TE OGH 2018/12/19 10Ob105/18s

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Veröffentlicht am 19.12.2018
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr.

 Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache des ***** 2003 geborenen D*****, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Wiener Kinder- und Jugendhilfe – Rechtsvertretung, Bezirke 13, 14, 15, 1150 Wien, Gasgasse 8-10/1/3. Stock), wegen Einstellung von Unterhaltsvorschüssen, über den Revisionsrekurs des Kindes gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 1. August 2018, GZ 43 R 309/18m-115, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 17. Mai 2018, GZ 5 Pu 111/11m-105, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Der Vater (nach der Aktenlage serbischer Staatsangehöriger: ON 11) ist aufgrund des Beschlusses vom 20. 7. 2017 auf Basis eines erzielbaren monatlichen Nettoeinkommens von 1.200 EUR zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 230 EUR verpflichtet. Berücksichtigt wurde eine Sorgepflicht für eine damals 7-jährige Tochter.

Mit Beschluss vom 4. 9. 2017 (ON 94) erhöhte das Erstgericht die dem Kind mit Beschluss vom 20. 5. 2015 für die Zeit vom 1. 6. 2015 bis 31. 5. 2020 gewährten monatlichen Unterhaltsvorschüsse von 144 EUR ab 1. 6. 2017 auf 230 EUR.

Nach Mitteilung über den Krankengeldbezug des Vaters seit 8. 2. 2018 ordnete das Erstgericht mit rechtskräftigem Beschluss vom 16. 4. 2018 (ON 97) die Innehaltung der einen monatlichen Betrag von 30 EUR übersteigenden Vorschüsse mit Ablauf des Monats April 2018 an.

Das Erstgericht „setzte“ in der Folge die Vorschüsse mit Ablauf des Monats Februar 2018 „auf Null herab“, hob die angeordnete Innehaltung auf und sprach aus, dass ein Einbehalt der zu Unrecht bezogenen Vorschüsse nicht zu erfolgen habe. Der Vater sei seit 5. 2. 2018 arbeitsunfähig, beziehe seit 8. 2. 2018 ein tägliches Krankengeld von 22,76 EUR, somit durchschnittlich 692 EUR monatlich und habe keinen Anspruch auf einen Familienzuschlag. Das Krankengeld liege unter dem Unterhaltsexistenzminimum von 795 EUR, weshalb der Unterhaltsvorschuss mangels Leistungsfähigkeit des Vaters auf Null herabzusetzen sei.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindes nicht, dem Rekurs des Bundes jedoch Folge und änderte den angefochtenen Beschluss dahingehend ab, dass es die gewährten Vorschüsse mit Ablauf des Monats Februar 2018 nach § 20 Abs 1 Z 4 lit b iVm § 7 Abs 1 UVG einstellte. Die vom Kind begehrte Anspannung des Unterhaltspflichtigen auf den Bezug von Mindestsicherung scheide aus. Der Vater habe als serbischer Staatsangehöriger keinen Anspruch auf Mindestsicherung. Aus dem Akt ergebe sich kein Hinweis auf eine – nicht konkret behauptete – Lebensgemeinschaft. Der Vater sei zudem für ein weiteres Kind sorgepflichtig.

Über Antrag des Kindes ließ das Rekursgericht nachträglich den Revisionsrekurs zu, weil es eine Klarstellung zu der im Revisionsrekurs behaupteten Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes für notwendig erachtete.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Kindes ist im Sinn dieses Zulassungsausspruchs zulässig und mit seinem Aufhebungsantrag berechtigt.

1. Nach § 20 Abs 1 Z 4 lit b UVG sind Unterhaltsvorschüsse auf Antrag oder von Amts wegen einzustellen, wenn nach § 7 Abs 1 UVG die Vorschüsse zur Gänze zu versagen sind. Einstellungsgrund ist damit der materielle Wegfall der Unterhaltspflicht wie – hier relevant – durch Wegfall der Voraussetzungen für eine Anspannung des Unterhaltsschuldners auf ein fiktives Erwerbseinkommen (1 Ob 7/04t; 10 Ob 1/17w).

2. Seit der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ab 5. 2. 2018 scheidet eine Anspannung auf das der festgesetzten Unterhaltsverpflichtung zugrundegelegte Erwerbseinkommen von 1.200 EUR monatlich aus, was das Kind im Rechtsmittelverfahren auch nicht bezweifelte. Es argumentiert – wie in seinem Rekurs – mit einer möglichen Anspannung auf den Bezug der bedarfsorientierten Mindestsicherung nach dem Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG), LGBl 2010/38, idF LGBl 2018/2.

3. Sozialleistungen wie die bedarfsorientierte Mindestsicherung („der Aufstockungsbetrag“) sind grundsätzlich in die Unterhaltsbemessungsgrundlage einzubeziehen (RIS-Justiz RS0080395 [T27]). Eine Anspannung auf diese Sozialleistung ist zulässig (vgl 10 Ob 1/17w).

4. Das Rekursgericht verneinte eine Anspannung auf einen Bezug nach dem MSG ausschließlich mit dem Hinweis auf die serbische Staatsangehörigkeit des Vaters. Als einzige Informationsquelle zu dieser Rechtsansicht nannte es den Internet-Link der zuständigen Magistratsabteilung.

