnen. Eine unklare Verkehrslage lag für die Klägerin somit nicht vor.

1.4 Eine Verpflichtung der Klägerin, angesichts der entgegenkommenden Radfahrer ihre Geschwindigkeit zu verringern, bestand daher nicht.

2. Zum Schutzzweck des § 18 Abs 1 StVO:

2.1 Gemäß § 18 Abs 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeugs stets einen solchen Abstand vom nächsten vor ihm fahrenden Fahrzeug einzuhalten, dass ihm jederzeit das rechtzeitige Anhalten möglich ist, auch wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abgebremst wird.

2.2 In der Regel wird ein Sicherheitsabstand, der etwa der Länge des Reaktionswegs entspricht, als ausreichend betrachtet, sofern nicht Umstände hinzutreten, die einen größeren Sicherheitsabstand geboten erscheinen lassen (RS0074237). Diesen Abstand hat die Klägerin zu ihrem vor ihr fahrenden Ehemann nicht eingehalten. Ein näheres Eingehen auf mit dem im konkreten Fall einzuhaltenden Mindestabstand zusammenhängende Fragen kann aber aus nachstehenden Gründen unterbleiben.

2.3 Wie sich aus der Überschrift dieser Bestimmung ergibt, regelt § 18 StVO das Hintereinanderfahren von Fahrzeugen. § 18 Abs 1 StVO soll daher Schadensereignisse verhindern, die sich aus dem Hintereinanderfahren von Fahrzeugen ergeben können. Dieser Schutzzweck erstreckt sich nicht nur auf das vordere Fahrzeug und dessen Insassen (RS0027817), sondern auch auf das diesem folgende Fahrzeug (vgl 2 Ob 175/03d) und den Nachfolgeverkehr (2 Ob 42/89). Ebenso dient die Bestimmung im Zusammenhang mit Auffahrunfällen dem Schutz der vor dem Vorderfahrzeug befindlichen Fahrzeuge (vgl 2 Ob 42/89). Sie soll überdies nicht nur eine Kollision mit dem Vorderfahrzeug vermeiden, sondern auch Schäden, die ohne eine solche, etwa durch ein bremsbedingtes Schleudern und Abkommen von der Fahrbahn des nachfolgenden Fahrzeugs entstehen (2 Ob 175/03d). Daher ist zwar auch der Gegenverkehr nicht generell vom Schutzzweck des § 18 Abs 1 StVO ausgenommen. Erforderlich ist aber, dass sich eine Gefahr verwirklicht hat, die aus dem Hintereinanderfahren von Fahrzeugen entstanden ist.

2.4 Im vorliegenden Fall hätte zwar die Klägerin bei einem Tiefenabstand zu ihrem vor ihr fahrenden Ehemann von zumindest 10 m die von der Beklagten ausgehende Gefahr früher erkennen und deshalb noch unfallvermeidend reagieren können, weil sie dann auch von der entgegenkommenden Beklagten weiter entfernt gewesen wäre. Eine aus dem Hintereinanderfahren der Klägerin und ihres Ehemanns entstandene Gefahr hat sich aber nicht verwirklicht. Nach den dargelegten Grundsätzen liegt es außerhalb des Schutzzwecks des § 18 Abs 1 StVO, eine unmittelbare Kollision mit einem entgegenkommenden, seine Fahrbahnhälfte plötzlich verlassenden und in die Gegenfahrbahn eindringenden Fahrzeug zu verhindern oder auch nur dessen Folgen geringer zu halten (vgl zu § 20 Abs 1 StVO: 2 Ob 148/08s).

2.5 Mangels „Mitverschuldenszusammenhangs“ (RS0132048) bleibt daher ein Verstoß der Klägerin gegen § 18 Abs 1 StVO bei der Verschuldensbeurteilung jedenfalls außer Betracht.

3. Die Entscheidung 5 Ob 76/58 ist mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Dem dort ausgesprochenen Mitverschulden des auf der „richtigen“ Fahrbahnseite fahrenden Radfahrers lag zugrunde, dass dieser entgegen der (damals anzuwendenden) Bestimmung des § 73 StPolO an einer Rennrad-Übungsfahrt teilgenommen und beim Windschattenfahren den Gegenverkehr nicht entsprechend beobachtet hatte (§ 7 StPolO).

Nach nunmehr geltender Rechtslage dürfte hingegen gemäß § 68 Abs 1 StVO die Radfahranlage für Trainingsfahrten mit Rennfahrrädern benützt werden, was hier ohnedies nicht geschehen ist. Im vorliegenden Fall liegt überdies auch kein der Klägerin unterlaufener Beobachtungsfehler vor.

4. Zutreffend hat somit das Berufungsgericht ein Mitverschulden der Klägerin verneint. Der unberechtigten Revision ist ein Erfolg zu versagen.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

Textnummer

E125453

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2019:0020OB00226.18A.0528.000

Im RIS seit

10.07.2019

Zuletzt aktualisiert am

17.02.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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