5. Nach § 5 Abs 1 MSG stehen Leistungen nach diesem Gesetz zwar grundsätzlich nur österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu. Wie das Kind in seinem Revisionsrekurs jedoch zutreffend aufzeigt, stellt § 5 Abs 2 Z 3 MSG in der geltenden Fassung Personen mit einem Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ oder Personen, deren vor Inkrafttreten des NAG erteilte Aufenthalts- und Niederlassungsberechtigung als solche gemäß § 81 Abs 2 NAG iVm mit der NAG-DV weiter gilt, sowie Personen mit einem vor dem 1. 1. 2014 ausgestellten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-Familienangehöriger“ oder „Dauerauf-enthalt-EG“, welche gemäß § 81 Abs 29 NAG als Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ weiter gelten, Inländern gleich.

6. Nach § 45 Abs 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl I 2005/100, idF BGBl I 2017/145, kann Drittstaatsangehörigen, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen in Österreich niedergelassen waren, ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ erteilt werden. § 46 NAG („Bestimmungen über die Familienzusammenführung“) regelt die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Familienangehörige von Drittstaatsangehörigen. § 81 NAG („Übergangsbestimmungen“) bestimmt in seinem Abs 2 die Weitergeltung der vor dem Inkrafttreten des NAG erteilten Aufenthalts- und Niederlassungsberechtigungen. Nach § 81 Abs 29 NAG gelten vor dem 1. 1. 2014 ausgestellte Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-Familienangehörige“ und „Daueraufenthalt-EG“ innerhalb ihrer Gültigkeitsdauer als Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ weiter.

7. Nach der Aktenlage ist der unterhaltspflichtige Vater am 6. 10. 1975 in Wien geboren (ZMR vom 20. 10. 2011 ON 40), lebt seit (zumindest) 2005 in Wien (ON 1) und weist Versicherungszeiten in Österreich auf (Versicherungsdatenauszug ON 15).

8. Die Behauptung des Kindes, der Vater verfüge über einen Daueraufenthaltstitel, der ihn nach § 5 Abs 2 Z 3 MSG berechtigt, Mindestsicherung zu beziehen, ist einer Überprüfung in diesem Verfahren, in dem das Erstgericht von Amts wegen nach Informationen über den Krankengeldbezug (ON 95) ohne weitere Anhörung der Parteien den Unterhaltsvorschuss einstellte, der Untersuchungsgrundsatz des § 16 AußStrG voll zum Tragen kommt (10 Ob 1/17w; RIS-Justiz RS0088914 [T9]) und das Gericht die erforderlichen Beweise von Amts wegen aufzunehmen hat (Neumayr in Schwimann, ABGB4 § 19 UVG Rz 7, § 20 UVG Rz 9), zugänglich. Verfügt der Vater nach den zu treffenden ergänzenden (Negativ-)Feststellungen über keinen der nach dem MSG in Betracht kommenden Aufenthaltstitel, scheidet eine Anspannung auf den Mindeststandard in Höhe von 863,04 EUR monatlich (§ 1 Abs 1 der Verordnung der Wiener Landesregierung zum Wiener Mindestsicherungsgesetz („WMG-VO“), LBGl 2018/4, aus. Maßgeblich für die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners ist in diesem Fall – für die Dauer des Bezugs – das ab 8. 2. 2018 ausgezahlte Krankengeld von durchschnittlich 692 EUR monatlich, das unter dem gesetzlichen Unterhaltsexistenzminimum (§ 291b EO) liegt.

9. Das Kind deutet in seinem Rechtsmittel (als hypothetische Möglichkeit) an, dass der Vater in einer Lebens- oder Haushaltsgemeinschaft lebt. Damit zielt es auf eine Unterschreitung des gesetzlichen Unterhaltsexistenzminimums gemäß § 292b Z 1 EO.

10. Eine derartige Reduktion darf den Unterhaltsschuldner nicht in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährden (RIS-Justiz RS0047455). Sie ist nach der Rechtsprechung jedoch als Ausnahmefall zulässig, wenn der Unterhaltsschuldner in einer Haushaltsgemeinschaft lebt und sich dadurch einen Teil der ihn treffenden Lebenshaltungskosten erspart (9 Ob 72/15a mwN; 6 Ob 184/06m, RIS-Justiz RS0121124). Die Unterschreitung des Unterhaltsexistenzminimums ist nicht genau zu berechnen, es ist vielmehr im Einzelfall eine noch am ehesten tragbare Regelung zu treffen (RIS-Justiz RS0013458 [T4]). Allgemeine Formeln oder Berechnungsmethoden über die Belastungsgrenzen gibt es nicht (RIS-Justiz RS0047455 [T15]).

11. Sollte kein Anspruch auf die bedarfsorientierte Mindestsicherung bestehen, wird das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren zu prüfen haben, ob nach diesen Kriterien eine Reduktion des gesetzlichen Unterhaltsexistenzminimums in Betracht kommt. Sollte sich jedoch durch (in einem angemessenen Zeitraum mögliche) Erhebungen nicht feststellen lassen, ob der Vater in einer Lebensgemeinschaft lebt, hat es bei der gesetzlichen Untergrenze für das Unterhaltsexistenzminimum zu bleiben.

Textnummer

E124107

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:0100OB00105.18S.1219.000

Im RIS seit

07.03.2019

Zuletzt aktualisiert am

07.03.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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